| # taz.de -- Nora Bossongs neuer Roman: Eine Fantasie des Friedens | |
| > Bossong erzählt in „Schutzzone“ von einer UN-Mitarbeiterin bei einer | |
| > Friedensmission in Burundi – ohne Larmoyanz und | |
| > Selbstbestätigungsideologie. | |
| Bild: Ein Schulkind in Burundi. Nora Bossongs neuer Roman dreht sich um eine UN… | |
| Schon in Kindertagen lernt Mira, dass Trennungen nicht nur traurig machen, | |
| sondern auch neue Chancen eröffnen können. Nach der Scheidung der Eltern | |
| lebt die Ich-Erzählerin eine Weile bei einer befreundeten Familie, so sehr | |
| waren Vater und Mutter mit ihrem Streit um „Habseligkeiten beschäftigt, die | |
| ihnen während der Ehe nicht das Geringste bedeutet hatten“. In der | |
| Übergangsfamilie lernt sie Milan kennen, einen acht Jahre älteren Jungen, | |
| der sich nicht wirklich für Mira interessiert, sich aber doch um die | |
| Pflegeschwester kümmert, und zwar aus Gründen, die für das junge Mädchen | |
| nicht wirklich nachvollziehbar sind: „Er war nicht verbindlich, aber er | |
| besaß eine Höflichkeit, die man leicht damit verwechseln konnte.“ | |
| Viele Jahre später arbeitet sie für die Vereinten Nationen, über die es im | |
| Roman heißt, sie „seien eine große Familie“, was die Erzählerin doch | |
| bezweifelt, zumindest entsprechen die kalten Gänge im Palais des Nations | |
| nicht ihrer Vorstellung von einem Zuhause, in dem gelebt und geliebt, sich | |
| gestritten und sich auch getrennt wird. Ausgerechnet im Schutzraum der | |
| Menschenrechte aber herrscht eine „großzügige Gleichgültigkeit“, was | |
| allerdings nicht heißt, dass den Mitarbeitern die Krisen rund um den Globus | |
| einerlei sind, nur haben die vielen Konflikte auch zur Desillusionierung | |
| beigetragen. Wer auch immer hier arbeitet, wird mit hohen Ansprüchen | |
| begonnen haben und gewiss auch mal gescheitert sein. | |
| Miras größte Niederlage hat in Burundi stattgefunden. Ein Bürgerkrieg | |
| droht, mit vielen Toten, möglicherweise auch wieder schlimmen Massakern. | |
| Während in der fernen Schweiz am grünen Tisch gesittet mit Putschisten und | |
| Diktatoren verhandelt wird, überträgt sich die angespannte Spannung auch | |
| auf die UN-Gesandten vor Ort, was wiederum nicht heißt, das Leben biete | |
| keine schönen, man könnte auch sagen: aberwitzigen Seiten. Denn auch, „wenn | |
| wir tagsüber miteinander zerstritten waren, feierten wir nach Dienstschluss | |
| Partys an türkisblauen Pools zusammen, vereint in dem Wunsch, die Welt zu | |
| einer besseren zu machen.“ Wie schwer oder unmöglich dies zuweilen ist, | |
| wird Mira erst später so richtig begreifen, als sie mit Aimé einen Mann | |
| trifft, der sich erst als verführerischer Rebell präsentiert und später für | |
| Massenmorde verantwortlich gemacht wird. | |
| Natürlich weiß die Erzählerin, dass die Vereinten Nationen viele Verbrechen | |
| unvorstellbaren Ausmaßes wie etwa in Ruanda nicht verhindert haben. Nun | |
| aber ist sie selbst in Afrika, lernt Kindersoldaten kennen, wird mit | |
| schlimmen Verbrechen konfrontiert, was sie nicht davon abhält, sich auf den | |
| geheimnisvollen und so luzide formulierenden Verführer Aimé einzulassen, | |
| der ihr keineswegs verheimlicht, was er von den Friedensmissionen hält: | |
| „Der Frieden, Mira, ist eine so schöne Geste, nur leider nicht mehr als | |
| das. Eine Fantasie, sagte er, meine Hand lag in seiner, und er zog mich | |
| sanft hinauf. Es ist leicht, in dieser Fantasie zu leben, oder nein, es ist | |
| natürlich nicht leicht, Sie leiden, Sie sind traurig, Sie haben Angst, Sie | |
| hassen, vielleicht hassen Sie auch, nicht wahr, Mira, tun Sie das nicht?“ | |
| ## Ohne Klischees vom bösen schwarzen Mann | |
| Wie Nora Bossong diesen Zyniker beschreibt, der so sanft wie gewalttätig | |
| sein kann, das ist unheimlich und hebt sie auch deshalb von anderen | |
| Autorinnen und Autoren ab, weil sie an keiner Stelle die Klischees vom | |
| bösen schwarzen Mann reproduziert. Vielmehr spiegelt sie die Erlebnisse in | |
| Burundi mit einer ebenfalls verbotenen Liebesgeschichte, die sich einige | |
| Jahre später zutragen wird. Denn in Genf unterhält sie mit Quasibruder | |
| Milan – mittlerweile verheirateter Familienvater – eine mal faszinierende, | |
| mal quälende Affäre. Beide Männer vereint, dass sie schwer zu durchschauen | |
| sind, dass sie Regeln vorgeben, die sie nicht einhalten, weil es gute oder | |
| schlechte Gründe dafür gibt. | |
| Mag es auch Schutzzonen geben, die mal mit dem Herzen und mal Waffengewalt | |
| errichtet werden, im Ernstfall, der auch ein Glücksfall sein kann, wird der | |
| Stacheldraht durchschnitten, verschwinden die Grenzen der bislang gekannten | |
| Ordnung. Bossong verknüpft die moralischen Ambivalenzen auf der politischen | |
| Weltbühne mit den Doppelbödigkeiten im Alltag – dieses Verfahren wirkt | |
| nicht zuletzt durch die ständigen Zeitsprünge und Ortswechsel überzeugend. | |
| Bossong zeigt mit dieser Prosa außerdem, wie gut sie sich aus der Fülle | |
| literarischer Formen und Tonlagen zu bedienen weiß, um daraus ein stimmiges | |
| Gesamtwerk zu schaffen. Rhythmische Passagen wechseln sich mit elegischen | |
| Textstellen ab, sie kann analytisch und auch mal rätselhaft formulieren. | |
| Viele Tiere treten in „Schutzzone“ auf, Tauben und Pfauen, Nilpferde, und | |
| sie spielen durchaus überraschende Rollen auf der metaphorischen | |
| Erzählebene, woran nicht zuletzt Aimé erinnert, der sich darüber lustig | |
| macht, dass die Weltgemeinschaft ausgerechnet die so leicht zu | |
| zerfleddernde Taube zum Friedenssymbol erkoren hat. | |
| Bossongs melancholischer Realismus passt sehr gut zu Sujet und Story. Ihre | |
| durchaus langen und oft verschachtelten Sätze haben eine angenehme Schwere, | |
| können aber auch leicht und ironisch sein. In dieser Hypotaxe ist das | |
| wachsende Unbehagen der Protagonistin in der politischen und privaten | |
| Unordnung gut aufgehoben, mit nahezu jedem Nebensatz kommen neue Zweifel | |
| hinzu, aber auch die Hoffnung wird genährt, es könne alles ganz anders | |
| kommen. | |
| „Schutzzone“ wird wohl mit Robert Menasses Bestseller „Die Hauptstadt“ | |
| verglichen werden, weil nach dem erfolgreichen Roman über die Europäische | |
| Union nun im selben Verlag ein belletristisches Werk über die Vereinten | |
| Nationen erscheint. Kalkül werden manche das vielleicht nennen. Doch der | |
| Vergleich der Werke ist wenig ergiebig, selbst wenn beide von politischen | |
| Institutionen handeln, die unter ungeheurem Rechtfertigungsdruck stehen und | |
| als schwer durchschaubare und vom Alltag der Menschen weit entfernte | |
| Bürokratiemonster wahrgenommen werden. Doch zu verschieden sind Tonfall und | |
| literarisches Programm der beiden Romane. | |
| Während Buchpreisgewinner Menasse seine politische Groteske mit | |
| historischen Fiktionen mischt, um neue moralische Pathosformeln in den | |
| Diskursraum zu stellen, schickt Nora Bossong ihr Publikum in einen offenen | |
| Sprachraum, in eine brüchige Gedankenwelt, in der es nur noch Reste der | |
| tradierten Imperative gibt, weil die Verhältnisse zu kompliziert und zu | |
| unübersichtlich geworden sind. Bossong ist insofern die modernere | |
| Schriftstellerin, weil sie keine Dogmen aufstellt, weil sie uns vielmehr | |
| sprachlich und inhaltlich auf ein Feld führt, auf dem es keine Schutzzonen | |
| mehr zu geben scheint. | |
| Dieses Buch ist aktuell im guten, weil produktiven Sinne; hier wird kein | |
| sogenanntes Trendthema durchgekaut, hier werden keine Klagelieder über die | |
| Ungerechtigkeiten in der Welt angestimmt, dieser Roman enthält keine naive | |
| Selbstbestätigungsideologie, wie sie leider immer häufiger in der | |
| zeitgenössischen Literatur zu finden ist. Bossongs Text ist eher eine | |
| Warnung an Politpropagandisten, Begriffe wie „Verantwortung“ oder | |
| „Wahrheit“ allzu leichtfertig zu verwenden. „Schutzzone“ steht zu Recht… | |
| der Longlist des Deutschen Buchpreises, und dem Publikum wäre zu wünschen, | |
| dass dieser Roman gewinnt. | |
| 12 Sep 2019 | |
| ## AUTOREN | |
| Carsten Otte | |
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