# taz.de -- „Reichskanzlerplatz“ von Nora Bossong: Der Wille zum Aufstieg | |
> Bossong erzählt in „Reichskanzlerplatz“ von Magda Goebbels und einem | |
> schwulen NS-Diplomaten. Der Roman ist für den Deutschen Buchpreises | |
> nominiert. | |
Bild: Magda (h. l.) und Reichsminister Josef Goebbels (M.) mit Stiefsohn Hara… | |
Der Lebensweg der 1901 geborenen Johanna Maria Magdalena Behrend ist auf | |
bizarre Weise exemplarisch für die Schrecken in der ersten Hälfte des 20. | |
Jahrhunderts. Als Tochter eines unverheirateten Dienstmädchens kam Magda in | |
ärmlichen Verhältnissen zur Welt, wurde aber 1908 von dem jüdischen | |
Kaufmann Richard Friedländer adoptiert und lebte fortan in bürgerlichen | |
Verhältnissen. | |
Im Jahr 1920 nahm sie eine kurze Zeit lang den Nachnamen des leiblichen | |
Vaters, Oskar Ritschel, an, um den verwitweten [1][Industriellen Günther | |
Quandt] heiraten zu können. Der doppelt so alte Quandt, den Magda auf einer | |
Zugfahrt kennengelernt hatte, weigerte sich nämlich, eine Frau mit dem | |
jüdisch klingenden Namen Friedländer in seine protestantische Familie | |
aufzunehmen. | |
Weder der Antisemitismus noch der Altersunterschied waren für Magda ein | |
Problem, sah sie doch die Chance, in die Oberschicht aufzusteigen. Wie | |
wichtig ihr das gesellschaftliche Prestige war, erkennt man wohl auch | |
daran, dass sie in ihrer Schulzeit noch in den jüdischen Bruder einer | |
Mitschülerin verliebt war. Angeblich erwog sie sogar, mit dem späteren | |
Zionisten und Sozialisten Viktor Chaim Arlosoroff nach Palästina | |
auszuwandern. | |
Doch sie blieb in Deutschland, was ihr kein Glück brachte: Die Ehe mit | |
Günther Quandt stand jedenfalls unter keinem guten Stern. Magda wollte auch | |
nach der Geburt ihres Sohnes Harald ein ausschweifendes Leben führen, | |
anders als der nüchterne, an wirtschaftlichen Fragen interessierte Ehemann. | |
## Magda betrog ihren ersten Ehemann | |
Magda betrog ihn dann auch bald, sodass 1928 eine Schlammschlacht folgte: | |
Quandt verlangte die Scheidung und warf Magda aus dem Haus, die den | |
Nochgatten allerdings mit kompromittierenden Briefen erpresste. Es wurden | |
monatliche Zahlungen und eine Abfindung vereinbart, mit der sie sich eine | |
Wohnung am Reichskanzlerplatz in Berlin-Westend (heute: | |
Theodor-Heuss-Platz) leisten konnte, gewissermaßen der Grundstein für ihren | |
weiteren Aufstieg. | |
Vielleicht wäre die Geschichte der Magda Quandt längst in Vergessenheit | |
geraten, wenn sie nicht alles darangesetzt hätte, ausgerechnet Joseph | |
Goebbels kennenzulernen und sich schon bald an der Seite des | |
NS-Propagandaministers als Vorzeigemutter des „Dritten Reiches“ feiern zu | |
lassen. | |
Die Biografie jener Frau, die am 1. Mai 1945 zunächst ihre sechs mit | |
Goebbels gezeugten Kinder und später sich selbst umbrachte, ist seitdem in | |
unzähligen Artikeln, Filmen und wissenschaftlichen Aufsätzen, aber auch in | |
fiktionalisierter Form aufgegriffen worden – was nicht zuletzt wegen der | |
Materialfülle auf verschiedene Weise möglich war: Selbst intime Details aus | |
dem Eheleben sind durch Tagebucheinträge und Zeitzeugenberichte | |
dokumentiert. | |
Marcel Beyer etwa veröffentlichte 1995 seinen Roman „Flughunde“, der nicht | |
nur vom nationalsozialistischen Tontechniker Hermann Karnau, sondern auch | |
von der Familie Goebbels aus der Sicht der ältesten Tochter Helga erzählt. | |
2013 erschien in zunächst englischer Sprache eine Romanbiografie von Meike | |
Ziervogel mit dem Titel „Magda“; für viele englischsprachige Zeitungen | |
gehörte das Buch, das auch in polnischer Übersetzung zum Bestseller wurde, | |
zu den damaligen „Books of the year“. | |
## Publizistisches Risiko | |
Angesichts dieser Vorgeschichte ist es ein publizistisches Risiko, die | |
weitgehend erforschte und auch dem breiteren Publikum halbwegs bekannte | |
Geschichte der späteren Giftmörderin noch einmal zu literarisieren. Nora | |
Bossong hat es mit „Reichskanzlerplatz“ gewagt, und obwohl die Autorin | |
keineswegs neue historische Erkenntnisse vorträgt oder einen „anderen“ | |
Blick auf Magda Goebbels präsentiert, ist ihr ein politisch relevantes und | |
ästhetisch überzeugendes Buch gelungen. | |
Das liegt vor allem an der klug gewählten Erzählperspektive: Ins Zentrum | |
stellt Bossong nämlich nicht die Frau, die stets im Mittelpunkt stehen | |
wollte, sondern den fiktiven Hans Kesselbach, der in Bossongs Roman mit | |
Magda mal eng und mal auf Distanz verbunden ist. Tatsächlich hat es einen | |
Studenten namens Fritz Gerber gegeben, der mit Magda heimlich liiert war. | |
Doch über ihn ist wenig bekannt, und diese Leerstelle nutzt Bossong, um | |
ihre historische Fantasie zu entwickeln. | |
In dem Roman verliebt sich der junge Hans in seinen Schulfreund Hellmut | |
Quandt und lernt schon bald dessen Familie kennen. Hellmuts leibliche | |
Mutter ist an der Spanischen Grippe gestorben, und im Hause Quandt regiert | |
nun die schöne Magda. Die Geschichte dieser widersprüchlichen Frau wird aus | |
einer Halbdistanz erzählt, die viel Raum für literarische Erfindung lässt: | |
Hellmut geht nach anfänglichem Flirten nicht weiter auf die Avancen des | |
Mitschülers ein und wird schon kurz nach der Schulzeit tödlich | |
verunglücken. | |
Daraufhin beginnen Hans und Magda eine Affäre, in der die zwei einsamen | |
Herzen weniger Liebe als vielmehr Trost suchen. Nach Militärzeit und | |
Studium tritt Hans in den diplomatischen Dienst ein. Die Beziehung zu Magda | |
Goebbels bietet ihm bei lästigen Nachfragen die Möglichkeit, seine | |
Homosexualität zu verbergen. Doch dieses so verlogene wie auch praktische | |
Lebensmodell muss er aufgeben, als die politischen Verhältnisse im | |
Deutschen Reich kippen und Magda im Dezember 1933 Joseph Goebbels heiratet. | |
## Bossong erzählt kühl anstatt zu moralisieren | |
Nora Bossong streut die historischen Informationen dezent in ihren Roman | |
ein, der als Spiegelkonstruktion angelegt ist: Hans verachtet zwar Magdas | |
Hingabe zum Nationalsozialismus, aber auch seine Entscheidungen sind | |
fragwürdig und alles andere als unausweichlich. Statt im Nachgang zu | |
moralisieren, erzählt Bossong in einem so kühlen Tonfall, dass der Glutkern | |
der Prosa übersehen werden kann: Unter der Textoberfläche lässt sich eine | |
durchaus leidenschaftliche Reflexion über Freiheitsvorstellungen erkennen, | |
die in Amoralität münden. | |
Magdas Wille zum Aufstieg ist gewiss stärker ausgeprägt. Doch auch Hans | |
möchte seine Karriere im Außenministerium unter von Ribbentrop nicht | |
aufgeben, obwohl er sich selbst in Gefahr bringt. Die beiden sind auf | |
unterschiedliche Weise opportunistisch und rücksichtslos. Was sie | |
verbindet, erkennt Hans erst im Nachhinein: „Wir wollten geliebt werden, | |
das war alles, und wir hatten entsetzliche Angst, allein zu sein.“ | |
Mögen die Figuren in einer anderen historischen Epoche gelebt haben, | |
Bossongs Romanstoff ist hochaktuell. Dementsprechend ist auch der | |
Schriftzug zu verstehen, der beim Friedhof in Pritzwalk, dem Stammsitz der | |
Familie Quandt, zu lesen ist und den die Autorin dem Roman vorangestellt | |
hat: „Was Ihr seid – das waren wir / Was wir sind – das werdet Ihr“. | |
Was die historischen Kontinuitäten anbelangt, muss man sich nur mit dem | |
Korpsgeist in der deutschen Ministerialbürokratie damals wie heute | |
beschäftigen, um frappierende Parallelentwicklungen festzustellen. Nora | |
Bossong kennt sich in der Welt der Diplomatie gut aus; in [2][ihrem Roman | |
„Schutzzone“] geht es um eine Mitarbeiterin der Vereinten Nationen, die | |
sich nach dem Völkermord im afrikanischen Burundi der eigenen Verantwortung | |
stellen muss. Dieses Buch ist geprägt von schroffen Zeitsprüngen, krassen | |
Szenen im Herzen der Finsternis und einer virtuosen Verflechtung der | |
Erzählstränge. | |
## Magda Goebbels völlig hemmungslos | |
In „Reichskanzlerplatz“ zeigt Bossong, dass sie auf sprachliche Experimente | |
und stilistische Girlanden weitgehend verzichten kann. Die Skurrilitäten | |
aus der Vita von Magda Goebbels, die nahezu nebenbei erwähnt werden, passen | |
in Bossongs strenges Erzählkonzept. Diese Frau war – wie heutige Ideologen | |
– völlig hemmungslos, was die Brüche in der eigenen Biografie anbelangt. | |
Sie verhinderte jedenfalls nicht, dass ihr jüdischer Adoptivvater und | |
Förderer, Richard Friedländer, im KZ Buchenwald umgebracht wurde, obwohl | |
sie zu Schulzeiten mit dem Davidstern um den Hals herumgelaufen war. Vom | |
leiblichen Vater, der einer Freimaurerloge angehörte, wurde Magda in den | |
Buddhismus eingeführt. Die friedfertige Erfahrungsreligion beeindruckte sie | |
genauso wie Rosenbergs Rassenlehren. | |
Bei Bossong steht die „erste Frau“ der Nazidiktatur aus historischen und | |
auch dramaturgischen Gründen nicht durchgängig im Mittelpunkt der | |
Erzählung. Hans wird in die Schweiz versetzt und hat kaum noch persönlichen | |
Kontakt mit ihr. Die wenigen schriftlichen Nachrichten Magdas aus Berlin | |
enthalten allgemeine Phrasen oder banal-vielsagende Gedichtzeilen: „der | |
Sommer stand und lehnte / und sah den Schwalben zu“. | |
Als Magda Goebbels noch über Jahreszeiten und Vöglein sinnierte, war ihr | |
böses Reich schon am Ende. Der Diplomat, der als Mitwisser und Mitläufer | |
schuldig wurde, darf nach dem Krieg am Grab des früh verstorbenen Freundes | |
über den Verlust der eigenen Integrität trauern – wozu er, frei nach | |
Mitscherlich, nicht wirklich fähig ist. | |
Nora Bossong hat mit „Reichskanzlerplatz“ einen [3][preiswürdigen Roman] | |
geschrieben, der vom Übergang einer Demokratie in die Diktatur erzählt, den | |
die Menschen akzeptieren oder befördern, solange ihr eigenes Fortkommen | |
gesichert ist. Die Demokratie, so heißt es an einer Stelle, hätten die | |
Deutschen „so schnell vergessen wie eine Vokabel aus der Schulzeit“. | |
Gegenwärtiger ist die Vergangenheit selten erzählt worden. | |
21 Aug 2024 | |
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## AUTOREN | |
Carsten Otte | |
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