# taz.de -- Goebbels-Biograph über Hitlers Sprachrohr: "Glücklich wie ein Her… | |
> Goebbels gilt als Symbol effektiver, moderner Propaganda. Doch viele | |
> Erfolge der NS-Propaganda waren selbst inszeniert. Ein Gespräch mit dem | |
> Goebbels-Biografen Peter Longerich. | |
Bild: NS-Oberpropagandist Joseph Goebbels beim frühen Einüben seiner Posen. | |
taz: Herr Longerich, haben Sie einen Lieblingswitz über Goebbels? | |
Peter Longerich: Eigentlich nicht, aber vielleicht kennen Sie den: Goebbels | |
kommt zu Hitler und sagt: "Mein Führer: Ich melde, 5.000 Menschen warten | |
vor dem Sportpalast auf Sie, 5.000 drinnen, macht zusammen 55.000". Der | |
Witz, der aus der NS-Zeit stammt, verdeutlicht: Viele haben ihn als jemand | |
gesehen, der mit Inbrunst übertreibt, aufschneidet, lügt. Und der dabei | |
leicht durchschaubar ist. Aber Vorsicht: Goebbels war keine Witzfigur. | |
Warum wird Goebbels, ein politisch desinteressierter junger Mann, | |
eigentlich 1923 zum Nazi? | |
Er ist damals, auf dem Höhepunkt der Inflationskrise, ein junger Mann aus | |
kleinbürgerlich-katholischem Hause mit einem intellektuellem Anspruch, doch | |
keiner will seine Texte lesen oder hat Verwendung für ihn. Hinzu kommen | |
großen Glaubenszweifel und er sucht so etwas wie eine Ersatzreligion. Und | |
findet Hitler, den er für den "Erlöser" hält. Zwischendurch hat er auch | |
geglaubt, er selbst habe etwas Göttliches in sich, sei selbst eine | |
Erlöserfigur. | |
Warum wird er 1923 binnen weniger Monate zum rabiaten Antisemiten? | |
Er war, aus dem Katholischen heraus, immer antisemitisch. Das war damals | |
nicht ungewöhnlich, und er selbst spricht von einem normalen | |
Antisemitismus. Seine Judenfeindschaft nimmt dann, auf seiner Suche nach | |
der eigenen nationalen Identität, enorm zu: "Jedes Contra gegen Juden ist | |
ein Pro für Deutschland", heißt es in seinem Tagebuch. Das folgt der Logik: | |
Wenn ich schon nur höchst ungefähr weiß, was ich als Deutscher bin, weiß | |
ich auf jeden Fall, was ich nicht bin. Darin ist Goebbels typisch. Die | |
positiven Ideen der Völkischen waren äußerst vage, nur das Negative war | |
klar. | |
Damals hatte er eine jüdische Freundin … | |
Ja, das war einerseits schwierig, andererseits war die Beziehung für ihn | |
sehr bequem. Goebbels stellt es in seinem Tagebuch so dar, dass er sich von | |
ihr trennen wollte, weil sie Jüdin ist. In Wirklichkeit war es umgekehrt: | |
Sie drohte ihm mit der Trennung, wenn er mit dem antisemitischen Mist nicht | |
aufhörte. | |
Wie wird er zum Propagandachef der Nazis? | |
Widerwillig. Eigentlich sieht er sich als Redakteur einer | |
nationalsozialistischen Kulturzeitung. Aber was ihn immer vorantreibt, ist | |
sein Narzissmus: Immer wenn er eine neue Aufgabe hat, etwa als Gauleiter in | |
Berlin, glaubt er die Anerkennung zu finden, die für ihn unverzichtbar ist. | |
Wichtig ist, dass für ihn die lebensnotwendige ständige Zufuhr nach | |
Selbstbestätigung durch sein Idol Hitler vermittelt werden muss. Darin | |
begründet sich seine totale Abhängigkeit von dieser Figur. | |
Sie schreiben in Ihrer Goebbels-Biografie, seine Sucht nach Anerkennung | |
entstamme einer frühkindlichen narzisstischen Persönlichkeitsstörung. Sind | |
solche psychoanalytisch orientierten Ferndiagnosen für einen Historiker | |
nicht bedenklich? | |
Nein. Als Historiker ist man darauf angewiesen, sich Expertisen aus andere | |
Bereichen zu holen, auch aus der Psychoanalyse. Ich habe aber keine | |
psychoanalytische, sondern eine historische Biografie geschrieben: Es geht | |
also primär um seine Rolle im Nationalsozialismus. Goebbels entspricht in | |
vielem dem Befund der narzisstischen Störung: Er hat sich, das ist seinem | |
Tagebuch immer wieder zu entnehmen, nie von seiner Mutter abgelöst. Auch | |
die Fixierung auf ein Idol, in diesem Fall Hitler, die extremen | |
Depressionen bei Ablehnung und die grandiose Selbstüberschätzung | |
entsprechen geradezu lehrbuchhaft dem Bild einer narzisstischen | |
Persönlichkeit. | |
Goebbels ist nach 1945 zur Chiffre suggestiver Propaganda geworden. Warum | |
eigentlich? | |
Wir sind bis heute überzeugt, dass er das war. Als Belege dafür dienen die | |
Film- und Tonaufnahmen, die allerdings im Propagandaministerium produziert | |
wurden, um genau dies zu beweisen. Heute, insbesondere nach der Publikation | |
seiner Tagebücher 2006, wissen wir aber, wie viel von dieser | |
Massenzustimmung inszeniert war. | |
Zum Beispiel? | |
Sein berühmter "Wollt ihr den totalen Krieg?"-Auftritt im Sportpalast 1943. | |
Erstens wissen wir aus den Tagebüchern, dass dort handverlesenes | |
Nazipublikum anwesend war. Goebbels schreibt zwar nach dem Auftritt in sein | |
Tagebuch, es wären ganz normale Deutsche dort gewesen, aber nur um damit | |
seinen Erfolg zu vergrößern. Das ist typisch für ihn. Die Bilder der | |
Sportpalast-Rede sind zudem Montagen, die im Ministerium entstanden sind, | |
um maximale Wirkung zu erzielen. Wir wissen doch gar nicht, ob das Publikum | |
immer an den Stellen applaudiert hat, die die Montage suggeriert. Die | |
NS-Propaganda war darauf angelegt, stets ihre eigene Wirksamkeit zu | |
beweisen. Und Goebbels, als deren Chef, ist, auch aufgrund seiner | |
Persönlichkeit, zu keinem kritischen Blick darauf in der Lage. | |
Also war die NS-Propaganda ein selbstreferenzielles System? | |
Ja, in ganz erheblichem Umfang. | |
Wo stieß Goebbels denn konkret an die Grenzen propagandistischer | |
Wirkungsmacht? | |
Zum Beispiel im Frühsommer 1943. Goebbels inszeniert, ausgehend von Katyn | |
[einem von den Sowjets 1940 verübten Massaker an mehreren tausend | |
polnischen Offizieren, A.d.R.] eine großangelegte antisemitische Kampagne, | |
die er schließlich stoppen muss, weil sie in der Bevölkerung sehr geteilt | |
aufgenommen wird. In einem Rundschreiben an NS-Funktionäre entschuldigt er | |
sich sogar dafür, diese Kampagnen zu weit getrieben zu haben. | |
Warum? | |
Weil er ein schwieriges Motiv in die Propaganda gebracht hat. Nämlich: Wir | |
müssen siegen, denn sonst passiert mit uns das Gleiche, was wir mit den | |
Juden gemacht haben. Damit macht er die Deutschen zu Mitwissern, ja | |
Komplizen des Judenmords. Diese Drohung mit dem kollektiven Ende führt aber | |
eher zu Apathie in der Bevölkerung. Außerdem zeigt diese Propaganda | |
ambivalente Wirkungen: Manche sagen: Wenn die Juden so mächtig sind, war es | |
denn klug, gegen sie Krieg zu führen? Oder in den Stimmungsberichten taucht | |
das Argument auf: Die Stadt A ist bislang noch nicht bombardiert worden, | |
dort steht die Synagoge noch. In der Stadt B ist sie 1938 zerstört worden, | |
die Stadt liegt in Asche. Solche nicht mehr steuerbaren Diskussionen in der | |
Bevölkerung zeigen die Grenzen der Propaganda. | |
Wie weit reichte Goebbels Einfluss in der Naziführung? | |
Auffällig ist, dass er an vielen zentralen Entscheidungen, etwa dem Krieg | |
gegen die Sowjetunion, überhaupt nicht beteiligt war. Er hat davon sogar | |
sehr spät erfahren, offenbar weil man ihm in der NS-Spitze in erster Linie | |
als Propagandafachmann und nicht als politischen Kopf sah. | |
Die Nazis hatten ja so etwas wie eine "Propaganda der Tat" verwirklicht: | |
von der "Deutschen Arbeitsfront" über den Volkswagen, die "Kraft durch | |
Freude"-Reisen bis zu den Egalitätsideen der Hitlerjugend. War dies nicht | |
viel wichtiger als die Goebbels-Propaganda, um die Zustimmung zum NS-Regime | |
zu sichern? | |
Um die Zustimmung zum Regime zu erklären, kommt man an beidem nicht vorbei. | |
Es war die Mischung von Propaganda, Versprechungen des Regimes und Drohung | |
mit Repression. | |
Was ist denn Goebbels originäre Leistung - dass er die Methoden der Reklame | |
auf Politik angewendet hat? | |
Ja, Hitler war stark auf die englische Propaganda aus dem Ersten Weltkrieg | |
als Vorbild fixiert. Goebbels hat hingegen ganz pragmatisch die Prinzipien | |
der Zigaretten- und Waschmittelwerbung auf die Politik übertragen. Also: | |
Reduzierung auf Schlagworte, dauernde Wiederholung, mulimedialer Einsatz. | |
Das Interessanteste an Goebbels ist vielleicht sein Tod. Keine andere | |
Nazigröße tötet sich, seine Frau, seine Kinder. Warum tut er das? | |
Goebbels schafft es noch am Ende des Krieges, die anderen konkurrierenden | |
Nazigrößen aus der Gunst Hitlers zu verdrängen. Nur er ist am Ende bei | |
seinem Idol Hitler. Er weiß seit 1943, dass der Krieg verloren ist. Sein | |
Versuch, Hitler zu einem Sonderfrieden zu bewegen, scheitert. Er sieht das | |
Ende als seit langem kommen. | |
Es ist keine Selbstauslöschung aus einem Affekt? | |
Nein, das ist absehbar. | |
Darin ist auch ein theatralisches Moment - ein letztes Zeichen für die | |
Nachwelt. | |
Ja, und man kann hier eine Rückkehr zu dem Erlösungsglauben der frühen 20er | |
Jahre sehen, von dem auch sein Roman "Michael" durchdrungen ist, dessen | |
Held am Ende stirbt. Man muss mit solchen Schlüssen aber vorsichtig sein, | |
weil die Gefahr besteht, in eine Falle zu tappen, die Goebbels zum Zwecke | |
der Selbstinszenierung selbst aufgestellt hat. Seinen Lebensweg durch den | |
"Opfertod" als konsequent und gelungen darzustellen - diese Absicht steht | |
deutlich hinter Selbstmord und Kindermord. | |
Es musste ein heroisches Ende sein. | |
Ja, aber das ist es nicht. In erster Linie ist dies ein Mord an sechs | |
Kindern, übrigens nicht von Goebbels exekutiert, sondern, soweit wir | |
wissen, von seiner Frau. Dieses Ende ist keine Götterdämmerung, sondern | |
eine leicht durchschaubare miserable Inszenierung, eine Schmiere. | |
Schmiere? | |
Goebbels hat in einem seiner letzten Leitartikel im Februar 1945 | |
formuliert, er halte im Falle einer Niederlage das "Leben nicht mehr für | |
wert gelebt zu werden, weder für mich noch für meine Kinder". Das ist eine | |
zynische und billige Manipulation: Der Tod der Kinder soll sein eigenes | |
Versagen kompensieren. Kurz vor dem Ende hatte er aber noch versucht, mit | |
den Sowjets über einen Waffenstillstand zu verhandeln, er suchte also bis | |
zuletzt nach einem anderen Ausweg. Hätte er sich nicht umgebracht, wäre er | |
24 Stunden später verhaftet worden. All das steht dem Eindruck des | |
Großartigen, des selbst gewählten Schicksals, den Goebbels mit seinem Tod | |
erwecken wollte, völlig entgegen. | |
War Goebbels in diesem letzten Moment glücklich? | |
Die erhaltenen Berichte zeigen eher das Bild eines Verzweifelten. Seine | |
Tagebücher zeigen in den letzten Jahren auch deutlich Zweifel an der | |
Politik Hitlers, ohne dass er deswegen etwas tut. Dass man unweigerlich auf | |
die selbstverschuldete Niederlage zusteuerte, hat ihn nicht froh gestimmt. | |
Am Schluss versucht er sich dann einzureden, dass sich ein Kreis schloss. | |
War Goebbels, seinen Tagebüchern zufolge, glücklich? | |
Vielleicht so, wie ein Heroinsüchtiger glückliche Momente hat. Er hat große | |
Bestätigung in seinen Rollen gefunden, doch seine narzisstische Störung war | |
zu stark, er konnte trotz aller "Erfolge" nie genug bekommen. | |
13 Dec 2010 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
Christian Semler | |
## TAGS | |
Joseph Goebbels | |
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