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# taz.de -- Ghetto-Überlebender Ladislaus Löb: "Er pokerte, um Leben zu rette…
> Die Judenfeindlichkeit in Ungarn, die Erfolge chauvinistischer Parteien
> sind Folge der unbewältigten Vergangenheit. Ladislaus Löb wurde nur
> gerettet, weil ein Mann 1.000 Dollar für ihn zahlte.
Bild: KZ Ravensbrück.
taz: Herr Löb, Sie wurden in Ungarn als Jude verfolgt. In der aktuellen
Debatte über Medienzensur werden kritische Intellektuelle im Land mit
antisemitischen Sprüchen verfemt. Schmerzt Sie das?
Ja. Was da derzeit passiert, wundert mich leider überhaupt nicht. Der
Einmarsch der deutschen Truppen beschleunigte zwar die Vernichtung der
Juden in Ungarn. In den 1920er Jahren dominierten aber schon in der
ungarischen Politik chauvinistische und antisemitische Einstellungen. Schon
als kleines Kind schimpften Nachbarn mich "Stinkjude". Große
Überredungskünste brauchten die Nazis also nicht für ihre Verfolgungs- und
Vernichtungspolitik. Die ungarische Regierung, der ungarische Mob war dazu
nur zu bereit.
Und wie wirkt das heute nach?
Dies dürfte mit ein Grund sein, dass die Ungarn wieder ganz chauvinistische
Parteien wählen, wieder Juden und Sinti und Roma angegriffen werden.
Die Nationalsozialisten versprachen den Juden auch in Ihrem Heimatort eine
Umsiedlung. Ihr Vater glaubte das nicht. Warum?
Mein Vater war vorsichtiger, misstrauischer als andere. Binnen zwei Wochen
wurden im Mai 1944 an die 18.000 Juden in eine stillgelegte Ziegelfabrik
eingesperrt. Gerüchte von Arbeitseinsätzen und Umsiedlungen kursierten.
Mein Vater wurde während des Ersten Weltkriegs als ungarischer Soldat am
Knie verletzt, und so zum 50-prozentigen Invaliden. In der Ahnung, dass die
Entwicklung zu nichts Gutem führen würde, fälschte er in einer Urkunde
seine Invalidität auf 75 Prozent hoch, damit er nach dem Judengesetz von
1938 nicht mehr als Jude galt. Ohne den Stern konnte er sich frei bewegen,
um die Flucht vorzubereiten. Nach britischen und amerikanischen
Bombenangriffen im Juni flohen wir in den Wirren mit der Bahn nach
Budapest.
Ihr Buch vermittelt den Eindruck, dass das Ghetto für sie als 11-Jähriger
ein Abenteuer war. Ist das gewollt?
Das Ghetto war nun einmal ein Ausnahmezustand: Die Schule war früh zu Ende,
auf dem Gelände konnten wir Kinder spielen, die Eltern schickten einen
nicht ins Bett. Die eigene Angst konnte bei den kindlichen Abenteuern mal
verschwinden. Aber wir spürten die seelischen und körperlichen Belastungen
der Erwachsenen und erlebten Not und Tod. Heute weiß ich, dass fast das
gesamte Ghetto nach Auschwitz deportiert wurde.
Wie bekam ihr Vater in Budapest Kontakt zu der Gruppe von Rezsö Kasztner,
die Juden helfen wollte?
Das weiß ich nicht. Meinem Vater habe ich nie Fragen zu dieser Zeit
gestellt, er hat auch nie darüber geredet. Diese Chance habe ich vertan.
Kasztner verhandelte mit der SS, mit den Nazigrößen Adolf Eichmann und Kurt
Becher über den Freikauf von Juden …
Geld für jüdisches Leben. Über Monate feilschte Kasztner mit Eichmann und
Becher. Immer wieder wagte er sich zu ihnen hin ohne wirklich Geld in den
Taschen. Andere Mitglieder des Rettungskomitees versuchten derweil, Geld zu
besorgen. Alle pokerten. Letztendlich schaffte Kasztner es, das Lösegeld
auf 1.000 Dollar pro Person festzulegen. Das erscheint nicht ganz so
heroisch wie der Aufstand im Warschauer Ghetto, aber durch diese Geschäfte
mit diesen Teufeln wurden über 1.670 Leben gerettet. Die ganz genaue Zahl
derer, die durch diesen Poker mit einem Zug über einen Zwischenstopp im
Lager Bergen-Belsen in die Schweiz entkamen, lässt sich nicht mehr genau
eruieren.
Wurden die Freigekauften in Bergen-Belsen als privilegierte Gruppe
behandelt?
Am 9. Juni 1944 erreichten wir Bergen-Belsen, das wir nach fünf Monaten
Richtung Schweiz verlassen konnten. Als wir im Lager ankamen, war das ein
Schock. All die Menschen hinter den Stacheldrahtzäunen, ausgemergelt und
entwürdigt. Zerlumpte Menschen, die die Wachen misshandelten. In solch
einer Situation hat man aber keine edlen Gefühle, man denkt gar nicht an
die anderen. Uns blieben die Misshandlungen erspart, wir waren aber auch in
überfüllten Baracken eingesperrt, mussten stundenlange Zählappelle
durchstehen, Hunger leiden, Krankheiten und Ängste breiteten sich aus. Aber
ich möchte nicht missverstanden werden: Wir waren die Privilegiertesten im
Lager. Die Menschen aus unserer Gruppe, die später nach Israel gingen,
wurden dort gehasst.
War es dieser Hass, der zu einem Prozess wegen Kasztners Machenschaften
führte?
Machenschaften, ja dieses Wort passt zu den Vorwürfen. 1954 begann der
Prozess vor dem Bezirksgericht Jerusalem, in dem Kasztner vorgeworfen
wurde, mit den Nazis kollaboriert, indirekt Mord an jüdischen Menschen mit
ermöglicht und einen Kriegsverbrecher gerettet zu haben. Letztlich wurde
Kasztner zum Verhängnis, dass er für Becher, immerhin Heinrich Himmlers
Sonderbeauftragter für Budapest, eine wohlwollende Erklärung abgegeben
hatte. Er leugnete es erst, und als die Wahrheit herauskam, wurden ihm auch
seine Rettungsbemühungen nicht mehr geglaubt.
Dass Sie als Kind Kasztner nicht verteidigt haben, ist verständlich. Aber
warum haben sich die Älteren aus der Gruppe der Freigekauften nicht
geäußert?
Sie hatten Angst. Sie waren in Israel die Paria, wurden offen angefeindet.
Das Verfahren zwang Israel zum ersten Mal, sich öffentlich mit den
Auswirkungen des Holocausts auf uns selbst auseinanderzusetzen. Und das in
einer Zeit massiver gesellschaftlicher Konflikte zwischen den Juden, die
vor dem Krieg schon in Palästina sich niedergelassen hatten, kämpften, und
den Überlebenden aus Europa, die kaum mit dem Verlust der Familie und dem
eigenen Überleben fertig wurden. Eigentlich konnte das Gericht der
Situation kaum gerecht werden. Die Umstände waren außergewöhnlich und
Kasztners Reaktionen waren es ebenfalls. Er riskierte sein Leben, pokerte,
um zu retten. Wer vermag das später moralisch zu bewerten?
In einem Berufungsverfahren wurden die Beschuldigungen revidiert. Die
Richter berücksichtigten die Umstände der Zeit und kamen damit zu spät.
Ja, 1958 erklärten die Richter des Obersten Gerichtshofs in Jerusalem, dass
angesichts der einmaligen Verhältnisse Kasztners Handlungen nicht nach den
absoluten Maßnahmen normaler Zeit beurteilt werden kann. Das Eingestehen
eines Justizirrtums erlebte Kasztner aber nicht mehr. Am 3. März 1957 hatte
Zeev Eckstein ihn vor seiner Wohnung niedergeschossen. Acht Tage später
erlag Kasztner den Verletzungen.
Warum haben Sie ihr Buch erst 2010 veröffentlicht?
Ich wollte keine Ausnahme sein. Ich wollte sein wie die anderen. Ein guter
Germanist sein. Das war natürlich ein Fehler.
Und wegen Kasztner haben Sie es dennoch geschrieben?
Ja. Er hätte etwas Besseres verdient als einen Justizirrtum und eine Kugel.
6 Jan 2011
## AUTOREN
Andreas Speit
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