# taz.de -- Plünderung jüdischen Eigentums: Billigende Inkaufnahme | |
> "Wie Deutsche ihre jüdischen Mitbürger verwerteten": Die Enteignung der | |
> Juden ist gut dokumentiert. Wolfgang Dreßen hat die Akten gesichtet. | |
Bild: Vertiefte sich in die "Arisierungsakten": Politikwissenschaftler Wolfgang… | |
Es gibt zweierlei Schuld: Die, planmäßig ein Verbrechen begangen zu haben, | |
und die, eines zu ermöglichen und zuzulassen. Alfred Döblin | |
Dr. Wolfgang Dreßen, geb. 1942 in Düsseldorf, Politikwissenschaftler, | |
Historiker, Ausstellungsmacher. Er wuchs in Krefeld auf - sein Vater war | |
Polizeirat, seine Mutter Dienstmädchen und später Hausfrau. Er besuchte das | |
Gymnasium am Moltkeplatz, studierte in Tübingen und Berlin, gehörte zum | |
undogmatischen Flügel des SDS, war von 1968 an Lektor und Autor im | |
Wagenbach Verlag (verblieb nach der Spaltung 1972 als einziger Lektor ). | |
Dort konzipierte und betreute er die Rotbücher und gab, bis er 1977 | |
gekündigt wurde, die Buchreihe Sozialistisches Jahrbuch Politik heraus. | |
Daneben arbeitete er bei der anarchistisch-libertären Zeitung Agit 883. Ab | |
1977 jobbte er als Taxifahrer und promovierte 1982 bei Jacob Taubes in | |
Berlin. Danach war er beim Museumspädagogischen Dienst tätig. 1994 bis 2008 | |
leitete er die Arbeitsstelle Neonazismus an der Fachhochschule Düsseldorf | |
und organisierte verschiedene Ausstellungen, u. a. zur Enteignung der Juden | |
ab 1933 in Deutschland. 1998 erschien dazu sein Buch "Aktion 3. Deutsche | |
verwerten ihre jüdischen Nachbarn" im Aufbau-Verlag. Dreßen ist u. a. | |
Mitglied im Beirat des Internetprojekts "Informationen zur deutschen | |
Außenpolitik" und des wissenschaftlichen Beirats der Bildungsgemeinschaft | |
Soziales, Arbeit, Leben, Zukunft (SALZ). | |
Beamte vernichten keine Akten. Schon gar nicht Finanzbeamte. Dieser Hemmung | |
verdankt sich der Umstand, dass in den Finanzämtern Deutschlands, | |
Österreichs und der Schweiz immer noch "Arisierungsakten" aus der Zeit des | |
Nationalsozialismus gelagert werden. Es handelt sich um Dokumente, die den | |
bürokratischen Vollzug der Ausplünderung der Juden als rassisch definierter | |
Gruppe zeigen. Und sie zeigen das Zusammenspiel von Behörden, Institutionen | |
und der nutznießenden Bevölkerung, bei der "Arisierung" von jüdischem Geld | |
und Gut. | |
Götz Aly nennt das treffend den " staatlich gelenkten, jedoch | |
gemeinnützigen Massenraubmord". Die Einkünfte aus der sukzessiven | |
Ausplünderung wurden akribisch vermerkt, mit Stempel und Unterschrift | |
besiegelt und abgelegt. Auch die Versteigerungslisten für die Habe der | |
Deportierten und Ermordeten finden sich, ordentlich abgeheftet, mit Ort, | |
Datum, Erlös und den Namen der Käufer. Es handelt sich also um brisante | |
Akten, die eine direkte Zu- und Mitarbeit der Behörde und ihrer Beamten bei | |
der Einleitung und Durchsetzung der Vernichtungspolitik belegen. Die | |
"Arisierungsakten" wurden nach dem Krieg von den Alliierten weitgehend | |
übersehen und gerieten als "normale" Steuerakten in baldige Vergessenheit. | |
Aber nicht ganz. Nach dem Ablauf der 30-jährigen Aktensperre wurden sie | |
1988 auf 80 Jahre gesperrt, mit Verweis auf das Steuergeheimnis. 2009 wurde | |
vom Bundesminister für Finanzen eine Historikerkommission eingesetzt, um | |
die Geschichte des Reichsfinanzministeriums aufzuarbeiten. Wegen der | |
Aktensperre ist es nur sehr wenigen wissenschaftlich interessierten Leuten | |
gelungen, dennoch Einsicht zu nehmen. Wolfgang Dreßen war einer der Ersten. | |
Es gelang ihm Ende der 90er Jahre, nach unablässigem Insistieren, Zugang zu | |
den "Arisierungsakten" der Oberfinanzdirektion Köln zu bekommen. | |
Erster Anhaltspunkt | |
Elisabeth Kmölniger und ich trafen ihn unlängst zum Frühstück im ehemaligen | |
Palmenhaus der Königlichen Gartenakademie in Dahlem. Er erzählte uns, wie | |
er an die Akten kam und was er darin fand: "Also den ersten Anhaltspunkt, | |
dass es überhaupt solche Akten gibt, den erhielt ich Ende der 80er Jahre, | |
noch vor der Wende, in Berlin. Damals arbeitete ich noch im | |
Museumspädagogischen Dienst, und wir haben 1986 eine Ausstellung gemacht: | |
"Adass Jisroel. Die jüdische Gemeinde in Berlin (1869-1942). Vernichtet und | |
vergessen". | |
Der Mario Offenberg, der jetzt Geschäftsführer der Gemeinde ist, arbeitete | |
mit und kam, weil er als Betroffener seine Familiengeschichte | |
recherchierte, auch ins Archiv der Oberfinanzdirektion. Damals habe ich zum | |
ersten Mal diese Versteigerungslisten gesehen, die haben wir auch | |
ausgestellt. Und dann gibt es ein Buch aus den 70er Jahren, von einem Mann, | |
der Theresienstadt, Auschwitz und Buchenwald überlebt hat, H. G. Adler, | |
,Der verwaltete Mensch. Studien zur Deportation der Juden aus Deutschland'. | |
Er war an die Akten des Finanzamtes Würzburg gekommen und hat das sehr | |
genau beschrieben. Das hatte ich also alles im Kopf. | |
Und als ich dann in den 90er Jahren die Professur in Düsseldorf bekam, | |
dachte ich, das wäre das richtige Thema und habe in der Oberfinanzdirektion | |
Düsseldorf nachgefragt. Die sagten aber, sie hätten diese Akten nicht. | |
Später erfuhr ich, dass eine Anweisung an die nachgeordneten Ämter in | |
Düsseldorf rausgegangen war, man möge von einer Beantwortung meiner | |
Anfragen "absehen". Die nächste Oberfinanzdirektion ist in Köln, aber auch | |
dort sagte man mir, sie hätten die Akten nicht. | |
Eines Tages bekam ich aber einen anonymen Anruf, von einer Frau aus der | |
Oberfinanzdirektion. Ich kenne sie bis heute nicht, aber sie soll gerühmt | |
werden! Sie sagte mir, sie hätten die Akten, ich solle dranbleiben. Und | |
dann habe ich in einem endlosen Antragsverfahren, inklusive einer Anfrage | |
der Grünen im Bundestag, es endlich geschafft. Eines Tages kam ein Brief | |
aus Köln, dass ich mal vorbeikommen solle. Ich gab an, dass ich einen | |
Aufsatz schreiben wolle, und musste per Unterschrift versichern, dass ich | |
alles anonymisiere aus Datenschutzgründen und diesen Aufsatz vorlege. | |
2.000 Akten gesehen | |
Und dann war ich im Archiv. Zwei relativ kleine Räume unterm Dach, | |
vollgestopft. Man hatte den Eindruck, dass da niemand drin war seit langer | |
Zeit. Verstaubt und etwas durcheinander lagen dort etwa 20.000 Akten. 2.000 | |
davon habe ich gesehen. Ich hatte ja nur eine begrenzte Zeit. Die Akten | |
beginnen 1941, unmittelbar nach der 11. Verordnung des | |
"Reichsbürgergesetzes". Sie besagte, dass ein Jude, der seinen Wohnsitz ins | |
Ausland verlegt, die deutsche Staatsangehörigkeit verliert und nach dem | |
Verlust der Staatsangehörigkeit sein Vermögen ans Reich fällt. Ebenso nach | |
seinem Tode. Wie heimtückisch und niederträchtig der gesamte Prozess | |
gehandhabt wurde, zeigt sich auch an § 12: "Diese Verordnung gilt auch in | |
Böhmen und Mähren und den eingegliederten Ostgebieten." Denn was viele | |
nicht wissen, Auschwitz lag ja in Oberschlesien, also auf deutschem Gebiet. | |
Diese 11. Verordnung war sozusagen der letzte Zugriff auf das, was, so im | |
O-Ton, "die zur Deportation anstehenden Juden" noch hatten. | |
Mit dieser 11. Verordnung fangen also die Akten an, das war sozusagen das | |
unmittelbare Vorspiel zum Holocaust. Ich saß da allein, habe gelesen und | |
dachte, ich werde verrückt, über dem Wahnsinn, der da drin stand. Mir wurde | |
klar, das muss öffentlich werden! Und wie es dann so ist, mit der Zeit | |
verliert der Pförtner sein Misstrauen. Jemand, ich sage den Namen nicht, | |
machte mir ein sehr gutes Kopiergerät zugänglich. Ich kam mit voller | |
Aktentasche und habe perfekte Farbkopien gemacht, die aussehen wie | |
Originale. Danach habe ich die Akten sorgsam wieder zurückgebracht, | |
unversehrt und vollständig. Also es war kein Diebstahl, aber das durfte ich | |
natürlich überhaupt nicht! Es war keine Frage, diese Dokumente müssen | |
gezeigt werden, es reicht nicht, drüber zu schreiben. Hier geht es ja nicht | |
nur um die Vergangenheit, hier es geht auch um die Gegenwart! | |
Nur eine Abmahnung | |
Ich beschloss, eine Ausstellung zu machen, und habe mit dem damaligen | |
Leiter des Düsseldorfer Stadtmuseums gesprochen, Wieland Koenig, der sofort | |
bereit war. Eine mutige Entscheidung. Das wurde mir erst später so richtig | |
klar, als anderswo die Ausstellung abgelehnt wurde, z. B. 2000 von der | |
Humboldt Uni; sogar gestützt durch ein Expertengutachten. Das muss man sich | |
mal vorstellen! Jedenfalls, Herr Koenig und ich haben die Ausstellung dann | |
insgeheim vorbereitet, auch der Kulturdezernent der Stadt wusste nichts | |
davon. Damals mussten wir ja noch damit rechnen, dass sie verboten wird. | |
Ich habe mich, um das abzuwenden, an Michel Friedman gewandt - das war noch | |
vor seiner Affäre -, er war sehr freundlich und ist zur Eröffnung gekommen. | |
Ich denke, das war ein gewisser Schutz vor direktem Einschreiten. Die | |
Oberfinanzdirektion machte natürlich Ärger beim Rektor der Hochschule und | |
beim Wissenschaftsminister. Da ich aber kein Beamter war, also nicht dem | |
"besonderen Treueverhältnis" unterstand, konnte mir auch nicht viel | |
passieren. Ich bekam nur eine Abmahnung. | |
Der eigentliche Skandal - für viele Historiker übrigens - war dann aber gar | |
nicht so sehr der Inhalt der Akten, sondern dass ich nichts anonymisiert | |
hatte. Ich habe keinen der Namen geschwärzt. Und das war gut so. Das zeigt | |
auch der Film zum Thema von Michael Verhoeven: "Menschliches Versagen", | |
eine Dokumentation, die er zum 70. Jahrestag der Novemberpogrome gemacht | |
hat, die auch im Fernsehen gezeigt wurde und jetzt auch in der | |
Wanderausstellung gezeigt wird. Darin werden z. B. die Nachkommen einer | |
Familie Levi interviewt. Sie leben in New York und erfuhren zufällig durch | |
den Bericht eines englischen Journalisten von der Ausstellung, dass dort | |
auch die Akte eines vermissten Verwandten gezeigt wird. Sie sagten: "Unsere | |
Verwandten verschwanden vom Erdboden." Aus der Akte geht hervor, sie hatten | |
die Schiffspassage bereits bestellt und bezahlt, durften dann aber nicht | |
mehr ausreisen. Das war für die Nachkommen die erste Spur, nach so langer | |
Zeit. Und da sieht man, wie wichtig es ist, nicht zu anonymisieren, nicht | |
die Spuren zu verwischen! | |
Schon gar nicht die der Täter. Weshalb soll ich Arisierungsprofiteure | |
schützen? Von denen hat sich noch keiner beschwert. Es gibt Firmen, die | |
haben richtig schwer Geld verdient, z. B. die Transport-Firma Kühne & | |
Nagel, besonders im Rahmen der "M- Aktion". M stand für Möbel. Das muss ich | |
kurz erklären: Die im Rahmen der M-Aktion beschlagnahmten Möbel, | |
ursprünglich für die Verwaltungen der besetzten Gebiete und des Reiches | |
vorgesehen - zuständig war das Amt Rosenberg, sozusagen das Amt für | |
Kunstraub -, wurden dann ab 1942 im Reich in großem Stil auf | |
Massenversteigerungen veräußert. Und diese Möbel, die wurden rangeschafft | |
aus Frankreich, Belgien, Niederlande, beschlagnahmt und herausgeholt aus, | |
wie es hieß, "unbewachten jüdischen Wohnungen", den Wohnungen der | |
Deportierten und untergetauchten jüdischen Bürger. Das sind Unmengen von | |
Zügen und Frachtschiffen, die diese Beute nach Deutschland brachten, | |
gechartert von Kühne & Nagel. Von der Firma habe ich noch nicht ein Wort | |
gehört. Die wären ja auch dumm - das ist heute ein international tätiges | |
Logistik- und Transportunternehmen -und damit würde es ja auch bekannt, | |
wenn sie gegen mich klagen. Die Belege in den Akten sprechen für sich. | |
Der plündernde Staat | |
Aber mal zu den Akten selbst: Also, wenn man da so drübersitzt und blättert | |
in den Originalen, sieht die handschriftlich ausgefüllten Bögen? Ganz vorn | |
ist immer die "Verfügung", obenauf liegend. Da steht drauf, weshalb das | |
Verfahren rechtens ist. Das ist sehr wichtig, denn die übliche Sicht auf | |
"Arisierung" ist ja der plündernde SA-Mann, der Mob. Das war die Ausnahme. | |
Hier aber sehen wir sozusagen die Regel, den plündernden Staat, die | |
vollziehende Behörde, die Vorschriften und Verfahren korrekt einhält. Und | |
wie kam die Verfügung, dieses wichtige Dokument ins Haus? Das brachte der | |
Gerichtsvollzieher per Zustellungsurkunde. Derselbe Gerichtsvollzieher, den | |
man auch am Hals hatte als Schuldner. Also der Vollstreckungsbeamte. Oft | |
war er vielleicht nicht mal in der Partei. | |
Dann folgt die Vermögenserklärung, es wird alles abgefragt, was man sich | |
nur vorstellen kann, vom Geld und Aktienvermögen, über Bücher, Bilder, bis | |
hin zum Nachtschrank, der Kuchengabel. Jedes Detail musste angegeben und | |
erfasst werden. Jedes Familienmitglied, auch jedes Kind, musste das | |
ausfüllen. Wenn es noch nicht schreiben konnte, musste der | |
Haushaltsvorstand es vertreten bei der Vermögenserklärung. Die | |
Finanzbehörde war über die bevorstehende Deportation informiert, die | |
Vermögenserklärungen mussten rechtzeitig ausgefüllt sein. Selbst | |
diejenigen, die schon in Sammellagern waren und bereits alles verloren | |
hatten, mussten die Erklärung ausfüllen. Sie gehört sozusagen zum letzten | |
Akt der Entrechtung und Enteignung. | |
Zusätzlich gaben die Banken, Sparkassen und Versicherungen natürlich | |
jederzeit alle gewünschten Auskünfte mit "Heil Hitler", die Leute hatten ja | |
auch Versicherungen, Rentenansprüche, Sparkonten. Manche hatten, trotz der | |
"Judenbuße" in Milliardenhöhe nach den Novemberpogromen und all den anderen | |
Ausplünderungen, noch Reste von Vermögen. Das sollte natürlich genauestens | |
erfasst werden für die Verwertung. Es ist den Akten schon von außen | |
anzusehen, wenn Vermögen im Spiel war, dann ist die Akte dick. Es gab ja | |
viel zu verteilen. | |
Quittung vom Spediteur | |
Aber es gibt natürlich viele dünne Akten, die bestehen nur aus einigen | |
Blättern. Im Ruhrgebiet z. B., wo viele katholische Bergarbeiter aus Polen | |
leben, gab es auch viele jüdische Bergarbeiter aus Polen. Die hatten | |
bereits die deutsche Staatsbürgerschaft und waren 1938 bei der | |
"Polenaktion" nicht ausgewiesen worden. In der Akte steht dann z. B. Willy | |
Lichtenstein aus Oberhausen, geb. 1906, hatte "keine nachweisbaren | |
Vermögenswerte". Seine Habe erscheint auf einem Versteigerungsprotokoll vom | |
Februar 1942: 1 Herrenhut, 2 Paar Schuhe, 3 Paar Strümpfe, 5 Krawatten, 5 | |
Kragen. Aber auch das wurde, wie alles andere, abgeholt und versteigert. | |
Die Juden wurden in Sammellager gebracht bis zur Deportation. Jemand hat | |
dann die verlassenen Wohnungen noch mal überprüft, sie wurden desinfiziert | |
und versiegelt, bis der örtliche Spediteur kam - in Köln war das z. B. die | |
Firma Roggendorf, die gibt es heute noch -, um alles abzuholen und | |
einzulagern für die Massenversteigerung. Das liegt in der Akte, auch die | |
Quittung vom Spediteur, schön abgeheftet. | |
Ganz wichtig ist als Nächstes die Versteigerung. 1941 gab es unter dem | |
Decknamen "Aktion 3" genaue Weisungen vom Reichsfinanzministerium an die | |
Oberfinanzdirektionen, wie mit dem Vermögen und der Verwertung von | |
eingezogenem Hab und Gut zu verfahren sei. Es gab Massenversteigerungen u. | |
a. in der Messehalle Köln und im Schlachthof Düsseldorf. Die | |
Versteigerungslisten liegen in den Akten. Es gab Anzeigen in den Zeitungen, | |
wann und wo die Versteigerungen stattfinden. Massenversteigerungen, auch | |
der erbeuteten Möbel und Haushaltsgegenstände aus Westeuropa, von denen ich | |
schon gesprochen habe. Es gab tumultartigen Andrang bei den Versteigerungen | |
jüdischen Eigentums. Und es wurde ausdrücklich darauf hingewiesen "aus | |
nichtarischem Besitz". Man hat das nicht verheimlicht, man konnte sich auf | |
die Bereicherungslust und auf den Antisemitismus verlassen. Jeder, der | |
etwas kaufte, bekam eine Quittung, auf der stand oft sogar: "aus dem Besitz | |
des Juden/der Jüdin" soundso, also auch noch geschlechtskorrekt. | |
Das ganze Dorf macht mit | |
Wie ausgeprägt dieser Antisemitismus war, sieht man besonders bei jenen | |
Akten, die die Versteigerungen auf dem Dorf betreffen, wo der Vorgang ja | |
nicht anonym war. Da brauchte man keinen Spediteur, die Möbel wurden auf | |
die Straße gestellt, die Wohnung leer geräumt. Alles wurde vom | |
Gerichtsvollzieher versteigert. Und es kamen dann wirklich die Nachbarn, um | |
die Habe der kurz vorher Deportierten billig zu kaufen, bis hin zu den | |
Einmachgläsern mit Inhalt. Es gibt Listen in den Akten, die zeigen, wer was | |
ersteigert hat und zu welchem Preis. Ich habe bei einem Dorf mal | |
abgeglichen, die Anzahl der Bewohner und der Käufer damals, um zu sehen, | |
wie viele Leute da nicht mitgemacht haben. Aber es hatten so gut wie alle | |
mitgemacht. Auf den Dörfern war es häufig so, dass die reicheren | |
Viehhändler Juden waren. Man hatte bei ihnen vielleicht einen Kredit | |
aufgenommen, hatte Schulden. Und da kommt auch noch so ein verquerer | |
Antikapitalismus ins Spiel, das hieß, die reichen Juden sind jetzt weg, und | |
nun können wir uns die Sachen wieder aneignen. | |
Ich mache jetzt einen Sprung. Dann, wenn man weiterblättert, wird plötzlich | |
klar, die Akte hört 1945 gar nicht auf! Das war sehr verblüffend für mich! | |
Auf den Formularen steht immer noch beispielsweise Finanzamt Grevenbroich, | |
nur das Hakenkreuz war überstempelt. Dann steht da eben nicht mehr: "auf | |
Grund des Reichsbürgergesetzes", sondern es steht nun: "auf Grund | |
alliierter Anordnung". Also die Akten umfassen den Zeitraum von der | |
bevorstehenden Deportation bis zur eventuellen Restitution, also maximal | |
etwa 15 bis 20 Jahre. | |
Und oft sind es dieselben Unterschriften. Dieselben Gerichtsvollzieher, | |
dieselben Beamten, die z. B. den alliierten Stellen vermelden, es sei durch | |
Bombeneinwirkung der gesamte Aktenbestand verloren gegangen. Oft machten | |
dieselben Beamten Arisierung und Restitution. Der Chef der | |
Oberfinanzdirektion Köln, also ein Verantwortlicher für die Durchführung | |
der fiskalischen Verfolgungs- und Ausplünderungsmaßnahmen, wurde sogar in | |
den 50er Jahren Chef des Bundesausgleichamts und war damit zuständig für | |
die "Wiedergutmachung". | |
In diesen Verfahren zur "Wiedergutmachung", das muss man sich mal | |
vorstellen, hatten die überlebenden Opfer die Beweislast zu tragen. Sie | |
mussten nachweisen, was ihnen weggenommen wurde. Bei Grundstücken kann man | |
das Grundbuchamt heranziehen. Aber bei versteigertem Hausrat? Sie hatten | |
keine Quittungen. Die lagen in der Akte. Und wenn der Gerichtsvollzieher | |
sagt, er hätte keine Unterlagen, was oft vorkam, obwohl es gelogen war, | |
dann konnten sie nichts beweisen. | |
Gesetzliches Verfahren | |
Es gibt den Fall einer jungen Frau, einer Überlebenden. Sie war als | |
Fünfzehnjährige 1942 deportiert worden. Nach Auschwitz, zusammen mit ihren | |
Eltern. Die wurden ermordet. Sie kehrt nach 1945 in ihr Heimatdorf zurück | |
und geht von Haus zu Haus - das kann man in den Akten lesen - und fordert | |
die Rückgabe des Eigentums ihrer Familie. Sie muss mutig gewesen sein. Es | |
schlägt ihr die blanke Aggression entgegen, sie wird bedroht und muss sogar | |
unter Polizeischutz gestellt werden. Sie sieht den Gerichtsvollzieher auf | |
ihrem Fahrrad herumfahren und ist wütend. Er hat es ihr natürlich | |
ausgehändigt. Dann bekam sie aber ein Schreiben von der Oberfinanzdirektion | |
Düsseldorf - das ist auch in der Akte - in dem wird sie "in schärfster Form | |
gerügt", weil sie sich ihr Recht selbst sucht und durchsetzen will. Sie | |
wird auf das "gesetzliche Verfahren" verwiesen. Es hatte und hat ja alles | |
seine Ordnung. | |
Die penible Einhaltung der Ordnung und Verordnungen bei der "Arisierung", | |
die gab es in den Ostgebieten natürlich nicht, während man in Deutschland | |
und selbst im Westen sehr darauf bedacht war, alles "ordnungsgemäß" - auch | |
so ein Lieblingswort - abzuwickeln. Ein Beispiel aus den Akten: Ein | |
Tabakhändler beglückwünscht die Oberfinanzdirektion, gibt seiner Genugtuung | |
Ausdruck, dass man diesen Juden deportiert hat, einen Großhändler, bei dem | |
er Schulden hatte, immense Schulden. Er schreibt, bei Juden, da hat man | |
immer Schulden, denn das sind ja die allseits bekannten "jüdischen | |
Machenschaften", die einen in die Schulden treiben. | |
Er bekommt aber einen reservierten Brief zurück, die Schulden seien ans | |
Reich übergegangen und er müsse sie nun ans Finanzamt bezahlen. Er schreibt | |
zurück, er sei doch schon vor 33 in der Partei gewesen! Aber vergeblich. Wo | |
käme man da hin, wenn jeder sich bedienen und plündern dürfte, es könnte | |
dann ja auch zu Übergriffen auf "arisches" Eigentum kommen. Es ging und | |
geht um die Stabilität und Legitimität der bürgerlichen Ordnung. | |
Aber die Legitimität eines Verhaltens wird eben nicht dadurch garantiert, | |
dass es legal ist. Deshalb muss man immer vom "Unrechtsstaat" reden. Ein | |
Dokument, das auch in der Ausstellung hängt, zeigt sehr schön dieses | |
Dilemma. Bei einer Gerichtsverhandlung nach 1945 schreibt ein Richter, dass | |
das Ausmaß des "gesetzlichen Unrechts" immer größer wurde. Und dann hat er | |
- denn man schrieb noch auf Schreibmaschinen - das "gesetzlich" durchgeixt | |
und hat drüber geschrieben "gesetzten", des "gesetzten Unrechts". Er konnte | |
es nicht ertragen! | |
Die Nachbarn profitierten | |
Also wenn man heute diese Akten anguckt und wenn man bedenkt, welche | |
Unsummen der Fiskus insgesamt durch die "Arisierung" eingenommen hat, durch | |
die totale Verwertung, vom Bankkonto bis hin zur Schuhbürste, alles!, dass | |
die Opfer sozusagen die Kosten für ihre eigene Deportation und letztlich | |
Ermordung selbst bezahlt haben? Und wenn man sich in den Akten anschaut, | |
wer sich was angeeignet hat? Ich sag mal, die Nachbarn direkt oder im | |
weitesten Sinne, dann wird das ganze Ausmaß der allgemeinen Bereicherung | |
deutlich. | |
Man fragt man sich auch, wie viele dieser Dinge sind heute noch im | |
Gebrauch, wurden vererbt, werden weiter genutzt, tauchen immer noch bei | |
Antiquitätenhändlern und auf Flohmärkten auf? Im Kölner Finanzamt brach | |
unter dem Andrang der Interessenten der Dienstbetrieb zusammen, es wurde | |
eine Anzeige in die Zeitung gesetzt, persönliches Vorsprechen von | |
Kaufinteressenten sei nicht möglich. Es gab sozusagen einen enormen | |
Ansturm. Auch alle möglichen Institutionen haben sich versorgt, es gibt | |
Listen der Bücher, die sich das Juristische Seminar in Bonn angeeignet hat. | |
Bibliotheken haben sich bedient, das Diakonissenheim hat sich mit | |
Einrichtungsgegenständen eingedeckt, das Waisenheim, das Schulamt, die | |
Fordwerke, Ärzte haben Mikroskope erworben, Klaviere und Flügel gingen an | |
Musikschulen oder andere Kaufliebhaber. Betuchte Interessenten erwarben | |
Gemälde und andere Kunstgegenstände. | |
Die "Ausgebombten" erhielten als Zuwendung Mobiliar und Hausrat, sie saßen | |
an Tischen und schliefen in Betten aus jüdischem Besitz. Ritterkreuzträger | |
wurden mit den edleren Stücken bedacht. Also es gab keine | |
Bevölkerungsgruppe, Berufsgruppe oder Institution, keine Schicht, die da | |
nicht gekauft und sich bereichert hätte. Immer mit dem Wissen darum, dass | |
diese Dinge aus jüdischem Besitz stammten. Und sogar die Leibwäsche der | |
Deportierten wurde genutzt. Es gibt z. B. einen Frachtbrief aus dem | |
Protektorat, aus Theresienstadt, da steht unübersehbar drin - und das hat | |
jeder Beamte, durch dessen Hände das ging, abgestempelt: gebrauchte Wäsche | |
aus jüdischem Besitz. Die wurde über viele Stationen nach Köln | |
transportiert." | |
28 Nov 2010 | |
## AUTOREN | |
Gabriele Goettle | |
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