# taz.de -- Geschädigte Kleinanlegerin Brigitte Platzek: "Ich wollte keinen Ri… | |
> Brigitte Platzek ist Mutter von 18 Kindern. Seit eine Vermögensberatung | |
> ihre Altersvorsorge mit Lehman-Aktien verzockt hat, demonstriert sie jede | |
> Woche mit anderen Geschädigten. | |
Bild: Brititte Platzek beim donnerstäglichen Demonstrieren vor einer Commerzba… | |
Brigitte Platzek, ehem. Lehrerin f. Sonderpädagogik, Hausfrau u. Mutter v. | |
18 Kindern (2 leiblichen u. 16 Pflegekindern), geb. Mai 1942 in Berlin. | |
Evakuierung mit Mutter u. Geschwistern n. Pommern, Rückkehr 1944 n. Berlin. | |
Der Vater galt seit d. letzten Kriegstagen als verschollen. Die Mutter | |
zögerte lange, bis sie ihn für tot erklären ließ. Sie brachte ihre drei | |
Kinder alleine durch, mit Hilfe der Witwen- und Kriegswaisenrente. Brigitte | |
Platzek machte 1961 Abitur, arbeitete 1 Jahr in einem Kinderheim u. begann | |
1962 eine dreijährige Sozialarbeiter-Ausbildung bei d. AWO, mit | |
anschließendem Anerkennungsjahr i. d. Säuglingsfürsorge Hermsdorf. 1966 | |
heiratete sie einen Sozialarbeiter, bekam ihr erstes eigenes Kind, nahm | |
1967 ihr erstes Pflegekind auf und bekam 1968 ihr zweites eigenes Kind. Im | |
Laufe d. Zeit folgten die anderen Pflegekinder nach, mal waren es | |
Kleinkinder, mal waren sie älter, mal war es ein Geschwisterpaar, meistens | |
kamen sie aber einzeln. Ab 1968 lebte sie mit 10 Kindern (inkl. den | |
eigenen) i. Albert-Schweitzer-Kinderdorf, Berlin-Gatow. 1972 Umzug d. | |
Großfamilie ins eigene Haus in Frohnau. 1971 hatte sie nebenbei ein Studium | |
f. d. staatl. Lehramt a. d. Pädagogischen Hochschule Berlin begonnen, | |
Abschluss 1974/75. Der Mann verließ die Familie, danach Scheidung. Nach | |
einer Pause zu Hause u. weiteren vier Semestern Sonderpädagogik wurde sie | |
Lehrerin a. d. Schule f. Lernbehinderte i. Märkischem Viertel. Danach a. d. | |
heilpädagogischen Schule d. Kinder- u. Jugendpsychiatrie Wiesengrund bis zu | |
ihrer Pensionierung i. Jahr 2000. Eines ihrer Pflegekinder, heute ein | |
junger Mann, lebt noch bei ihr. | |
Manchmal kann man betrachten - so am Beispiel von Frau Platzek - wie die | |
Erschütterungen der Weltereignisse sich bis in einen weit entfernten | |
stillen Winkel hinein auswirken. | |
Kurz vor dem Bankrott im September 2008 bekam die US-Bank Lehman Brothers | |
noch eine Genehmigung für den lukrativen Uranhandel und hat zu | |
Spekulationszwecken 230 Tonnen des zur Neige gehenden Materials gekauft. | |
Seit der Explosion im japanischen Atomkraftwerk Fukushima am 12. März 2011 | |
und dem drohenden Super-GAU "rauschten die Uranpreise in den Keller", so | |
die Formulierung der Financial Times. Damit schwindet automatisch der Wert | |
der Lehman-Konkursmasse und damit auch die Chance der vielen Kleinanleger - | |
die vom Uranhandel gar nichts wissen -, eines Tages aus dieser Konkursmasse | |
doch noch eine Entschädigung zu erhalten. | |
Auch Frau Platzek - die wir bei der Berliner Interessengemeinschaft der | |
Lehman-geschädigten Kleinanleger kennen lernten - hoffte auf Entschädigung, | |
als sie 2009 eine Forderung beim zuständigen Insolvenzgericht in New York | |
angemeldet hat. | |
Elisabeth Kmölniger und ich besuchen sie in ihrem Haus in Frohnau und | |
werden, obwohl ich mich im Datum geirrt habe und wir um einen Tag zu früh | |
kommen, spontan und herzlich hereingebeten. Man merkt ihr immer noch die | |
lässige Improvisationskunst an, über die eine allein verantwortliche Mutter | |
von 18 Kindern verfügen muss. Im großen und stillen Wohnzimmer allerdings | |
deutet nichts mehr auf das einstmals so belebte Haus hin. Der Flügel steht | |
wie unberührt da, ein Esstisch blieb übrig und durch die große Glasscheibe | |
blickt man in den weiten, noch winterlichen Garten, aus dem Sandkästen und | |
Spielgerät längst verschwunden sind. | |
Frau Platzek schenkt uns Tee ein und sagt: "Ich gehe zwar jeden Donnerstag | |
demonstrieren, vor der Commerz- und vor der Targobank, aber eigentlich nur | |
aus Solidarität mit der Gruppe. Bei mir ist das anders als bei den anderen | |
Geschädigten. Mich hat nicht eine Bank falsch beraten, sondern die | |
Vermögensberatung hat Schuld. Die hätten für mich, weil's ja für die | |
Altersvorsorge war, gar keine Risikopapiere kaufen dürfen. Es ist | |
kompliziert, ich verstehe es ja selber kaum, aber ich versuche mal, Ihnen | |
zu erklären, wie das kam. | |
Ich hatte vorher Geld angelegt, einen allmählich, über viele Jahre zusammen | |
gesparten Betrag, hier bei der Volksbank, weil ich die in der Nähe hatte. | |
Und da habe ich damals einen großen Verlust erlitten, ich glaube das war | |
mit ,neuen Medien', oder ,Märkte', oder wie das hieß. Es war 2002, ich | |
müsste nachsehen. Ich habe mich nie um Bankgeschäfte gekümmert, weiß gar | |
nicht, worauf das zurückzuführen war, dieser Verlust. Weil einfach mein | |
Leben anders verlaufen ist und die Schwerpunkte anders gesetzt waren. Ich | |
hatte aus familiären Gründen einfach gar keine Zeit, mich da | |
reinzuarbeiten. Deswegen habe ich das dann der Volksbank weggenommen und | |
bin zu einer privaten Vermögensberatung gegangen. Auf die bin ich durch | |
unsere Frauengruppe hier gekommen, jemand dort hatte sie mir empfohlen. | |
Meine Aktienfonds und das alles wurden auf diese Vermögensberatung | |
übertragen. Und es wurde dann auch die Bank gewechselt. Denn eine | |
Vermögensberatung ist ja keine eigene Bank, sie arbeiten mit einer Bank | |
zusammen, die dann die Anweisungen ausführt und wo man sein Depot hat. Das | |
war damals so ein Wert von etwas über 300.000 Euro, ich müsste nachgucken. | |
Die Vermögensberatung hat dann jedenfalls alles für mich übernommen. | |
Moment, ich hole mal die Ordner, damit ich nachsehen kann, ich habe das ja | |
nicht alles im Kopf." | |
Sie kommt mit zwei dicken Ordnern, blättert, liest vor und legt sie | |
seufzend zur Seite. "Sehn Sie, da habe ich das abgeheftet, Depotübersicht, | |
Allianz, Metro, Hannover-Hypotheken, Thyssen, Krupp, Daimler, Bechstein, | |
Euro-Stock usw. Moment, wo ist denn Lehman? Ach hier! Hier die | |
Vermögensübersicht. Und hier hinten sind die Schreiben der | |
Vermögensberatung. Also das war 2001, als ich da hin ging. Ich hatte denen | |
gleich beim ersten Gespräch gesagt, dass ich nichts verstehe von diesen | |
Banksachen. Dass ich aber das Geld sicher angelegt haben will, weil ich es | |
für die Altersversorgung brauche und es auch an meine vielen Kinder | |
weitergeben will. Ich hatte den Eindruck, ich kann den Leuten mein | |
Vertrauen schenken und habe der Vermögensverwaltung freie Hand gegeben. Es | |
wurde abgemacht, per Vollmacht, dass sie, als Fachleute sozusagen, auf | |
eigene Initiative für mich anlegen. So, wie sie es für richtig halten. | |
Ich wurde ab und zu informiert über Käufe und Verkäufe, wobei ich nie über | |
einen Kauf beraten worden bin, oder Verkauf. Und man hat ja heute nichts | |
Materielles mehr in der Hand, so wie in früheren Zeiten, als es diese | |
gedruckten Aktien mit den Bildern gab. Man konnte mal alte bei Lidl kaufen, | |
daher kenne ich die. Ich habe nur meine Auszüge und Abrechnungen gekriegt | |
und alles gesammelt. Hier, in diesen weißen Ordnern. Die haben sie mir | |
jedes Jahr gegeben, mit einer Registratur, damit ich weiß, wo ich was | |
abzuheften habe. Das hört sich jetzt ganz dumm an, aber so war es. Ich habe | |
da nie groß was kontrolliert, sondern darauf vertraut, dass alles seine | |
Ordnung hat, dass es sicher angelegt wird. | |
## Lehman-Zertifikate für 70.000 Euro | |
Nur einmal habe ich selbst einen Vorschlag gemacht, und darum gebeten, dass | |
sie, obwohl sie mir davon abgeraten haben, 100 Bechstein-Aktien kaufen. | |
Meine Kinder haben ja immer viel Musik gemacht. Unter Bechstein konnte ich | |
mir wenigstens was vorstellen. Was ich da verdient habe, war nicht so doll, | |
aber ich hatte auch keinen Verlust. Ich wollte ja gar nicht den | |
Riesenprofit! Das behaupten sie heute, um zu begründen, warum sie diese | |
Lehman-Zertifikate gekauft haben für mich. 2007 bin ich so zu diesen | |
Lehman-Papieren gekommen, ohne zu wissen, was da gekauft wurde. Ich bekam | |
nur die Nachricht von der Bank, dass sie auf Anweisung der | |
Vermögensberatung die Aktien, oder Zertifikate oder was, gekauft haben, | |
schrittweise. Insgesamt war das dann für 70.000 Euro. In der | |
Steuererklärung war das unter ,ausländisch' eingetragen. Aber dass das in | |
Holland war, eine Firma, die da vorgeschaltet wurde, habe ich auch erst | |
später erfahren. | |
Ja und diese 70.000 Euro, die habe ich auf einen Schlag verloren, im | |
September 2008, bei der Pleite der Lehman Bank. Ich habe den Kontoauszug | |
dann von meiner Bank geschickt bekommen, da stand bei Lehman überall eine | |
Null! Ein viertel Jahr vorher bekam ich von der Vermögensberatung noch | |
einen Brief. Sie blättert und liest vor: ,Sehr geehrte Frau Platzek. Wir | |
gehen davon aus, dass die Krise noch nicht ganz ausgestanden ist, halten | |
aber Verkäufe im größeren Stil zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr für | |
angemessen. Wir schlagen daher vor, die Positionen auszusitzen.' Und der | |
nächste Brief ist dann vom September: ,Sehr geehrte Frau Platzek. Nun ist | |
es also doch passiert. Was wir noch in unserem Schreiben vom 30.06.2008 | |
nicht für möglich gehalten hätten, ist wahr geworden. Aus einer letztlich | |
regelbaren Krise ist durch zögerliches Verhalten, unnötige politische | |
Diskussionen und schlichte Fehlentscheidungen die größte Finanzkrise in der | |
Nachkriegsgeschichte geworden. Wir konstatieren den vollständigen | |
Zusammenbruch des Interbankengeldmarktes. Was fängt ein Berater in Sachen | |
Kapitalmärkte mit einem Szenario an, in dem die Portfolios | |
zusammengeschmolzen sind und der Glaube an die Kapitalmärkte bei vielen | |
Anlegern zerstört ist? Wir sind dabei, so schnell wie möglich, eigene | |
Szenarien zu entwickeln, wie wir die Portfolios unserer Anleger aus den | |
erreichten Tälern heraussteuern können. Mehr denn je glauben wir deshalb | |
für die Zukunft an Diversifikation in Sachwerte, in Produktivkapital und in | |
Geldwertforderungen. Berlin, den 21. Oktober 2008.' Und schaun Sie mal, die | |
schwungvollen Unterschriften. | |
Ich bin dann wieder weggegangen von dieser Vermögensberatung. Habe eine | |
Klage laufen wegen ,Schadensersatz aus fehlerhafter Anlageberatung', denn | |
sie hätten mir, wie gesagt, für die Altersversorgung ja gar keine | |
Risikopapiere kaufen dürfen! Das habe ich alles erst in der Initiativgruppe | |
der Geschädigten erfahren. Jetzt bin ich bei einer Direkt- Bank, die haben | |
beim Thema Vermögensberatung in Finanztests gut abgeschnitten, schrieb der | |
Tagesspiegel. | |
Zum Glück war ich wenigstens nicht vollkommen mittellos. Es hat mich nicht | |
so hart getroffen wie manche Leute, von denen ich gehört habe. Bei mir sind | |
auch andere Prioritäten, nicht nur, was Geld überhaupt anbelangt. Ich | |
kriege meine Pension inzwischen von meinem Lehrergehalt, es ist nicht sehr | |
viel, aber ich kann davon leben. Zumal ich ja bald alleine bin, wenn mein | |
letzter Sohn das Haus verlässt." | |
Wir bitten Frau Platzek, uns zu erzählen, wie sie zu dieser Unmenge von | |
Kindern kam. | |
"Na ja, es waren nie mehr als 10 gleichzeitig. Es kam auf Betreiben meines | |
Mannes eigentlich, er kam aus einer kinderreichen Familie. Ich war von | |
meiner Mutter her daran gewöhnt, man bleibt bei den Kindern zu Hause. 1966 | |
bekam ich mein erstes Kind, unseren Sohn. Aber für ein einziges Kind zu | |
Hause bleiben? Da sagte meine anleitende Sozialarbeiterin in der | |
Säuglingsfürsorge: ,Dann nehmen sie doch noch eins dazu! Wir haben hier | |
einen Vierjährigen, ohne Kontakt zur Mutter.' Und den haben wir dann 1967 | |
als Pflegekind genommen, obwohl sich inzwischen herausgestellt hatte, dass | |
ich wieder schwanger war. Und Januar 1968 wurde unser zweites leibliches | |
Kind, unsere Tochter, geboren. Ich hatte noch ein bisschen Vertretung | |
gemacht, aber dann bin ich zu Hause geblieben. Wir haben damals natürlich | |
nicht geplant, das wir mal so viele haben würden. Aber eben durch meine | |
Kontakte kam es dann dazu, dass die immer fragten: ,Könnt ihr nicht den | |
nehmen, da ist die Mutter plötzlich verstorben. Man kannte ja die Fälle und | |
Schicksale und sie tun einem dann ja auch leid. Man will sie nicht in | |
Heimen untergehen lassen. Sozusagen über Nacht kam ein Geschwisterpaar dazu | |
wegen sexuellem Missbrauch. Da waren es plötzlich sechs. | |
## Eine Art Vorzeigefamilie | |
In der kleinen Dreizimmerwohnung wurde es zu eng, und da war eine Annonce | |
im Tagesspiegel, dass ein Albert-Schweizer-Kinderdorf in Gatow Eltern | |
sucht. Und da sind wir dann mit den sechs Kindern eingezogen im Sommer | |
1968. Wir hatten dort ein Haus. Sie waren ausgerichtet auf acht Kinder - | |
die eigenen wurden nicht mitgerechnet -, also bekamen wir noch vier dazu | |
und hatten dann plötzlich zehn Kinder. Unsere Pflegekinder, die wir | |
mitgebracht hatten, verloren dort ihren Status und wurden zu betreuten | |
Heimkindern, vom Bürokratischen her. Für die acht ,Heimkinder' bekamen wir | |
jeden Monat Geld. Ich musste mit 2.000 Mark im Monat auskommen, nicht nur | |
für Ernährung, auch Kleidung, Spielsachen, Waschpulver, Reparaturen, | |
Fensterputzer usw. musste ich davon bezahlen. Das war fast unmöglich. Wir | |
hatten immer Praktikanten, die fragten, welches sind denn ihre eigenen | |
Kinder? Ich sagte, raten sie mal. Fast immer lagen sie falsch. Wir waren | |
durch unsere Größe so eine Art Vorzeigefamilie. Wir hatten auch eine sehr | |
gute junge Hauswirtschafterin, die konnte wunderbar mit den Kindern, hat | |
Marzipankartoffeln gemacht und alles. Sie war übrigens vorher bei der | |
Schauspielerin Anita Kupsch - die kennen sie vielleicht aus den 80er | |
Jahren, da hat sie die Arzthelferin in der Fernsehserie "Praxis Bülowbogen" | |
gespielt. | |
Es war an sich eine wunderbare Zeit, wäre da nicht dieser ganze | |
Verwaltungskram gewesen. Ich war nur dabei, das Haushaltsbuch zu führen. | |
Mein Mann konnte mir da auch nicht groß helfen, er zählte gar nicht mit. | |
Bezahlt wurde nur ich, die Mutter. Er ging tagsüber zur Arbeit, war ja | |
Sozialarbeiter, und kam abends nach Hause. Eben wie ein ganz normaler | |
Familienvater. Das wurde dort so gefordert. Und nach etwa drei Jahren wurde | |
dieses Geschwisterpaar - gegen meinen Wunsch - wieder zum Vater gegeben. | |
Der war ein hohes Tier, der mit dem sexuellen Missbrauch, ja, er hat wieder | |
geheiratet. Die siebte Frau, und die Rückkehr der Kinder durchgesetzt. Wir | |
hätten dann im Kinderdorf zwei neue Kinder dazunehmen müssen, aber da haben | |
wir gesagt, das widerstrebt uns, wir wollen Familie sein und nicht gleich | |
die Betten, die noch warm sind, wieder auffüllen! Das war für uns der | |
Grund, das Kinderdorf zu verlassen. Wir haben das Haus in Frohnau gebaut, | |
1972 sind wir dann hier eingezogen, mit allen unseren acht Kindern. | |
Ach so, ich habe, noch im Kinderdorf, ein Pädagogikstudium an der PH | |
aufgenommen. Das konnte ich gut am Vormittag machen, wenn die Kinder | |
untergebracht waren. Hier habe ich das fortgeführt und 1974/1975 beendet. | |
Zum Glück habe ich das gemacht, denn mein Mann hat mich dann so zwei Jahre | |
nach dem Einzug in unser Haus verlassen. Er hat beim Sozialamt gearbeitet | |
und wollte abends seine Ruhe. Ich weiß noch, ich musste eines der Kinder | |
zur Chorprobe fahren und mein Mann sollte mich vertreten beim Elternabend. | |
Er wollte nicht und ich konnte nicht. Als ich zurückkam, war er ausgezogen. | |
Einfach so. Er war völlig überfordert und auch psychisch krank. Einmal kam | |
er zurück, das ging aber nicht gut. Sogar die Kinder wollten ihn nicht | |
mehr. Ich habe abends noch Wäsche zusammengelegt, da kam die Kleine, weinte | |
und sagte: ,Der Papa soll wieder weggehen.' Wir haben uns dann scheiden | |
lassen. Viel hatte sich eigentlich nicht geändert, denn ich habe ja vorher | |
schon fast alles alleine gemacht. | |
Das Jugendamt hat natürlich nachgefragt, ich war dort zu einem Gespräch, | |
aber die kannten mich ja gut, wussten, ich habe es bisher auch alleine | |
bewältigt, als er noch zu Hause wohnte. Also es gab damals nie ein Problem | |
mit dem Jugendamt. Es hat mich ein Lächeln gekostet, sie haben das Geld | |
bewilligt, wenn was kaputt gegangen war zu Hause, wenn eine Chorreise nach | |
Japan gemacht wurde. Die Zusammenarbeit war sehr gut. Dann war ich also | |
eine Weile zu Hause bei den Kindern, es wurde aber finanziell etwas | |
schwierig. Ich bekam neben dem Pflegegeld so eine Art Erziehungsgeld, eine | |
Vergütung pro Kind. Aber ich wollte unbedingt mein eigenes Einkommen haben. | |
Nicht, dass mir jemand vorwirft, ich würde vom Pflegegeld meiner Kinder | |
leben. Darum ging es mir nie, ich wollte mit den Kindern einfach nur | |
Familie sein. Der Direktor einer Hauptschule, wo ich mal Praktikum gemacht | |
hatte, war inzwischen Schulrat. Durch seine Vermittlung bekam ich dann sehr | |
schnell eine Stelle an der Sonderschule für Behinderte im Märkischen | |
Viertel und habe meine 2. Lehrerprüfung gemacht. Mein Direktor hat mich | |
dann überredet, noch eine Sonderschulausbildung zu machen. Ich wurde vom | |
Unterricht freigestellt und habe noch vier Semester Sonderpädagogik | |
drangehängt. | |
Alles nebenbei, am Vormittag, wenn die Kinder ohnehin in die Schule gingen. | |
Die waren ja nun auch schon größer. Aber es kamen im Laufe der Zeit immer | |
noch welche hinzu. Ums Putzen und Kochen musste ich mich nicht kümmern, wir | |
hatten unsere Haushälterin mitgenommen aus dem Kinderdorf. Wenn mal eins | |
krank wurde, war jedenfalls immer jemand da. Nachmittags habe ich mit den | |
Kindern Aufgaben gemacht. Also ich war sieben Tage die Woche rund um die | |
Uhr beschäftigt. Ich hatte nie die Zeit, jemals allein eine Kur oder | |
Erholungsferien zu machen. Aber ich habe es auch nicht vermisst. Meine | |
Erholung waren eigentlich meine Kinder. Das waren schon prima Kinder. Wir | |
haben zusammen Reisen gemacht, nach Finnland und Ungarn, mit dem | |
Jugendherbergswerk. Auch privat, ins Disneyland nach Paris, mit dem Bus. | |
Und sogar zwei Schiffsreisen haben wir gemeinsam gemacht. Sie hatten viel | |
Freiraum und Gelegenheit, Erfahrungen zu sammeln. | |
## Studium für eigene Einkommen | |
Ich bin dann, als ich die Sonderschulausbildung fertig hatte, in den | |
,Wiesengrund' gegangen. Da war einerseits eine Klinik für Kinderpsychiatrie | |
und daneben eine heiltherapeutische Abteilung, also für die Zeit danach, wo | |
erst mal die Kinder gesammelt wurden, bis sie nach Hause kamen oder in ein | |
Heim. Für den ganzen Komplex gab es eine eigene Heimschule. Da hatten wir | |
also alle Kinder, von der 1. bis zur 10. Klasse, wir hatten sogar | |
Gymnasiallehrer. In der Wiesengrundschule habe ich dann gearbeitet bis zu | |
meiner Pensionierung, 2001 war das, glaube ich. Und bis dahin waren dann | |
allmählich auch alle Kinder aus dem Haus, bis auf einen, der heute noch da | |
ist. Und meinen sie, als 2007 mein 40-jähriges Jubiläum als Pflegemutter | |
war, dass das Bezirksamt da mal irgendwas gemacht hätte? Nein! Zum | |
20-jährigen Jubiläum hatte man mir noch einen KPM-Teller als kleine | |
Anerkennung geschenkt. | |
Ist mir nun auch egal. Wichtig waren mir nur meine Kinder. Alle. Ich habe | |
nie einen Unterschied zwischen meinen eigenen und meinen Pflegekindern | |
gemacht. Ich war zu allen gleich, war konsequent, aber nicht streng. So | |
viele Geschwister erziehen sich sozusagen gegenseitig. Die Kinder | |
untereinander - wir hatten immer mehrheitlich Jungs - sind gut miteinander | |
umgegangen, bis auf so die üblichen kleinen Streitereien. Ich habe nie | |
Zwang ausgeübt. Zwang hatten viele schon genug erlebt. Sie hatten irgendwie | |
eine gute soziale Kompetenz, fast alle Kinder waren Vertrauensschüler. Wo | |
es in anderen Familien Probleme gibt, mit Hausaufgaben, Tisch decken usw., | |
das wurde bei uns einfach so gemacht. Jeder hat was beigetragen, hat | |
geholfen und alles war schnell fertig. Auch die Gartenarbeit. Wir hatten | |
ein Schwimmbecken im Garten, da haben sie schwimmen gelernt und konnten | |
toben im Sommer. Es war die Aufgabe der Jungs, das sauber zu halten. | |
Inzwischen ist es zugeschüttet. Samstags hat der Älteste eingekauft und am | |
Wochenende war er mit Kochen dran. Wochentags hatten wir ja die | |
Wirtschafterin, und ich habe in der Schule unterrichtet, danach war ich für | |
alle da. Also die Kinder waren wirklich Kinder, hatten ihre Freunde, ihren | |
Sport, ihre Musik. | |
Musik und Pädagogik haben bei unserer Familie immer einen großen | |
Stellenwert gehabt. Alle meine Kinder, bis auf eines, haben mindestens ein | |
Musikinstrument spielen gelernt. Wir alle haben uns viel Mühe gegeben mit | |
dem Musikunterricht und mit dem Üben. Mein Mann hat den Grundstock gelegt, | |
er hat Geige gespielt, aber dann war er ja weg. Die Kinder, die später | |
kamen, haben es bei den anderen gesehen und wollten das dann auch. Einige | |
spielten Geige, mehrere spielten Klavier, einen Trompeter hatten wir, | |
Altflöte, Cello, zwei waren darüber hinaus auch noch im Staats- und Domchor | |
- also das ist ein ganz alter und sehr renommierter Berliner Knabenchor. | |
Dann gab es aber gleichzeitig natürlich auch den Fußballverein usw. neben | |
der Musik. Aber insgesamt habe ich den Eindruck, dass besonders die Musik | |
den Kindern sehr geholfen hat, ihre schlechten Erfahrungen als Kleinkinder | |
halbwegs zu bewältigen. Zu meinem 50. Geburtstag haben meine Kinder für | |
mich Leopold Mozarts Kindersymphonie aufgeführt. Ganz professionell. | |
Stellen Sie sich das mal vor, es war ihre eigene Idee. Ich fühlte mich | |
ungeheuer geehrt. Es war beglückend, diese Kinder zu haben. | |
Sie haben alle ein ganz schweres Schicksal gehabt. Aber sie haben aus ihren | |
Möglichkeiten sehr viel gemacht. Der H. zum Beispiel, mein erstes | |
Pflegekind, war vorher in fünf verschiedenen Kinderheimen, war schwer | |
hospitalisiert und galt als geistig behindert. Aber wir waren naiv und | |
haben gesagt, nö! Das waren die 60er Jahre, alles war möglich! Der hat das | |
Neue aufgesogen wie ein Schwamm und hat innerhalb kurzer Zeit riesige | |
Fortschritte gemacht. War in der Schule gut, hat Cello gelernt und Klavier, | |
war im Chor. Hat dann später selbst mehrere Chöre übernommen. Heute ist er | |
in einer leitenden Stellung. | |
Ein anderer, der M., der war auch ganz musikalisch. Er bekam leider mit | |
Anfang zwanzig noch eine Epilepsie, unter der er sehr gelitten hat. Er war | |
von klein auf lernbehindert, aber sehr fleißig. Wir haben zusammen Gedichte | |
und anderes geübt, indem wir den Text einfach zu einer bekannten Melodie | |
gesungen haben. Er wollte immer arbeiten, hat dann eine Fleischerlehre | |
gemacht und am Ende sogar im zweiten Anlauf seine Gesellenprüfung | |
geschafft. Jeden Abend haben wir dafür gelernt. | |
Oder ein Mädchen, das wir im Kinderdorf bekommen haben mit fast 14. Eine | |
ganz Liebe. Sie hat Realschulabschluss gemacht und wurde Erzieherin. Heute | |
ist sie Leiterin einer Kindereinrichtung. | |
Das sind jetzt nur ein paar Beispiele. Es hat sich gezeigt, die, die bis | |
zur Selbstständigkeit bei mir waren beziehungsweise ihre Ausbildung | |
abgeschlossen haben, die haben später ihren Weg gemacht. Mit den meisten | |
habe ich regelmäßig Kontakt. | |
Meine eigenen Kinder haben auch ihren Weg gemacht, meine Tochter hat Musik | |
studiert, und mein Sohn ist Sozialversicherungs-Fachangestellter im | |
öffentlichen Dienst. | |
Der wahrscheinlich anstrengendste Junge von allen ist D., der jetzt mit 24 | |
noch bei mir lebt. Er kam aus dem Wiesengrund. Aus dem Wiesengrund haben | |
wir zwei Kinder aufgenommen. Er war damals sechs und ein ganz Armer. Ich | |
konnte ihn erst mit neun einschulen lassen. Bei der Schulpsychologin gab es | |
so eine Babypuppe im Puppenbett. Da fütterte er die Puppe durch die | |
Gitterstäbe hindurch und ich sagte: ,Nimm doch das Baby auf den Arm.' Aber | |
er kannte das nur so. Es hatte sich dann zufällig herausgestellt, die | |
Eltern haben die Kinder total vernachlässigt und verwahrlosen lassen. Die | |
wurden alle drei in einem einzigen Gitterbett eingesperrt, Deckel drauf und | |
fertig. Da saß der D. drin mit seinen kleineren Brüdern, die fast noch | |
Babys waren, und mit denen er auch nicht kommunizieren konnte. Er hat sich | |
durch Treten und so was zur Wehr gesetzt. Also grauenhaft! | |
## Pflegesohn D. aus Verwahrlosung gerettet | |
Wie er in die Wiesengrund-Klinik kam, weiß ich jetzt gar nicht, jedenfalls | |
haben sie sich gewundert, warum der Junge keine ausgebildeten Muskeln hat. | |
Durch dieses Eingesperrtsein konnte er mit sechs Jahren, als ich ihn nahm, | |
nicht laufen und nicht sprechen. Er wollte entweder auf meinem Schoß | |
sitzen, oder er hat eine Spur der Verwüstung hinter sich gelassen. Er war | |
immer sehr schwierig und ist es noch. Er macht alles von jetzt auf gleich, | |
wenn es ihm einfällt, fährt er mit der Bahn nach Ludwigslust, weil ihm der | |
Name gefällt. Ich musste ihn sogar mal aus Kassel abholen oder aus Cottbus. | |
Er muss durchweg kontrolliert werden, ich muss ihn mit allem versorgen. Er | |
kann nicht selbstständig leben. Aber ich schaffe es auf Dauer nicht. | |
Demnächst wird er in ein Heim nach Bayern gehen. | |
D. spielt als einziger kein Instrument, er hat es mit Klavierspielen | |
versucht und konnte sich überhaupt nicht konzentrieren. Aber mit ihm können | |
sie ins Konzert gehen, in die Oper. Er liebt die Oper und er kennt sich | |
aus, kann zum Beispiel - rein vom Hören her - die russische Opernsängerin | |
Anna Netrebko von anderen Sopranistinnen unterscheiden. Oder auch in der | |
Kunst kennt er sich aus, mag Picasso. Aber das ist alles nur angelernt, da | |
ist ansonsten keine Empathie. Die hat man ihm zerstört. Durch diese | |
Misshandlungen ist sehr viel kaputt gegangen. | |
Er ging in eine Schule für geistig Behinderte und die haben es eigentlich | |
gut geschafft. Da war er bis ungefähr 21 und jetzt arbeitet er in einer | |
Werkstatt für geistig Behinderte, ganz hier in der Nähe. Er kann mit Geld | |
nicht umgehen, kauft Babyklappern oder sonst einen Unsinn. Ärger habe ich | |
aber besonders mit dem Amt. Er bekommt Grundsicherung. Grade jetzt war es | |
so, dass D. fünf Monate gearbeitet hat, ohne Geld zu verdienen. Sie hatten | |
das vergessen zu überweisen bei der Behindertenwerkstatt. Dann haben sie | |
alles auf einmal überwiesen, und das hat, bis auf wenige Cent, das | |
Sozialamt einbehalten, weil es ja eigenes Einkommen war, das auf die | |
Grundsicherung angerechnet wird. | |
Demnächst, wie gesagt, geht er weg, und er will auch weg! Was ich machen | |
werde, wenn ich alleine bin? Vielleicht mache ich eine | |
Frauenwohngemeinschaft auf? ( Sie lacht). Und ich kümmere mich ja noch um | |
den dementen Herrn Hausmann hier, er war Professor für Mathematik und | |
Physik und ist der Neffe von Manfred Hausmann. Mit dem mache ich | |
Arztbesuche usw. Und dann ist da das alte Ehepaar in der Nachbarschaft, dem | |
ich helfe. Er hat Alzheimer und sie hat MS. Unlängst ist er noch mit dem | |
Auto vorn bis zum Platz gefahren mit ihr zum Einkaufen. Sie hat immer | |
gesagt, nun rechts, nun links, hier einparken. Das ging automatisch. Aber | |
das ist zu gefährlich! Ich habe ja ein Auto und bringe ihnen mit, was sie | |
so brauchen. | |
Aber einsam wird man nicht, wenn man so viele Kinder hat und 14 | |
Enkelkinder. Die wissen gar nichts von dem Geld. Einige verdienen nicht so | |
üppig, die können Unterstützung gut brauchen. Deshalb kämpfe ich auch um | |
das Geld für die zu Unrecht gekauften Lehman-Papiere. Ende März ist die | |
Verhandlung, aber viel Hoffnung habe ich leider nicht." | |
28 Mar 2011 | |
## AUTOREN | |
Gabriele Goettle | |
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