# taz.de -- Eugen Ruge über die DDR: „Wir waren keine Deutschen“ | |
> Ostdeutsche vermissen Ostdeutschland: Der Schriftsteller Eugen Ruge im | |
> Gespräch über Stalinismus, Verlust und heutige Befindlichkeiten im Osten. | |
Bild: „Was nicht zusammengehört, muss auch nicht zusammenwachsen“ – Euge… | |
taz am wochenende: Herr Ruge, 50 Tage zusammensitzen und dann nicht fähig | |
sein, eine Regierung zu bilden, das hätte es in der DDR nicht gegeben, | |
oder? | |
Eugen Ruge: Das hätte es nicht gegeben, natürlich nicht. Aber ich hoffe, | |
Sie erwarten jetzt nicht einen Kommentar zur geplatzten Jamaika-Koalition. | |
Hätten Sie denn einen? | |
Also Willy Brandt hat ja immer gesagt, es soll zusammenwachsen, was | |
zusammengehört. Ich würde sagen, was nicht zusammengehört, muss auch nicht | |
zusammenwachsen. | |
Welchen Ruf hatten die Liberal-Demokraten in der DDR? | |
Die aus dem Westen wie Genscher waren schon vor dem Mauerfall bekannte | |
Figuren. Die Liberaldemokraten der DDR hatten als Blockpartei praktisch | |
keine Bedeutung. Wurde man getriezt, wie mein Abteilungsleiter am Institut | |
für Physik, und hatte keine Lust auf die Partei (die SED), dann trat man | |
eben der LDPD bei. Und konnte sagen: Wieso, ich bin doch in einer | |
Blockpartei, das ist doch damit erledigt. Ich selbst habe übrigens auf die | |
beim Einstellungsgespräch gestellte Frage, ob ich mir vorstellen kann, in | |
die Partei eintreten zu können, geantwortet, dass ich leider mit einigen | |
Statuten der SED nicht einverstanden sei. Eingestellt wurde ich trotzdem. | |
Herr Ruge, Ihr Vater verbrachte 15 Jahre im Gulag und Verbannung in der | |
Sowjetunion, bevor er 1956 „rehabilitiert“ und in die DDR ausreisen durfte, | |
wie kam es dazu? | |
Mein Vater war insgesamt 25 Jahre in Russland, davon 15 Jahre in | |
Arbeitslagern und Verbannung. Er ging freiwillig als junger Kommunist 1933 | |
in die Sowjetunion. Er wurde dann 1941 nach dem Überfall der Deutschen auf | |
die Sowjetunion deportiert, zunächst nach Kasachstan. Er hat vier Jahre als | |
Arbeitsarmist in gulagähnlichen Zuständen verbracht. Und dann noch elf | |
zermürbende Jahre in der Verbannung. Der Krieg war aus, die DDR gegründet, | |
und die ehemaligen Arbeitsarmisten hingen in der Verbannung fest. | |
Warum wurde er interniert? | |
Das gab es auch in Frankreich oder England, dass Deutsche, auch | |
Antifaschisten, bei Kriegsbeginn in Lager kamen. Aber nicht unter so | |
schrecklichen Bedingungen wie in der Sowjetunion. Während des Krieges haben | |
in der Sowjetunion viele gehungert, nicht nur die Arbeitsarmisten, aber die | |
besonders. Sich in Sibirien in einem Holzfällercamp wiederzufinden war | |
sehr, sehr hart. | |
Ihr Vater erzählt davon in „Gelobtes Land. Meine Jahre in der Sowjetunion“. | |
Zielten diese Lager auf den Tod der Insassen durch Arbeit? | |
Sklavenähnliche Zwangsarbeit, so würde ich es formulieren. Es war ein | |
brutaler Umgang mit Ressourcen, Leben und menschlicher Arbeitskraft. Aber | |
Ziel war nicht, die Leute wie in den deutschen Vernichtungslagern | |
umzubringen. Eine dramatisch hohe Zahl von Menschen ist in den sowjetischen | |
Arbeitslagern in den Kriegsjahren zugrunde gegangen. Es waren unglaublich | |
schwierige Bedingungen, es gab kaum zu essen, 500, 600 Gramm Brot bei | |
Normerfüllung, von da an abwärts. | |
Ihr Vater, Wolfgang Ruge, starb im Dezember 2006. Er wurde nach seiner | |
Rückkehr aus der Sowjetunion ein anerkannter Historiker der DDR. Trotz der | |
traumatischen Erfahrungen mit dem Stalinismus ging er 1956 nicht in den | |
Westen, warum nicht? | |
1956, zwei Jahre nach Stalins Tod und Chruschtschows berühmter Rede zur | |
Entstalinisierung, konnte man zu der Überzeugung gelangen, dass nun die | |
Zeit des demokratischen Sozialismus anbricht. Darauf hoffte mein Vater. Er | |
war und blieb ja Kommunist. Im Gegensatz zu vielen anderen hielt er den | |
Stalinismus immer schon für verbrecherisch. Von der Hoffnung auf einen | |
demokratischen Sozialismus hat er sich aber erst nach und nach | |
verabschiedet. | |
Auf einer [1][Veranstaltung zum 100. Geburtstags Ihres Vaters] in der | |
Berlin-Brandenburgischen Akademie haben Sie jetzt von der sozialistischen | |
List gesprochen, die es brauchte, um im System der DDR als Historiker | |
abweichende Meinungen in den Diskurs einzuschmuggeln. Was meinten Sie | |
damit? | |
Ich glaube, ich sprach von „parteitaktischer Schlauheit“. Dazu eine | |
Anekdote, die ich für glaubwürdig halte: Ernst Engelbert, der zeitweise der | |
Chef meines Vaters war, schrieb Kurt Hager, dem Chefideologen der SED, eine | |
Passage in eine seiner Grundsatzreden. Er beriet sich mit meinem Vater | |
darüber. Mein Vater sagte zu Engelbert: Schreib doch einfach rein, dass | |
Biografien bürgerlicher Personen für die DDR-Wissenschaft von Bedeutung | |
sind. Engelbert, der selbst vorhatte, eine große Bismarck-Biografie zu | |
schreiben, tat das. Und mein Vater hielt dann seinem Verlag die Hager-Rede | |
vor die Nase, um sein Interesse für bürgerliche Politiker zu rechtfertigen. | |
Er schrieb dann über Stresemann, Erzberger oder Hindenburg. Der Kampf um | |
Themen und ideologische Grenzen wurde in der DDR nicht offen ausgetragen, | |
sondern auf indirekte Weise. Das meint „parteitaktische Schlauheit“. | |
Ihr Vater war dennoch kein Oppositioneller, wie würden Sie sein Verhältnis | |
zum Staatssozialismus der DDR charakterisieren? | |
Ein unfreiwillig sich Anpassender. Er hat innerhalb des Rahmens versucht, | |
Terrain zu erobern, aber er hat keine Revolution angezettelt. Sein Maß an | |
erlittener Repression war nach der Sowjetunion voll. Das muss man auch | |
verstehen. Er hatte keine Lust, das wiedergewonnene Leben aufzugeben. | |
Aber hätte er nicht freier im Westen forschen können? | |
Ob ein Westinstitut den Absolventen der Uni Swerdlowsk genommen hätte? Aber | |
vor allem blieb er antikapitalistisch eingestellt. Die große kommunistische | |
Erzählung lebte für ihn weiter. Und dann gab es auch ganz praktische | |
Gründe: Wie hätte er in den Westen kommen sollen? Was ist mit der Familie? | |
Was hätte man mit der zurückgelassenen Großmutter in Sibirien machen | |
sollen? Meine russische Mutter hätte keine Gelegenheit mehr gehabt, sie zu | |
besuchen. Dass er diese Überlegungen in seinem Buch beschreibt, bedeutet | |
aber, dass der Gedanke da war. | |
Ihre Mutter Taja, eine Sowjetbürgerin, hatte gegen die deutsche Nazi-Armee | |
gekämpft. Sie selbst wurden in der Verbannung 1954 im russischen Soswa | |
geboren. Wie war das für Sie als Kind ab 1956 in der DDR? | |
Während die Fotos aus Russland ein vergleichsweise wildes, struppiges Kind | |
zeigen, erscheine ich in Deutschland sehr ordentlich gekämmt und angezogen. | |
So erinnere ich auch die Atmosphäre. Ich glaube, ich habe meine russische | |
Oma vermisst. Ansonsten war die Ankunft hier problemlos. Ich war stolz auf | |
meine teils russische Herkunft und hab im Defa-Kindergarten in Babelsberg | |
sogar damit angegeben. | |
Ihre Großmutter blieb in Soswa. War es möglich, dort weiter hinzureisen? | |
Ich fuhr insgesamt dreimal zu Besuch mit meiner Mutter dorthin. Mein Vater | |
durfte als DDR-Bürger nicht in die Sperrzone um Swerdlowsk, heute | |
Jekaterinburg. Hinter dem Ural. Da konnte man nicht so einfach hinfahren. | |
Er wollte aber auch nicht. Meine Mutter war Russin, und ich, als Kind, | |
durfte auch mitfahren. | |
Aufgrund Ihrer Herkunft hatten Sie also keine negativen Erlebnisse in der | |
Kindheit in der DDR? | |
Nee, im Gegensatz zu Natascha Wodin, die in ihrem Buch eine bedrohliche | |
Feindseligkeit gegen das russische Kind im Westen beschreibt, gab es diese | |
Erfahrung bei mir im Osten nicht. Natürlich war die Freundschaft zur | |
Sowjetunion in der DDR auch Staatsdoktrin, da war es schwierig, etwas gegen | |
Russen zu sagen. Es gab latente Russenfeindlichkeit in der DDR, aber ich | |
erinnere mich auch an echte Russophilie bei ehemaligen Wehrmachtssoldaten. | |
War in der privaten Umgebung die Geschichte bekannt, dass Ihr Vater den | |
Stalinismus nur knapp überlebte? | |
Mein Vater hat zu Hause offen mit mir, Freunden oder Bekannten darüber | |
geredet. Auch mit Künstlern und Intellektuellen. Einmal besuchte uns | |
Christa Wolf und ließ sich von meinem Vater und seiner Lagerzeit erzählen. | |
Wann war das? | |
Das muss in den 70er Jahren gewesen sein. Mein Vater informierte in dieser | |
Weise durchaus. Die DDR war ein kleines Land und der Kreis der Künstler und | |
Intellektuellen nicht so groß. Mein Vater hat über seine Lagererlebnisse | |
sehr distanziert berichtet, in fast anekdotischer Form. Er ließ das nicht | |
an sich heran. In seinem Buch ist das später anders: Da findet er eine | |
Sprache, die Leere, Not und Verzweiflung beschreibt. | |
An einer Stelle Ihres preisgekrönten Romans [2][„In Zeiten des abnehmenden | |
Lichts“] – einer fiktiven Erzählung, die vor dem Hintergrund Ihrer | |
Familiengeschichte von der DDR handelt – sagt der Vater zum Sohn: „Aber | |
wenn deine Begeisterung für diese Beatmusik dazu führt, dass du Gammler | |
werden willst, dann muss ich dir sagen, dass deine Lehrer recht haben, wenn | |
sie so was verbieten.“ Sie selbst haben dann 1988 die DDR Richtung Westen | |
verlassen, warum? | |
Witzig ist, dass es diesen Generationenkonflikt und den Begriff des | |
Gammlers so auch im Westen gab. Etwas früher, gar keine Frage, im Westen | |
war alles etwas früher, aber die Konflikte gab’s dort auch. In der | |
Spätphase der DDR hörte man jede Menge Beatmusik, auch Westbeatmusik. Ich | |
habe selbst in einer Band gespielt, und wir mussten uns formal immer an das | |
Verhältnis 60 zu 40 halten und lange Listen ausfüllen, wo die gespielten | |
Lieder drinstehen mussten, wegen der Gema – bei uns hieß das: Awa. | |
Was meint 60 zu 40? | |
Na, 60 Prozent DDR-Titel zu 40 Prozent Westtitel. Aber wir haben natürlich | |
zu 100 Prozent Westtitel gespielt. Überall und immer wurde nur Westmusik | |
gespielt, auch wenn auf den Zetteln etwas anderes stand. | |
Wie hieß Ihre Band? | |
Oh, peinlich. Es durfte ja kein Name sein, der typisch westlich klang, | |
Anglizismen waren ganz schlecht angesehen. Deswegen suchte man so Worte, | |
die dazwischen lagen wie: Testband, Computerband. Also die eine hieß Test-, | |
die andere später Computerband. Beatmusik gab es in der DDR genug, deswegen | |
bin ich also nicht abgehauen. | |
Sie wollten Schriftsteller werden, in der DDR sahen Sie diese Möglichkeiten | |
nicht? | |
Nein. Ich fand die DDR als Gegenstand für Literatur nicht oder nicht mehr | |
interessant. Alles war klein und eng. Ich sah auch keine Zukunft, ich sah, | |
dass die Zeit für dieses Land abläuft. Nicht so schnell, wie es dann | |
geschah. Aber ich hatte keine Lust, darauf zu warten. | |
Also schlicht Überdruss? | |
Ich könnte da jetzt auch ganz schnell eine Opfergeschichte daraus machen. | |
Bräuchte Ihnen bloß erzählen, dass ich meinen Job hinschmiss, als ich ein | |
Gutachten für den Bau eines Kernkraftwerks bei Schleiz anfertigen sollte. | |
Oder über einen aufrührerischen Auftritt im evangelischen Predigerseminar | |
in Brandenburg. Und überhaupt hatte ich immer die große Klappe. Aber ich | |
fühlte mich immer geschützt, nicht so sehr durch vermeintliche Privilegien | |
meines Vaters, sondern dadurch, dass er mir zum Beispiel sehr früh mal | |
gesagt hat: Wenn die Stasi irgendwas von dir will, schick sie zu mir! Ich | |
werde denen von den Erfahrungen mit befreundeten Geheimdiensten erzählen! | |
Die Mauer fiel ein Jahr nach Ihrer Übersiedlung in den Westen 1989, was | |
dachten Sie da? | |
Ich war sehr ungerecht: Ich dachte, was für ein Mist! Gerade war ich hier | |
noch ein seltener Fall, und jetzt bin ich einer von 17 Millionen. Dafür | |
schäme ich mich heute. Ich habe mich dann auch lange geweigert, auf das | |
Territorium der früheren DDR zurückzukehren, habe erst nach fünf Jahren | |
wieder die Kurve gekriegt. Ich habe eine Weile in Krefeld gewohnt und bald | |
meine erste Aufführung als Theaterautor in Bonn erlebt, „Vom Umtausch | |
ausgeschlossen“. Seitdem habe ich mich so recht und schlecht vom Theater | |
ernährt und ein bisschen vom Übersetzen. | |
Vor ein paar Tagen haben wir uns im Museum Barberini in Potsdam die | |
Ausstellung [3][„Hinter der Maske – Künstler in der DDR“] angeschaut. Sie | |
sagten, Sie hatten dort um die Ecke Tanzunterricht gehabt? | |
Ich bin ja in Potsdam aufgewachsen. Wir haben in Babelsberg gewohnt, dort | |
bin ich zur Schule gegangen, später in Kleinmachnow. Meinen Tanzunterricht | |
hatte ich hier gegenüber im Hans-Marchwitza-Haus, dem Alten Rathaus, wo der | |
goldene Atlas mit der Erdkugel auf den Schultern auf der Dachkuppel steht. | |
Welche Tänze hat man denn gelernt, wenn man keine Westeinflüsse haben | |
durfte? | |
Ach, die Standardtänze sollte man schon alle lernen. Halligalli gab es da | |
zum Beispiel, was garantiert aus dem Westen kam. | |
Bei der Ausstellung im Barberini geht es um die Selbstinszenierung des | |
Künstlerindividuums in der DDR. Sie versammelt zeithistorisch aber auch | |
künstlerisch interessante Positionen; Tübke, Sitte oder Mattheuer. | |
Malerinnen gab es wenige. Wie hat die Ausstellung auf Sie gewirkt? | |
Die Arbeiten waren sehr verschieden. Die Bilder, die uns beiden auffielen | |
und die wir als annehmbar betrachteten, stammten zumeist doch von Malern, | |
die in der DDR relativ bekannt waren. Das trifft vielleicht weniger auf | |
Penck zu als auf Tübke oder Sitte. Auch wenn nicht jedes Bild gleich stark | |
ist, gibt es da sehr schöne Arbeiten. Auch Bunge hat uns beiden gefallen, | |
dessen Gemälde von 1949, wie wir lasen, in den sogenannten Formalismustreit | |
geriet. Das begreift man heute kaum. Wir konnten nichts „ideologisch | |
Brisantes“ feststellen. Insgesamt gab es wenig Abstraktes. Nun bin ich aber | |
auch kein großer Freund abstrakter Kunst … | |
Neben der gelenkten Parteikunst gab es auch freiere Positionen. Oft kommt | |
es aber auf die Entschlüsselung der Symbolik an. KPD-Chef Thälmann in dem | |
rotfarbenen Sitte-Gemälde „Die Rote Fahne – Kampf, Leid und Sieg“ muss m… | |
erst einmal erkennen … | |
Dieses große Sitte-Gemälde ist malerisch interessant. Auch das Thema, die | |
Gewalt in der Geschichte des letzten Jahrhunderts, dagegen kann man nichts | |
sagen. Doch dann schimmert da irgendwo das freundliche Gesicht von Ernst | |
Thälmann durch, sozusagen als Erinnerung und Vorschein. Und das verdirbt | |
das Bild. Aber malen konnte der, keine Frage. | |
Lassen Sie uns einen Sprung machen: 28 Jahre nach Mauerfall und Übergang | |
zur Demokratie scheinen viele Ostdeutsche extrem unzufrieden. Im Bundesland | |
Sachsen ist die rechtsextreme AfD die stärkste Partei. Haben Sie dafür eine | |
Erklärung? | |
Was soll man dazu sagen … (er ächzt und stöhnt). Sicher gibt es dafür auch | |
ökonomische Gründe. Wenn auch nicht in diesem Sinne, dass es den Leuten | |
jetzt materiell schlecht geht. Aber wenn ich mich in meiner Bekanntschaft | |
umschaue, die Brüche sind enorm. Gerade in den Biografien von Leuten meines | |
Alters. Viele Leute wurden richtiggehend rausgeschleudert, oft aus | |
Leitungspositionen. Viele haben sich irgendwie berappelt. Verdienen heute | |
ihr Geld in Berufen, die sie nicht gelernt hatten, die sie vielleicht nicht | |
mögen. Und was man im Westen oft gar nicht verstehen will, was Akkumulation | |
von Erbe bedeutet. Die Ostdeutschen haben nichts geerbt. Die gehen auf | |
relativ dünnem Eis. Das Unbehagen vor weiteren Veränderungen ist im Osten | |
von daher anders ausgeprägt als im Westen. | |
Verunsicherung sowie Kritik am etablierten Parteiensystem würden Sie | |
sozialpsychologisch aus der Verlusterfahrung deuten? | |
Es gibt sicher viele Ursachen. Aber die DDR ist in gewissem Sinne schon | |
kolonialisiert worden. Auch wenn ich die DDR nicht verklären oder | |
verteidigen will. Aber was die Treuhand in der Zeit des Umbruchs machte, | |
sollten wir alle noch wissen. Sie hat das Eigentum der DDR verhökert für 'n | |
Appel und ’n Ei. Betriebe wurden massenweise geschlossen. | |
Für viele schmerzhaft. Dennoch: Die Mehrheit der DDR-Bevölkerung wollte den | |
Anschluss an die Bundesrepublik, und die DDR-Betriebe waren in der | |
gewünschten neuen Ordnung nicht konkurrenzfähig, weil technisch veraltet. | |
Ostdeutschland hat doch heute in der Breite ein Wohlstandsniveau erreicht | |
wie kein zweiter postsowjetischer Staat? | |
Die Vereinigung war sicher gewünscht, aber ein Großteil der Leute wusste | |
nicht, was sie bedeuten würde. Die Macher der Geschichte, die großen | |
Unternehmen und die führenden Politiker, die wussten das schon. Man muss | |
begreifen, dass daraus ein Großteil der heutigen Verunsicherung im Osten | |
resultiert. Es war ja nicht nur ein ökonomischer Umbruch. Für Ostbürger hat | |
sich alles verändert. Gewiss auch vieles zum Positiven! Aber die ganze | |
Ikonografie ist plötzlich eine andere. Die Stadtbilder, alles sieht anders | |
aus, sogar die Formulare. Wie man ein Bankkonto eröffnet, wie man eine | |
Steuererklärung macht – alles ist anders. Die Brötchen, die Lebensmittel, | |
die Teller, die Stühle, auf denen man sitzt. Das kann man sich als | |
Westdeutscher wahrscheinlich gar nicht vorstellen. Oder das Geld: Die | |
Ostdeutschen haben in kürzester Zeit zwei Währungsreformen durchgemacht. | |
Kaum hatten sie endlich die D-Mark, nach der sie sich gesehnt hatten, schon | |
mussten sie sich auf den Euro umstellen. Man kann das belächeln, aber die | |
D-Mark war für die DDR-Bürger Symbol für Wohlstand und Stabilität. Und dann | |
kommt der Euro, der in seinen siebzehn Jahren gefühlt die Hälfte seines | |
Werts verloren hat. Heute ist alles doppelt so teuer wie bei der | |
Euro-Einführung, Bier, Autos … | |
Die Einkommen sind aber auch gestiegen? | |
Möglicherweise. Aber dies ist der Ausgangspunkt, wenn man die Verschiebung | |
der Stimmung betrachtet. Die Grenzen öffnen sich, der Umgang mit dem | |
Begriff Deutsch ändert sich. Wir alle, auch diejenigen, die sich nicht mit | |
der DDR identifiziert haben, trugen den Begriff DDR-Bürger wie ein | |
Brandzeichen mit uns herum. Wir waren keine Deutschen, wir waren | |
DDR-Bürger. Viele waren froh, dieses seltsame Dreibuchstabenkürzel als | |
Identitätsbezeichnung los zu sein. Kaum sind sie es los, erfahren sie, dass | |
deutsch zu sein etwas Schwieriges ist. Etwas was man schnell wieder | |
vergessen soll. Das man jetzt in einer offeneren, anderen Identität | |
aufgehen soll. Sie reagieren anders als Westdeutsche. Und es ist eine Art | |
koloniale Überheblichkeit, wenn die Westdeutschen die Erfahrungen und | |
Perspektiven der Ostdeutschen nicht ernst nehmen oder als primitiv | |
betrachten. | |
Aber warum orientieren sich viele in der Kritik an Nationalismus oder | |
völkischen Konzepten? | |
Die Linke, gerade die Westlinke, sollte lernen, die Perspektive und | |
Erfahrungen anderer Menschen zuzulassen. Klar ist: Diejenigen, die | |
faschistische Ideologien predigen, muss man rechtlich verfolgen. Die | |
gehören in den Knast. Aber die AfD oder ihre Wähler sind doch nicht alle | |
Nazis. Oder gar der ganze Osten. Und nicht jeder, der das Wort Nation in | |
den Mund nimmt, ist ein Rechtsradikaler. | |
In Westdeutschland kam nach 1968 die Idee auf, von unten die Welt zu | |
ändern. Anders leben, produzieren, konsumieren – die Dinge selbst in die | |
Hand nehmen. Der Gedanke scheint im Osten nicht angekommen, da wählt auch | |
kaum jemand die Grünen-Partei? | |
Das ist für mich eine typisch linksliberale Idee. Es hat keinen Sinn, an | |
die Großunternehmen zu appellieren, etwas menschlicher und | |
umweltfreundlicher zu sein. Und es hat auch keinen Sinn, dem Landbewohner | |
zu sagen, fahr mehr Bus oder Bahn, wenn die Bahn ihre kleinen Strecken | |
schließt oder der Bus nur alle Stunde fährt und sonntags gar nicht. Und das | |
Ressourcenproblem lösen wir auch nicht, indem wir Sparlampen benutzen und | |
Elektroautos fahren. Der Lebensstil, den wir pflegen, ist für unseren | |
Planeten nicht geeignet. Wobei dieser Lebensstil noch nicht einmal | |
glücklich macht. Wir verheizen den Planeten, wir trocknen den afrikanischen | |
Kontinent aus, berauben die Menschen ihrer Heimat – wofür? Ich kenne nur | |
noch Leute, die keine Zeit haben. Ist das Glück? | |
Was bedeutete Antifaschismus in der DDR? | |
Der Antifaschismus in der DDR kam wie alles als Indoktrination. Aber die | |
Jugend wurde antifaschistisch erzogen. Die Lehrer haben aufgeklärt, wie | |
verbrecherisch der Faschismus war. Natürlich gab es den marxistischen | |
Ansatz. Er ging davon aus, dass der Nationalsozialismus aus den Wurzeln der | |
kapitalistischen Entwicklung hervorgegangen ist. Man muss zumindest | |
anerkennen, dass diese Möglichkeit der Interpretation nicht hirnrissig ist | |
und ein Konzept der Erklärung darstellt. | |
Die Massen hat die NSDAP aber mit ihrer antikapitalistischen und | |
antisemitischen Rhetorik mobilisiert. | |
Die Frage bleibt aber, ob man die Wurzel des Bösen in der Natur des | |
Menschen sieht. Oder man sagt, es kommt aus den Verhältnissen. Der | |
Marxismus sagt genau das. Der Mensch ist weder gut noch schlecht. Man muss | |
die Verhältnisse ändern und dadurch den Menschen. | |
Wie hat Ihr Vater den Untergang der DDR erlebt: als Befreiung oder | |
Niederlage? | |
1989 haben wir uns fürchterlich gestritten. Ich vertrat damals, in etwa wie | |
Sie heute, dass es auf Kontrolle, Demokratie und Mitbestimmung im | |
Kapitalismus ankäme. Über „den“ Kapitalismus zu reden mache wenig Sinn. | |
Mein Vater war entgegengesetzter Meinung. Er war enttäuscht, dass der | |
Sozialismus zusammenbrach, auch wenn es ein schlechter Sozialismus war. | |
Auch heute weine ich dem real existierenden Sozialismus keine Träne nach. | |
Was mir auch viele übel nehmen. Für mich war die DDR nicht erhaltenswert. | |
Durch praktische Kenntnis des Kapitalismus sehe ich allerdings vieles nun | |
anders. | |
Welche List wenden Sie an, wenn Sie Westlern erklären, dass die Niederlage | |
der DDR auch eine schmerzliche Seite haben kann – Sie aber nicht als | |
Nostalgiker dastehen wollen? | |
Ich habe darüber einen Roman geschrieben. Was es heißt, Familie, Freunde, | |
ja, Heimat zu verlassen. Im Westen verschwindet alles laufend, aber das | |
Bruttosozialprodukt nimmt zu. In der DDR war das anders. Da stand alles so | |
ein bisschen still, bewegte sich langsamer. Mein Babelsberg gab’s bis zur | |
Wende, dann verschwand es. Was dieser Verlust bedeutet, obwohl man das Land | |
nicht mochte, das zu erklären, deswegen habe ich „In Zeiten des abnehmenden | |
Lichts“ geschrieben. Ich hänge nicht an diesem Land, aber es ist verdammt | |
schwer, es loszuwerden. | |
17 Dec 2017 | |
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