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# taz.de -- Eugen Ruge über die DDR: „Wir waren keine Deutschen“
> Ostdeutsche vermissen Ostdeutschland: Der Schriftsteller Eugen Ruge im
> Gespräch über Stalinismus, Verlust und heutige Befindlichkeiten im Osten.
Bild: „Was nicht zusammengehört, muss auch nicht zusammenwachsen“ – Euge…
taz am wochenende: Herr Ruge, 50 Tage zusammensitzen und dann nicht fähig
sein, eine Regierung zu bilden, das hätte es in der DDR nicht gegeben,
oder?
Eugen Ruge: Das hätte es nicht gegeben, natürlich nicht. Aber ich hoffe,
Sie erwarten jetzt nicht einen Kommentar zur geplatzten Jamaika-Koalition.
Hätten Sie denn einen?
Also Willy Brandt hat ja immer gesagt, es soll zusammenwachsen, was
zusammengehört. Ich würde sagen, was nicht zusammengehört, muss auch nicht
zusammenwachsen.
Welchen Ruf hatten die Liberal-Demokraten in der DDR?
Die aus dem Westen wie Genscher waren schon vor dem Mauerfall bekannte
Figuren. Die Liberaldemokraten der DDR hatten als Blockpartei praktisch
keine Bedeutung. Wurde man getriezt, wie mein Abteilungsleiter am Institut
für Physik, und hatte keine Lust auf die Partei (die SED), dann trat man
eben der LDPD bei. Und konnte sagen: Wieso, ich bin doch in einer
Blockpartei, das ist doch damit erledigt. Ich selbst habe übrigens auf die
beim Einstellungsgespräch gestellte Frage, ob ich mir vorstellen kann, in
die Partei eintreten zu können, geantwortet, dass ich leider mit einigen
Statuten der SED nicht einverstanden sei. Eingestellt wurde ich trotzdem.
Herr Ruge, Ihr Vater verbrachte 15 Jahre im Gulag und Verbannung in der
Sowjetunion, bevor er 1956 „rehabilitiert“ und in die DDR ausreisen durfte,
wie kam es dazu?
Mein Vater war insgesamt 25 Jahre in Russland, davon 15 Jahre in
Arbeitslagern und Verbannung. Er ging freiwillig als junger Kommunist 1933
in die Sowjetunion. Er wurde dann 1941 nach dem Überfall der Deutschen auf
die Sowjetunion deportiert, zunächst nach Kasachstan. Er hat vier Jahre als
Arbeitsarmist in gulagähnlichen Zuständen verbracht. Und dann noch elf
zermürbende Jahre in der Verbannung. Der Krieg war aus, die DDR gegründet,
und die ehemaligen Arbeitsarmisten hingen in der Verbannung fest.
Warum wurde er interniert?
Das gab es auch in Frankreich oder England, dass Deutsche, auch
Antifaschisten, bei Kriegsbeginn in Lager kamen. Aber nicht unter so
schrecklichen Bedingungen wie in der Sowjetunion. Während des Krieges haben
in der Sowjetunion viele gehungert, nicht nur die Arbeitsarmisten, aber die
besonders. Sich in Sibirien in einem Holzfällercamp wiederzufinden war
sehr, sehr hart.
Ihr Vater erzählt davon in „Gelobtes Land. Meine Jahre in der Sowjetunion“.
Zielten diese Lager auf den Tod der Insassen durch Arbeit?
Sklavenähnliche Zwangsarbeit, so würde ich es formulieren. Es war ein
brutaler Umgang mit Ressourcen, Leben und menschlicher Arbeitskraft. Aber
Ziel war nicht, die Leute wie in den deutschen Vernichtungslagern
umzubringen. Eine dramatisch hohe Zahl von Menschen ist in den sowjetischen
Arbeitslagern in den Kriegsjahren zugrunde gegangen. Es waren unglaublich
schwierige Bedingungen, es gab kaum zu essen, 500, 600 Gramm Brot bei
Normerfüllung, von da an abwärts.
Ihr Vater, Wolfgang Ruge, starb im Dezember 2006. Er wurde nach seiner
Rückkehr aus der Sowjetunion ein anerkannter Historiker der DDR. Trotz der
traumatischen Erfahrungen mit dem Stalinismus ging er 1956 nicht in den
Westen, warum nicht?
1956, zwei Jahre nach Stalins Tod und Chruschtschows berühmter Rede zur
Entstalinisierung, konnte man zu der Überzeugung gelangen, dass nun die
Zeit des demokratischen Sozialismus anbricht. Darauf hoffte mein Vater. Er
war und blieb ja Kommunist. Im Gegensatz zu vielen anderen hielt er den
Stalinismus immer schon für verbrecherisch. Von der Hoffnung auf einen
demokratischen Sozialismus hat er sich aber erst nach und nach
verabschiedet.
Auf einer [1][Veranstaltung zum 100. Geburtstags Ihres Vaters] in der
Berlin-Brandenburgischen Akademie haben Sie jetzt von der sozialistischen
List gesprochen, die es brauchte, um im System der DDR als Historiker
abweichende Meinungen in den Diskurs einzuschmuggeln. Was meinten Sie
damit?
Ich glaube, ich sprach von „parteitaktischer Schlauheit“. Dazu eine
Anekdote, die ich für glaubwürdig halte: Ernst Engelbert, der zeitweise der
Chef meines Vaters war, schrieb Kurt Hager, dem Chefideologen der SED, eine
Passage in eine seiner Grundsatzreden. Er beriet sich mit meinem Vater
darüber. Mein Vater sagte zu Engelbert: Schreib doch einfach rein, dass
Biografien bürgerlicher Personen für die DDR-Wissenschaft von Bedeutung
sind. Engelbert, der selbst vorhatte, eine große Bismarck-Biografie zu
schreiben, tat das. Und mein Vater hielt dann seinem Verlag die Hager-Rede
vor die Nase, um sein Interesse für bürgerliche Politiker zu rechtfertigen.
Er schrieb dann über Stresemann, Erzberger oder Hindenburg. Der Kampf um
Themen und ideologische Grenzen wurde in der DDR nicht offen ausgetragen,
sondern auf indirekte Weise. Das meint „parteitaktische Schlauheit“.
Ihr Vater war dennoch kein Oppositioneller, wie würden Sie sein Verhältnis
zum Staatssozialismus der DDR charakterisieren?
Ein unfreiwillig sich Anpassender. Er hat innerhalb des Rahmens versucht,
Terrain zu erobern, aber er hat keine Revolution angezettelt. Sein Maß an
erlittener Repression war nach der Sowjetunion voll. Das muss man auch
verstehen. Er hatte keine Lust, das wiedergewonnene Leben aufzugeben.
Aber hätte er nicht freier im Westen forschen können?
Ob ein Westinstitut den Absolventen der Uni Swerdlowsk genommen hätte? Aber
vor allem blieb er antikapitalistisch eingestellt. Die große kommunistische
Erzählung lebte für ihn weiter. Und dann gab es auch ganz praktische
Gründe: Wie hätte er in den Westen kommen sollen? Was ist mit der Familie?
Was hätte man mit der zurückgelassenen Großmutter in Sibirien machen
sollen? Meine russische Mutter hätte keine Gelegenheit mehr gehabt, sie zu
besuchen. Dass er diese Überlegungen in seinem Buch beschreibt, bedeutet
aber, dass der Gedanke da war.
Ihre Mutter Taja, eine Sowjetbürgerin, hatte gegen die deutsche Nazi-Armee
gekämpft. Sie selbst wurden in der Verbannung 1954 im russischen Soswa
geboren. Wie war das für Sie als Kind ab 1956 in der DDR?
Während die Fotos aus Russland ein vergleichsweise wildes, struppiges Kind
zeigen, erscheine ich in Deutschland sehr ordentlich gekämmt und angezogen.
So erinnere ich auch die Atmosphäre. Ich glaube, ich habe meine russische
Oma vermisst. Ansonsten war die Ankunft hier problemlos. Ich war stolz auf
meine teils russische Herkunft und hab im Defa-Kindergarten in Babelsberg
sogar damit angegeben.
Ihre Großmutter blieb in Soswa. War es möglich, dort weiter hinzureisen?
Ich fuhr insgesamt dreimal zu Besuch mit meiner Mutter dorthin. Mein Vater
durfte als DDR-Bürger nicht in die Sperrzone um Swerdlowsk, heute
Jekaterinburg. Hinter dem Ural. Da konnte man nicht so einfach hinfahren.
Er wollte aber auch nicht. Meine Mutter war Russin, und ich, als Kind,
durfte auch mitfahren.
Aufgrund Ihrer Herkunft hatten Sie also keine negativen Erlebnisse in der
Kindheit in der DDR?
Nee, im Gegensatz zu Natascha Wodin, die in ihrem Buch eine bedrohliche
Feindseligkeit gegen das russische Kind im Westen beschreibt, gab es diese
Erfahrung bei mir im Osten nicht. Natürlich war die Freundschaft zur
Sowjetunion in der DDR auch Staatsdoktrin, da war es schwierig, etwas gegen
Russen zu sagen. Es gab latente Russenfeindlichkeit in der DDR, aber ich
erinnere mich auch an echte Russophilie bei ehemaligen Wehrmachtssoldaten.
War in der privaten Umgebung die Geschichte bekannt, dass Ihr Vater den
Stalinismus nur knapp überlebte?
Mein Vater hat zu Hause offen mit mir, Freunden oder Bekannten darüber
geredet. Auch mit Künstlern und Intellektuellen. Einmal besuchte uns
Christa Wolf und ließ sich von meinem Vater und seiner Lagerzeit erzählen.
Wann war das?
Das muss in den 70er Jahren gewesen sein. Mein Vater informierte in dieser
Weise durchaus. Die DDR war ein kleines Land und der Kreis der Künstler und
Intellektuellen nicht so groß. Mein Vater hat über seine Lagererlebnisse
sehr distanziert berichtet, in fast anekdotischer Form. Er ließ das nicht
an sich heran. In seinem Buch ist das später anders: Da findet er eine
Sprache, die Leere, Not und Verzweiflung beschreibt.
An einer Stelle Ihres preisgekrönten Romans [2][„In Zeiten des abnehmenden
Lichts“] – einer fiktiven Erzählung, die vor dem Hintergrund Ihrer
Familiengeschichte von der DDR handelt – sagt der Vater zum Sohn: „Aber
wenn deine Begeisterung für diese Beatmusik dazu führt, dass du Gammler
werden willst, dann muss ich dir sagen, dass deine Lehrer recht haben, wenn
sie so was verbieten.“ Sie selbst haben dann 1988 die DDR Richtung Westen
verlassen, warum?
Witzig ist, dass es diesen Generationenkonflikt und den Begriff des
Gammlers so auch im Westen gab. Etwas früher, gar keine Frage, im Westen
war alles etwas früher, aber die Konflikte gab’s dort auch. In der
Spätphase der DDR hörte man jede Menge Beatmusik, auch Westbeatmusik. Ich
habe selbst in einer Band gespielt, und wir mussten uns formal immer an das
Verhältnis 60 zu 40 halten und lange Listen ausfüllen, wo die gespielten
Lieder drinstehen mussten, wegen der Gema – bei uns hieß das: Awa.
Was meint 60 zu 40?
Na, 60 Prozent DDR-Titel zu 40 Prozent Westtitel. Aber wir haben natürlich
zu 100 Prozent Westtitel gespielt. Überall und immer wurde nur Westmusik
gespielt, auch wenn auf den Zetteln etwas anderes stand.
Wie hieß Ihre Band?
Oh, peinlich. Es durfte ja kein Name sein, der typisch westlich klang,
Anglizismen waren ganz schlecht angesehen. Deswegen suchte man so Worte,
die dazwischen lagen wie: Testband, Computerband. Also die eine hieß Test-,
die andere später Computerband. Beatmusik gab es in der DDR genug, deswegen
bin ich also nicht abgehauen.
Sie wollten Schriftsteller werden, in der DDR sahen Sie diese Möglichkeiten
nicht?
Nein. Ich fand die DDR als Gegenstand für Literatur nicht oder nicht mehr
interessant. Alles war klein und eng. Ich sah auch keine Zukunft, ich sah,
dass die Zeit für dieses Land abläuft. Nicht so schnell, wie es dann
geschah. Aber ich hatte keine Lust, darauf zu warten.
Also schlicht Überdruss?
Ich könnte da jetzt auch ganz schnell eine Opfergeschichte daraus machen.
Bräuchte Ihnen bloß erzählen, dass ich meinen Job hinschmiss, als ich ein
Gutachten für den Bau eines Kernkraftwerks bei Schleiz anfertigen sollte.
Oder über einen aufrührerischen Auftritt im evangelischen Predigerseminar
in Brandenburg. Und überhaupt hatte ich immer die große Klappe. Aber ich
fühlte mich immer geschützt, nicht so sehr durch vermeintliche Privilegien
meines Vaters, sondern dadurch, dass er mir zum Beispiel sehr früh mal
gesagt hat: Wenn die Stasi irgendwas von dir will, schick sie zu mir! Ich
werde denen von den Erfahrungen mit befreundeten Geheimdiensten erzählen!
Die Mauer fiel ein Jahr nach Ihrer Übersiedlung in den Westen 1989, was
dachten Sie da?
Ich war sehr ungerecht: Ich dachte, was für ein Mist! Gerade war ich hier
noch ein seltener Fall, und jetzt bin ich einer von 17 Millionen. Dafür
schäme ich mich heute. Ich habe mich dann auch lange geweigert, auf das
Territorium der früheren DDR zurückzukehren, habe erst nach fünf Jahren
wieder die Kurve gekriegt. Ich habe eine Weile in Krefeld gewohnt und bald
meine erste Aufführung als Theaterautor in Bonn erlebt, „Vom Umtausch
ausgeschlossen“. Seitdem habe ich mich so recht und schlecht vom Theater
ernährt und ein bisschen vom Übersetzen.
Vor ein paar Tagen haben wir uns im Museum Barberini in Potsdam die
Ausstellung [3][„Hinter der Maske – Künstler in der DDR“] angeschaut. Sie
sagten, Sie hatten dort um die Ecke Tanzunterricht gehabt?
Ich bin ja in Potsdam aufgewachsen. Wir haben in Babelsberg gewohnt, dort
bin ich zur Schule gegangen, später in Kleinmachnow. Meinen Tanzunterricht
hatte ich hier gegenüber im Hans-Marchwitza-Haus, dem Alten Rathaus, wo der
goldene Atlas mit der Erdkugel auf den Schultern auf der Dachkuppel steht.
Welche Tänze hat man denn gelernt, wenn man keine Westeinflüsse haben
durfte?
Ach, die Standardtänze sollte man schon alle lernen. Halligalli gab es da
zum Beispiel, was garantiert aus dem Westen kam.
Bei der Ausstellung im Barberini geht es um die Selbstinszenierung des
Künstlerindividuums in der DDR. Sie versammelt zeithistorisch aber auch
künstlerisch interessante Positionen; Tübke, Sitte oder Mattheuer.
Malerinnen gab es wenige. Wie hat die Ausstellung auf Sie gewirkt?
Die Arbeiten waren sehr verschieden. Die Bilder, die uns beiden auffielen
und die wir als annehmbar betrachteten, stammten zumeist doch von Malern,
die in der DDR relativ bekannt waren. Das trifft vielleicht weniger auf
Penck zu als auf Tübke oder Sitte. Auch wenn nicht jedes Bild gleich stark
ist, gibt es da sehr schöne Arbeiten. Auch Bunge hat uns beiden gefallen,
dessen Gemälde von 1949, wie wir lasen, in den sogenannten Formalismustreit
geriet. Das begreift man heute kaum. Wir konnten nichts „ideologisch
Brisantes“ feststellen. Insgesamt gab es wenig Abstraktes. Nun bin ich aber
auch kein großer Freund abstrakter Kunst …
Neben der gelenkten Parteikunst gab es auch freiere Positionen. Oft kommt
es aber auf die Entschlüsselung der Symbolik an. KPD-Chef Thälmann in dem
rotfarbenen Sitte-Gemälde „Die Rote Fahne – Kampf, Leid und Sieg“ muss m…
erst einmal erkennen …
Dieses große Sitte-Gemälde ist malerisch interessant. Auch das Thema, die
Gewalt in der Geschichte des letzten Jahrhunderts, dagegen kann man nichts
sagen. Doch dann schimmert da irgendwo das freundliche Gesicht von Ernst
Thälmann durch, sozusagen als Erinnerung und Vorschein. Und das verdirbt
das Bild. Aber malen konnte der, keine Frage.
Lassen Sie uns einen Sprung machen: 28 Jahre nach Mauerfall und Übergang
zur Demokratie scheinen viele Ostdeutsche extrem unzufrieden. Im Bundesland
Sachsen ist die rechtsextreme AfD die stärkste Partei. Haben Sie dafür eine
Erklärung?
Was soll man dazu sagen … (er ächzt und stöhnt). Sicher gibt es dafür auch
ökonomische Gründe. Wenn auch nicht in diesem Sinne, dass es den Leuten
jetzt materiell schlecht geht. Aber wenn ich mich in meiner Bekanntschaft
umschaue, die Brüche sind enorm. Gerade in den Biografien von Leuten meines
Alters. Viele Leute wurden richtiggehend rausgeschleudert, oft aus
Leitungspositionen. Viele haben sich irgendwie berappelt. Verdienen heute
ihr Geld in Berufen, die sie nicht gelernt hatten, die sie vielleicht nicht
mögen. Und was man im Westen oft gar nicht verstehen will, was Akkumulation
von Erbe bedeutet. Die Ostdeutschen haben nichts geerbt. Die gehen auf
relativ dünnem Eis. Das Unbehagen vor weiteren Veränderungen ist im Osten
von daher anders ausgeprägt als im Westen.
Verunsicherung sowie Kritik am etablierten Parteiensystem würden Sie
sozialpsychologisch aus der Verlusterfahrung deuten?
Es gibt sicher viele Ursachen. Aber die DDR ist in gewissem Sinne schon
kolonialisiert worden. Auch wenn ich die DDR nicht verklären oder
verteidigen will. Aber was die Treuhand in der Zeit des Umbruchs machte,
sollten wir alle noch wissen. Sie hat das Eigentum der DDR verhökert für 'n
Appel und ’n Ei. Betriebe wurden massenweise geschlossen.
Für viele schmerzhaft. Dennoch: Die Mehrheit der DDR-Bevölkerung wollte den
Anschluss an die Bundesrepublik, und die DDR-Betriebe waren in der
gewünschten neuen Ordnung nicht konkurrenzfähig, weil technisch veraltet.
Ostdeutschland hat doch heute in der Breite ein Wohlstandsniveau erreicht
wie kein zweiter postsowjetischer Staat?
Die Vereinigung war sicher gewünscht, aber ein Großteil der Leute wusste
nicht, was sie bedeuten würde. Die Macher der Geschichte, die großen
Unternehmen und die führenden Politiker, die wussten das schon. Man muss
begreifen, dass daraus ein Großteil der heutigen Verunsicherung im Osten
resultiert. Es war ja nicht nur ein ökonomischer Umbruch. Für Ostbürger hat
sich alles verändert. Gewiss auch vieles zum Positiven! Aber die ganze
Ikonografie ist plötzlich eine andere. Die Stadtbilder, alles sieht anders
aus, sogar die Formulare. Wie man ein Bankkonto eröffnet, wie man eine
Steuererklärung macht – alles ist anders. Die Brötchen, die Lebensmittel,
die Teller, die Stühle, auf denen man sitzt. Das kann man sich als
Westdeutscher wahrscheinlich gar nicht vorstellen. Oder das Geld: Die
Ostdeutschen haben in kürzester Zeit zwei Währungsreformen durchgemacht.
Kaum hatten sie endlich die D-Mark, nach der sie sich gesehnt hatten, schon
mussten sie sich auf den Euro umstellen. Man kann das belächeln, aber die
D-Mark war für die DDR-Bürger Symbol für Wohlstand und Stabilität. Und dann
kommt der Euro, der in seinen siebzehn Jahren gefühlt die Hälfte seines
Werts verloren hat. Heute ist alles doppelt so teuer wie bei der
Euro-Einführung, Bier, Autos …
Die Einkommen sind aber auch gestiegen?
Möglicherweise. Aber dies ist der Ausgangspunkt, wenn man die Verschiebung
der Stimmung betrachtet. Die Grenzen öffnen sich, der Umgang mit dem
Begriff Deutsch ändert sich. Wir alle, auch diejenigen, die sich nicht mit
der DDR identifiziert haben, trugen den Begriff DDR-Bürger wie ein
Brandzeichen mit uns herum. Wir waren keine Deutschen, wir waren
DDR-Bürger. Viele waren froh, dieses seltsame Dreibuchstabenkürzel als
Identitätsbezeichnung los zu sein. Kaum sind sie es los, erfahren sie, dass
deutsch zu sein etwas Schwieriges ist. Etwas was man schnell wieder
vergessen soll. Das man jetzt in einer offeneren, anderen Identität
aufgehen soll. Sie reagieren anders als Westdeutsche. Und es ist eine Art
koloniale Überheblichkeit, wenn die Westdeutschen die Erfahrungen und
Perspektiven der Ostdeutschen nicht ernst nehmen oder als primitiv
betrachten.
Aber warum orientieren sich viele in der Kritik an Nationalismus oder
völkischen Konzepten?
Die Linke, gerade die Westlinke, sollte lernen, die Perspektive und
Erfahrungen anderer Menschen zuzulassen. Klar ist: Diejenigen, die
faschistische Ideologien predigen, muss man rechtlich verfolgen. Die
gehören in den Knast. Aber die AfD oder ihre Wähler sind doch nicht alle
Nazis. Oder gar der ganze Osten. Und nicht jeder, der das Wort Nation in
den Mund nimmt, ist ein Rechtsradikaler.
In Westdeutschland kam nach 1968 die Idee auf, von unten die Welt zu
ändern. Anders leben, produzieren, konsumieren – die Dinge selbst in die
Hand nehmen. Der Gedanke scheint im Osten nicht angekommen, da wählt auch
kaum jemand die Grünen-Partei?
Das ist für mich eine typisch linksliberale Idee. Es hat keinen Sinn, an
die Großunternehmen zu appellieren, etwas menschlicher und
umweltfreundlicher zu sein. Und es hat auch keinen Sinn, dem Landbewohner
zu sagen, fahr mehr Bus oder Bahn, wenn die Bahn ihre kleinen Strecken
schließt oder der Bus nur alle Stunde fährt und sonntags gar nicht. Und das
Ressourcenproblem lösen wir auch nicht, indem wir Sparlampen benutzen und
Elektroautos fahren. Der Lebensstil, den wir pflegen, ist für unseren
Planeten nicht geeignet. Wobei dieser Lebensstil noch nicht einmal
glücklich macht. Wir verheizen den Planeten, wir trocknen den afrikanischen
Kontinent aus, berauben die Menschen ihrer Heimat – wofür? Ich kenne nur
noch Leute, die keine Zeit haben. Ist das Glück?
Was bedeutete Antifaschismus in der DDR?
Der Antifaschismus in der DDR kam wie alles als Indoktrination. Aber die
Jugend wurde antifaschistisch erzogen. Die Lehrer haben aufgeklärt, wie
verbrecherisch der Faschismus war. Natürlich gab es den marxistischen
Ansatz. Er ging davon aus, dass der Nationalsozialismus aus den Wurzeln der
kapitalistischen Entwicklung hervorgegangen ist. Man muss zumindest
anerkennen, dass diese Möglichkeit der Interpretation nicht hirnrissig ist
und ein Konzept der Erklärung darstellt.
Die Massen hat die NSDAP aber mit ihrer antikapitalistischen und
antisemitischen Rhetorik mobilisiert.
Die Frage bleibt aber, ob man die Wurzel des Bösen in der Natur des
Menschen sieht. Oder man sagt, es kommt aus den Verhältnissen. Der
Marxismus sagt genau das. Der Mensch ist weder gut noch schlecht. Man muss
die Verhältnisse ändern und dadurch den Menschen.
Wie hat Ihr Vater den Untergang der DDR erlebt: als Befreiung oder
Niederlage?
1989 haben wir uns fürchterlich gestritten. Ich vertrat damals, in etwa wie
Sie heute, dass es auf Kontrolle, Demokratie und Mitbestimmung im
Kapitalismus ankäme. Über „den“ Kapitalismus zu reden mache wenig Sinn.
Mein Vater war entgegengesetzter Meinung. Er war enttäuscht, dass der
Sozialismus zusammenbrach, auch wenn es ein schlechter Sozialismus war.
Auch heute weine ich dem real existierenden Sozialismus keine Träne nach.
Was mir auch viele übel nehmen. Für mich war die DDR nicht erhaltenswert.
Durch praktische Kenntnis des Kapitalismus sehe ich allerdings vieles nun
anders.
Welche List wenden Sie an, wenn Sie Westlern erklären, dass die Niederlage
der DDR auch eine schmerzliche Seite haben kann – Sie aber nicht als
Nostalgiker dastehen wollen?
Ich habe darüber einen Roman geschrieben. Was es heißt, Familie, Freunde,
ja, Heimat zu verlassen. Im Westen verschwindet alles laufend, aber das
Bruttosozialprodukt nimmt zu. In der DDR war das anders. Da stand alles so
ein bisschen still, bewegte sich langsamer. Mein Babelsberg gab’s bis zur
Wende, dann verschwand es. Was dieser Verlust bedeutet, obwohl man das Land
nicht mochte, das zu erklären, deswegen habe ich „In Zeiten des abnehmenden
Lichts“ geschrieben. Ich hänge nicht an diesem Land, aber es ist verdammt
schwer, es loszuwerden.
17 Dec 2017
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Andreas Fanizadeh
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