# taz.de -- Auf der Spur von Willi Sitte: Sie lieben und sie hassen ihn | |
> Willi Sitte war Maler, DDR-Funktionär – und umstritten. Für unseren Autor | |
> war er lange nur sein Urgroßonkel – bis ein Bild auf dem Dachboden | |
> auftaucht. | |
Meine Großmutter legt ein in Zeitungspapier verpacktes, ausladendes Ding | |
auf den Tisch. Sie wickelt es aus – ein Gemälde. Fünf altmeisterlich | |
gemalte Figuren stehen dort auf einer Waldlichtung. Mutter, Vater, | |
Großeltern und Kind mit Vieh, in naturalistischen Farben. Meine Großmutter | |
blickt in die Runde. Wir schauen zurück. | |
„Wo hast du das her?“, frage ich. | |
„Das ist von meinem Onkel.“ | |
„Von wem?“ | |
„Na von Willi!“ | |
Plötzlich also gibt es „Willi“ in unserer Familie, einen Mann, den wir bis | |
zu diesem Tag nicht wie einen Verwandten, sondern wie einen Begriff aus | |
einem kunsthistorischen Lexikon behandelt haben. „Willi Sitte“ – Maler in | |
der DDR, Bruder meines Urgroßvaters, Onkel meiner Großmutter. Er hat diese | |
riesigen, fast immer nackten und kraftvoll vor Fleisch strotzenden Menschen | |
gemalt. Auf einem [1][Bild seines Wikipedia-Eintrags] schüttelt er Erich | |
Honecker die Hand. | |
Eigentlich sind wir, meine Eltern, mein Bruder und ich, schon auf dem | |
Sprung nach Hause. Nun jedoch liegt dieses Bild nicht mehr wie bisher auf | |
dem Dachboden, sondern auf dem Tisch. | |
In meiner Großmutter scheint in diesem Moment etwas aufzubrechen. Zum | |
ersten Mal erzählt sie von ihrem Lieblingsonkel, erzählt von der | |
Übersiedlung ihrer Familie aus der Tschechoslowakei nach Deutschland, | |
erzählt, dass dieses Gemälde irgendwie in den Besitz ihrer Eltern gekommen | |
war. „Opa wollte es bis zu seinem Tod aufbewahren, um den Wert zu steigern. | |
Was weiß ich“, sagt meine Großmutter. | |
Ein paar Tage später treffe ich sie wieder. Ich habe inzwischen Willi | |
Sittes Autobiografie und viele Artikel über ihn gelesen. Es ist das Jahr | |
2021, sein 100. Geburtstag wird mit einer großen Ausstellung in Halle | |
(Saale) gefeiert. Gern hätte ich selbst mit ihm geredet, denn was ihn | |
betrifft, hat mich die Lektüre nicht richtig schlau gemacht. Nur ist er | |
2013 gestorben. | |
Bei meiner Recherche lerne ich ihn als jemanden kennen, der gegen Walter | |
Ulbrichts Kulturpolitik protestiert. Dann als einen, der mit Margot | |
Honecker tanzt und mit Parteieliten in der Sauna sitzt. Mal ist er jemand, | |
der von der Stasi überwacht und von der SED beschimpft wird, und dann wird | |
er selbst als Politiker und Funktionär in der DDR über Karrieren bestimmen. | |
Künstlerfreund, Künstlerfeind, gehasst, geliebt – bis heute. | |
„Du hast nie so viel über ihn erzählt“, sage ich zu meiner Großmutter. | |
„Für mich war er einfach: mein Onkel.“ | |
„Liegt es daran, dass er so überzeugt von der SED war?“ | |
„Nein.“ | |
„Oder weil er im Zentralkomitee der Partei saß?“ | |
„Das hat mich nicht interessiert. Wir hatten früher einmal ganz viel | |
miteinander zu tun. Nur hat er sich nach der Wende zurückgezogen.“ | |
„Und jetzt gilt er als umstrittener Künstler.“ | |
„Ja, das ist ärgerlich“, sagt sie, „und schwer zu erklären.“ | |
„Schwer?“ | |
„Aron, ich glaube, in der damaligen politischen Situation hat er seine | |
Kunst gebraucht. Und auch seine Position – um etwas auszusagen.“ | |
„Dafür musste er als Politiker so weit aufsteigen in der DDR?„ | |
„Keiner spricht hier von müssen. Das würde der Sache nicht gerecht.“ Sie | |
verschränkt die Arme. „Ich kann darüber reden. Aber ich kann nichts | |
erklären. Es gibt bestimmt Künstler, bei denen es einfacher ist“, sagt sie, | |
„aber um Willi kennenzulernen, musst du, nun ja, da musst du diesen Weg | |
verstehen.“ | |
Das alles scheint mit jedem Tag dringlicher, besonders als ich kurz darauf | |
die handgeschriebenen Memoiren meines Urgroßvaters entdecke, die zeigen, | |
wie eng auch er mit dem Sozialismus und seinem Bruder Willi Sitte verbunden | |
war. | |
Zudem schreibt gerade fast jede Zeitung über die Ausstellung zu Sittes 100. | |
Geburtstag. Ich hatte gelesen, dass viele von Willi Sittes Bildern in | |
Depots verbannt wurden nach der Wende. Mit Verweis auf den umstrittenen | |
Künstler. Nie haben wir über all das in der Familie gesprochen. | |
Andererseits, denke ich, habe ich auch nie danach gefragt. | |
An einem Tag im Februar 2021 sitze ich im Archiv des Germanischen | |
Nationalmuseums in Nürnberg. Hier befindet sich der literarische Nachlass | |
von Willi Sitte. Korrespondenzen, Interviews, Notizen, Selbstzeugnisse. Im | |
Alter von 26 Jahren kommt er voller Idealismus nach Halle an der Saale. Es | |
ist das Jahr 1947, er will sich einbringen in das sich gerade im Aufbau | |
befindende sozialistische Land – als Künstler mit neuem Stil. | |
Nur wie genau dieser aussehen soll, weiß er noch nicht. | |
Aber er hat immerhin eine Idee, wo er Inspiration herbekommen könnte, und | |
erzählt später, „daß ich ja schon seit siebenundvierzig in die Betriebe | |
gelatscht bin […] Ich hab’ gedacht, du gehst dahin, zeichnest viel, und | |
dann wird schon irgendwas draus werden.“ Er arbeitet wie ein Reporter, | |
immer mit dem Ziel, sein neues Sujet, den Geist der Arbeiterklasse in den | |
Fabriken und Industriewerken des Landes, aufzunehmen und darzustellen. | |
Er ist sich bewusst, „perfekt“ akademisch, also besonders detailgetreu, | |
zeichnen zu können. Er hat das in seiner Geburtsstadt Kratzau, in | |
Tschechien gelernt. Das Zeichnen hat er sich anhand von Bildern Albrecht | |
Dürers und anderer alter Meister selbst beigebracht. Er malte auf alten | |
Einkaufstüten aus Papier. | |
Geboren wurde Willi Sitte 1921, als Sohn eines kommunistischen | |
sudetendeutschen Gemüsebauern und eines tschechischen Dienstmädchens. Dank | |
Geldgebern gelangte er ausgerechnet an die Meisterschule von Hermann | |
Görings Lieblingsmaler Werner Peiner in Kronenburg in der Eifel, wo er 1941 | |
gegen dessen Unterricht protestierte und dafür an die Ostfront und später | |
nach Italien geschickt wurde. | |
In Italien schloss er sich den Partisanen an, malte die ganze Zeit und | |
bekam dort 1946 sogar seine erste Ausstellung. Hätte seine Familie nicht | |
den tschechischen Hof verlassen und aussiedeln müssen, wäre er dorthin | |
zurückgegangen – so aber hieß sein neues Zuhause: Sowjetische | |
Besatzungszone. | |
Seinen akkuraten Zeichenstil wollte er in der DDR erweitern, obwohl die SED | |
genau den gut fand. Am besten mit einer gehörigen Portion sozialistischer | |
Arbeitsheroik. Aber Willi Sitte sah davon nichts bei seinen | |
Betriebsrecherchen. Stattdessen sah er durstige und rauchende Typen, die | |
ihm höchstens müde zulächelten. In einem Radiobeitrag aus dem Jahr 2001 | |
erinnerte er sich. „Man kann nicht einfach die Natur abbilden“, sagte er | |
da. „Also musste man nach Möglichkeiten suchen, wie man diese Wirklichkeit | |
in eine bildhafte Wirklichkeit, in eine neue Realität umsetzen konnte.“ | |
Eine jahrzehntelange Stilsuche begann, die ihn, mit neuen Lehrmeistern, von | |
Beckmann bis Picasso, mit den Abstrakten und der Moderne, experimentieren | |
ließ. | |
Das parteiliche DDR-Feuilleton reagierte alles andere als begeistert auf | |
seinen Anspruch auf Kunstfreiheit und seine damit verbundenen | |
Werkexperimente. So schrieb etwa der damalige Chefredakteur der SED-Zeitung | |
Freiheit, Horst Sindermann, 1951: „Maler wie Willi Sitte leisten den | |
Kriegstreibern einen großen Gefallen. Wenn sie sich vom Volk abwenden und | |
Träger der schmutzigen, kosmopolitischen Schmuddeleien werden.“ | |
## Experimente sind nicht erwünscht | |
Die SED wollte in der Kunst keine schöngeistigen Experimente sehen, sondern | |
Figuren, die auch auf Propagandaplakaten wirken könnten. Der sozialistische | |
Realismus wurde zur Staatskunst und Willi Sitte wurde vorgeworfen, sich mit | |
seinen Bildern der feindlich westlichen Avantgarde anzubiedern und damit | |
für den Klassenfeind und gegen die Partei zu arbeiten. | |
Kurz nach Beginn meiner Recherchen wird das Stasi-Unterlagen-Archiv in | |
Berlin-Mitte zu einer meiner Anlaufstellen, in dem Dutzende Akten über | |
Willi Sitte liegen. | |
Während fast alle seine früheren Künstlerfreunde in die BRD auswanderten, | |
blieb er und wurde ab 1952 gezielt vom Ministerium für Staatssicherheit | |
(MfS) überwacht. Anfangs konkret durch den Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) | |
„Asta“. Der protokollierte Willi Sittes Äußerungen, die offenbar besonders | |
bedenklich klangen: Er fordere „endlich wieder, frei arbeiten zu können | |
ohne Bevormundung der Funktionäre, die ja doch nichts davon verstehen“. Es | |
folgen unzählige Berichte unterschiedlichster IM. In einem gilt Willi Sitte | |
bald als „ein ganz gefährlicher Feind“. | |
Willi Sittes gemalte Figuren entwickelten in den Folgejahren zum ersten Mal | |
so etwas wie eine eigene Sprache. Sie sind in Bewegung mit zerknitterter | |
Kleidung und scharf gezeichneten Gesichtszügen, die ein bisschen an Bilder | |
der Neuen Sachlichkeit erinnern. Kein Heldenpathos, sondern ehrliche | |
Emotionen und Müdigkeit. Die Partei indes kritisierte ihn weiter und die | |
Arbeiter, die Willi Sitte immer besuchte, waren auch nicht gerade zufrieden | |
mit der Darstellung ihrer Realität. „Ich habe meine Heimat und die Menschen | |
nie so trostlos gesehen“, sagte damals der Leiter eines Stickstoffwerks in | |
einer Ausstellung, in der auch Willi Sittes Bilder gezeigt wurden. | |
Als Sitte sich Hals über Kopf unglücklich verliebte, eskalierte die | |
Situation und er geriet in eine psychische Krise, die ihn 1961 zwei Mal | |
kurz hintereinander in den Suizidversuch trieb. Aber gleich danach malte er | |
weiter. | |
Kurz nach seinem letzten Klinikaufenthalt lernte er Ingrid Dreßler kennen, | |
seine große Liebe, die er später heiraten wird. Sie stützte ihn fortan auch | |
bei dem noch Jahre andauernden Kampf, all seine äußeren und inneren | |
Widersprüche zu integrieren. Willi Sitte war angepasst und unangepasst in | |
einem. | |
Und ich? Ich finde es irgendwie reizvoll von meinem eigentlich so | |
linientreuen Verwandten als Rebell zu lesen. Aber kaum denke ich daran, | |
stoße ich schon auf solche Stasi-Berichte: | |
„Er forderte, daß wir breiter sein müßten in der Auffassung von | |
Parteilichkeit. Er versteht darunter folgendes: Nach seiner Auffassung | |
steht er fest zur DDR und will mit seinem Schaffen dem Aufbau der DDR | |
dienen. Wenn er nun bei diesem Bestreben den besten Weg dazu zu finden | |
einmal einen Fehler begeht, dürfte es nicht vorkommen, daß man deshalb ihm | |
gegenüber laufend Vorurteile hat, wie das gegenwärtig der Fall ist, sondern | |
man soll überzeugt sein von seiner Gutwilligkeit.“ Und ich weiß nicht, was | |
mich mehr verwundert: Willi Sittes Verhalten oder dass er sich diesen | |
Zirkus antut. | |
Anfang der 1960er Jahre – es war die Phase seiner instabilsten psychischen | |
Verfassung – pflegte Willi Sitte intensiven Kontakt zu Christa Wolf, der | |
bekanntesten Schriftstellerin der DDR, die ihn als Illustrator für eine | |
Liebesgeschichte gewinnen will. Als Sitte damals für seine Studien immer | |
wieder den Waggonbau Ammendorf besuchte, leitete Christa Wolf dort zusammen | |
mit ihrem Ehemann Gerhard Wolf einen Zirkel schreibender Arbeiter. | |
Während ihrer Zeit in Ammendorf freundeten sich die Wolfs mit Sitte an und | |
besuchten ihn in seinem Atelier. Sie suchten Zeichnungen aus für Christa | |
Wolfs neues Buch „Der geteilte Himmel“, das später ein Riesenerfolg in | |
beiden Deutschlands wurde. | |
Im Dezember 1962 schrieb Christa Wolf an Willi Sitte: „Ich bin froh, daß zu | |
diesem Zeitpunkt die Vereinbarungen zwischen Dir und dem Verlag wegen der | |
Mitarbeit an meinem Büchlein schon so weit gediehen sind, daß ein | |
Zurückjucken, zu dem der Verlag sicher gern greifen würde, kaum noch | |
möglich ist. Ich freue mich auf deine Grafiken in dem Buch.“ | |
Und dann, nicht lange nachdem das Buch im März 1963 erschienen war: „Du | |
weißt, dass die Grafiken nicht auf meinen Wunsch in der dritten Auflage | |
herausgenommen werden.“ Und weiter: „Es geht wirklich in erster Linie gegen | |
die beiden Akte, bei denen die Leute das große Genieren kriegen.“ | |
Christa Wolf starb im Jahr 2011 im Alter von 82 Jahren. Ihr Ehemann lebt | |
bei meinem Besuch im Jahr 2021 noch im gemeinsamen Haus in Berlin.* Dort | |
besuche ich ihn. Vielleicht kann ich hier mehr über diese Episode erfahren. | |
## Bilder von Sitte in Büchern von Christa Wolf | |
Die Aktzeichnungen in „Der geteilte Himmel“ sind während Sittes damaliger | |
Liebesbeziehung entstanden. Authentischer hätte er gar nicht arbeiten | |
können – und doch wurden genau diese Bilder aus dem Buch verbannt. | |
Gerhard Wolf legt einen Stapel Bücher auf den Tisch. | |
„Das hier dürfte Sie interessieren! | |
„Der geteilte Himmel, ‚Für G‘ “, lese ich laut. | |
„Ja, ganz genau – das bin ich“, sagt Gerhard Wolf und zeigt auf den Einba… | |
des Buches. „Jetzt schauen Sie mal auf das Jahr und die Auflage. 2. Auflage | |
– 1963. Die letzte mit Willis Illustrationen“, sagt er und blättert durch | |
das Buch, bis er an einer Zeichnung hängen bleibt. „Die war das Problem.“ | |
Die Zeichnung zeigt eine nackte, eher zierliche Frau mit hochtoupiertem | |
Haar, die scheu auf dem Schoß eines Mannes sitzt und lächelnd zu Boden | |
schaut. Nackt ist sie, aber mit Händen auf den Brüsten. Nicht einmal ein | |
Bruchteil der Fleischlichkeit, die gut zehn Jahre später Willi Sittes Werk | |
dominiert und doch in Ausstellungen gezeigt werden darf, ist auf dem Bild | |
zu sehen. Trotzdem löst sie Empörung aus, verschwindet aus der Auflage. | |
„Mir haben solche Skizzen und vor allem seine Rötelzeichnungen immer am | |
besten gefallen“, sagt Gerhard Wolf. „Er hat ja dann diese Großgemälde | |
gemalt und, nun ja. Ein Freund hat mal gesagt: ‚Um da vorbeizukommen, | |
braucht man ja ein Fahrrad.‘ Verstehen Sie, worauf ich hinaus will?“ | |
## Plötzlich malt er riesige Bilder | |
Ab Mitte der 60er Jahre änderte sich Willi Sittes Freundeskreis – und seine | |
Bildsprache. Während die einen sich auf Kritik an der Partei | |
konzentrierten, malte Willi Sitte immer politisch affirmativer. Und zwar | |
riesige Figuren, muskelbepackt oder übergewichtig und expressiv. | |
Abgefahren, aber auch befremdlich, wenn sie dann schreiend vom | |
Vietnamkrieg, vom drohenden Faschismus im Westen und lachend vom Sieg des | |
Sozialismus erzählen. Bilder, die prominent in der DDR ausgestellt wurden. | |
Der Briefwechsel zwischen dem Ehepaar Wolf und Willi Sitte riss Ende der | |
1960er Jahre ab. Kurz bevor Willi Sitte seine existenzielle Frage nach dem | |
richtigen künstlerischen Weg damit löste, klarer und kraftvoller, aber mit | |
politisch genehmerem Inhalt zu malen. | |
„Wieso haben Sie und Willi Sitte sich voneinander entfernt?“ | |
Gerhard Wolf überlegt eine Weile. „Wir waren an unterschiedlichen Orten“, | |
sagt er. „Das war’s, schätze ich.“ | |
Bevor das passierte, wurde Willi Sittes Atelier in Halle zu einem der | |
angesagtesten Szenetreffs der DDR-Kunst. Neben den Wolfs gingen dort | |
kritische und weniger kritische Künstler ein und aus. Aber auch Willi | |
Sittes damaliger Freund, der Lyriker und Liedermacher Wolf Biermann, dem | |
die Partei für seine SED-spöttischen Texte ein Auftrittsverbot nach dem | |
anderen erteilte, kam vorbei. Er wurde von Willi Sitte an einem | |
Freitagabend im Januar 1964 in die Hochschule Burg Giebichenstein, in der | |
Sitte als Dozent und später als Professor arbeitete, eingeladen, um dort | |
aufzutreten. | |
Zum Konzert kamen viele, ein ganzer Hörsaal voller Studierender. Unter | |
ihnen Gerhard Schwarz, geboren 1940 in Halle. Heute ein hagerer Mann in | |
schwarzem Pullover und kariertem Hemd. Ich treffe den Künstler in seinem | |
Atelier in Halle-Neustadt. Wie alle anderen Studierenden damals war auch | |
Gerhard Schwarz verwundert über den Auftritt von Wolf Biermann und warum | |
der möglich war. | |
„Ich habe beim Biermann-Abend nicht geklatscht“, sagt er. „Ich dachte, man | |
will uns hinters Licht führen. Biermann hat Sachen gesagt, die konntest du | |
eigentlich nicht sagen in der DDR.“ Schwarz schaut an mir vorbei, während | |
er redet. „Willi Sitte war ein gradliniger Mensch“, fährt er fort. „Es w… | |
diese plötzlich politische Kunst – das war ja nicht ungewöhnlich, er war | |
schließlich überzeugter Kommunist. Aber diese Form – das war dann schon | |
eigenartig. Solche Riesengemälde, der dahinterstehende Aufwand, um | |
politische Dinge so monumental darzustellen, und seine späteren Aktbilder, | |
in so grotesken Farben“, sagt Schwarz. | |
„Er war ein großartiger Könner, ohne Frage. ber seinen Bildern haftete | |
irgendwann etwas Typisches an, das die ganze DDR betraf. Dieses | |
Rosa-Rötliche, also dieses Fleisch, was er malte. Dann diese oft lachenden | |
Gesichter. Das hatte was Aufgesetztes, so wie die DDR eben auch war. Ich | |
bedauere diese Leute, diese Künstler“, sagt er, „was heißt, vielleicht | |
bedauere ich sie auch nicht. Sie alle begleitet eine Tragik. Es geht mir um | |
Menschen, die eine ganz starke Begabung haben, die sich dessen auch bewusst | |
sind und wollen, dass die Öffentlichkeit das sieht. Wenn solche Leute in | |
einer Diktatur leben, dann haben sie es schwer, künstlerisch unabhängig zu | |
arbeiten.“ | |
Nach dem Gespräch mit Gerhard Schwarz konzentriere ich mich noch stärker | |
auf diese Phase der zunehmend politischen Inhalte in den Bildern Willi | |
Sittes – Ende der 60er Jahre. | |
Während die Wolfs und viele seiner Freunde etwa gegen die Zerschlagung des | |
Prager Frühlings durch das Militär des Warschauer Pakts protestierten, | |
schwieg Willi Sitte aus Angst, dass „die sozialistische Utopie zu Fall | |
gebracht“ werden könnte, wie er sich in seinen Memoiren erinnert und malte | |
in einem Bild kurz darauf einen riesigen BRD-Polizisten, der einen | |
sozialistischen Demonstranten niederknüppelt. | |
## Er fühlt sich verkannt | |
Nur, woher kommt diese Verbissenheit in seinen Bildern, die sich auch in | |
der Umgestaltung seines Freundeskreises niederschlägt? Hinweis gibt ein | |
Kommentar von ihm, den ich in einem Radiointerview höre, das er um das Jahr | |
2000 gegeben hatte. | |
„Mit den Ereignissen Biermann und dem Prager Frühling hatte die | |
Freundschaft gelitten, ist später auseinandergegangen“, sagte er da | |
zögerlich. „Was heißt auseinander. Sie haben mich bis heute anders erlebt, | |
als ich wirklich war.“ An Doppeldeutigkeit mangelt es seinem Nachlass | |
nicht, denke ich. | |
Aber noch etwas anderes erklärt sich mir nicht. Zuerst lädt Willi Sitte | |
Wolf Biermann in die Hochschule ein, später will er, dass der die DDR | |
verlässt? | |
Um das zu verstehen, muss ich Wolf Biermann am besten selbst fragen. Vor | |
einer Lesung seines neuen Buches „Mensch, Gott!“ spreche ich ihn an. „Herr | |
Biermann, sind Sie aufgeregt?“ | |
„Nein, ich will aufregen.“ | |
„Sie werden doch sicher heute auch etwas von den alten Dissidentenliedern | |
singen, oder?“ | |
„Okay. Was wollen Sie?“ | |
„Ich will mit Ihnen über Willi Sitte sprechen.“ | |
Wolf Biermann hebt die Augenbrauen. „Er ist mein Urgroßonkel“, sage ich | |
noch schnell. | |
„Sittes Spross!“, sagt Biermann. Er verschränkt die Arme. „Dein Urgroßo… | |
war ein großer Maler, ein großer Künstler“, sagt er langsam, „aber ein | |
kleiner Mensch.“ | |
„Ein kleiner Mensch?“ | |
„Ja“, sagt Biermann, „ich denke da an den Schriftsteller Heiner Müller, … | |
sagte mir: ‚Wolf, es gibt auch ein Recht auf Feigheit.‘ Und da bin ich | |
seiner Meinung.“ | |
„Feigheit?“ | |
„Ganz recht.“ | |
„Ihre Freundschaft ist zerbrochen.“ | |
„Wir haben uns zerfreundet“, sagt er. | |
## Der Mann, der Fleischberge malte | |
Der Tontechniker räuspert sich, drängt zur Eile. „Er hat mich gerade zu | |
Willi Sitte befragt“, höre ich Biermann zu ihm sagen. „Willi Sitte – der, | |
der mein Freund war. Na, der diese Fleischberge gemalt hat.“ | |
„Moment noch“ sage ich. | |
Er macht eine abwinkende Bewegung. „Was wolltest du mich fragen?“ | |
„Sie sind bei Willi Sitte in der Burg Giebichenstein aufgetreten. Er hatte | |
Sie eingeladen“, beginne ich und Biermann nickt wieder. | |
„Die Bilder, von denen Sie eben sprachen, die hatte er doch hauptsächlich | |
später gemalt“, sage ich. | |
„Ja, die Fleischberge! – und weißt du, wie die entstanden sind?“ | |
Ich schüttele den Kopf. | |
„Indem er seine ganze Feigheit vor der Partei in diese kraftstrotzenden | |
Bilder gemalt hat, ist doch klar! Das war die Kraftprotzerei eines | |
Schwächlings. Der Angst hatte. Im Streit der Welt. Verstehst du?“ | |
Ich sehe offenbar nicht so aus, als würde ich es verstehen. | |
„Angst kompensiert man. Aber nicht mit Absicht“, sagt Biermann, „das | |
passiert einem. Alles, was Willi Sitte an Kraft fehlte, sich mit den | |
Unterdrückern im Streit einzulassen, knallte er in die Bilder rein.“ | |
„Hm“, mache ich. | |
„Weißt du, warum ich bei meinem Auftritt in der Hochschule Dinge sagen | |
konnte, die sonst keiner sagen konnte?“ | |
Gerade als ich antworten will, tippt sich Biermann auf die Brust. „Nicht, | |
weil ich vom Charakter so ein Mensch bin. Sondern, weil ich durch Zufall | |
der Geburt aus einer Kommunisten- und Judenfamilie kam“, sagt er. „Während | |
die anderen – nicht alle, aber fast alle – Nazikinder waren. Sitte war ein | |
Nazisoldat, der zu den Partisanen übergelaufen ist. Was sein moralisches | |
Pfund war, von dem er gelebt hat – mit Recht. Klar ist aber auch, dass ich | |
der Drachentöter war, der viel radikaler mit den Bonzen der Diktatur | |
gesprochen hatte als die Nazikinder, die sich schämten für ihre Eltern und | |
deswegen, Goethe würde sagen, lumpenhaft bescheiden waren. Das spricht ja | |
für sie, dass sie sich überhaupt schämten. Und so hast du keine Schuld | |
daran, dass Sitte ein Feigling, aber auch keinen Verdienst daran, dass er | |
ein großer Maler war.“ | |
## Ein neuer Versuch zu verstehen | |
Ich schlucke ein sinnloses Aber herunter. Was soll ich darauf antworten? | |
Willi Sitte hat sich für seine Kunst mit denen umgeben, die Biermann in | |
seiner eigenen verspottet hat. | |
Aber. | |
Aber so richtig stellt mich Biermanns Erklärung, wie jemand mal jasagender | |
Neinsager, mal neinsagender Jasager wird, doch nicht zufrieden. Ein paar | |
Wochen später höre ich ein Radioporträt der Regisseurin Marina Farschid aus | |
dem Jahr 2001 über Sitte, in dem er über seine Gemälde spricht. Auch über | |
dieses eine, „Am kalten Buffet“. Ein Bild, das einen fülligen, mit Orden | |
behängten Funktionär zeigt, der gierig mit einem Snackspieß vor einer gut | |
gefüllten Speisetafel steht. Es ist 1974 entstanden. In diesem Jahr wurde | |
Willi Sitte zum Präsidenten des Verbandes Bildender Künstler der DDR | |
gewählt, wurde zum Kulturfunktionär, und Szenen wie „Am kalten Buffet“ | |
wurden Teil seines Alltags. | |
„Dieses Thema habe ich ein paar Mal gemalt“, sagt er in dem Radioporträt. | |
„Die Atmosphäre am kalten Buffet. Menschen erleben zu können – und so sah… | |
die auch meistens aus: gut beleibt, nur auf das aus, sozusagen auf den | |
Höhepunkt des Abends, das war das kalte Buffet. Alles das widerte mich | |
immer an. Aber man war ja gezwungen, man war mittendrin.“ | |
Denn 1974 war Sitte mit dem Anspruch angetreten, den Verband Bildender | |
Künstler der DDR sowie die Stellung der Kunst in der DDR grundlegend | |
umzukrempeln. Und zwar schnell und mit einem Wahnsinnskalkül. „Man konnte | |
oben etwas bewirken“, sagte er 1992 in einem Zeitungsinterview, „je weiter | |
oben, desto besser. Es ist ein Prozess gewesen. Das politische Umfeld hatte | |
sich verändert, als Erich Honecker antrat. Es gab große Hoffnungen unter | |
den Künstlern, dass wir nun vieles realisieren könnten.“ Mehr Geld, mehr | |
Anerkennung, aber vor allem mehr Freiheiten. | |
Der ehemals gescholtene Künstler wurde so zu einem der mächtigsten | |
Kulturpolitiker der DDR. Er ließ sich in die Volkskammer, das Parlament der | |
DDR, wählen, später dann auch in das Zentralkomitee der SED. Dort betonte | |
er immer wieder die „schöpferische Kraft“ der Kunst zum Aufbau des | |
Sozialismus und feilte so an seiner Funktionärsrhetorik, um in seinen | |
Reden unmissverständlich klarzustellen, dass für die Partei ohne seinen | |
Verband eigentlich gar nichts laufe und nicht umgekehrt: | |
„In einer solchen kameradschaftlichen und verantwortungsbewußten | |
Gemeinsamkeit wollen wir uns für eine weitere gute Entwicklung unseres | |
Verbandes einsetzen. Wir verstehen das als unseren Beitrag zum weiteren | |
Aufbau der sozialistischen Gesellschaft und für die kommunistische Zukunft. | |
Verlieren wir daher keine Zeit!“ | |
Die Partei war zufrieden und vor allem die Künstler des Verbandes spürten, | |
dass es bergauf ging. Waren sie unter Walter Ulbricht „die am weitesten | |
Zurückgebliebenen“ der Gesellschaft, zählten sie unter Honeckers Regierung | |
und Willi Sittes geschickter Lobbyarbeit bald zu den privilegiertesten | |
Berufsgruppen der DDR. So entwickelte sich in seiner Amtszeit ein | |
staatlicher Kunsthandel, der sogar Werkverkäufe ins Ausland ermöglichte. In | |
seinen vierzehn Jahren als Präsident wuchs der jährliche Etat für den | |
Verband Bildender Künstler von fünf auf neun Millionen DDR-Mark, und das | |
Publikum bei den alle fünf Jahre stattfindenden „Kunstausstellungen der | |
DDR“ verdoppelte sich. | |
Außerdem wurden die Künstler und Künstlerinnen durch die in der DDR | |
typische Einbeziehung der Kunst in die Produktion und Bildung dauerhaft von | |
Betrieben, Kultur- und Lehreinrichtungen mit Aufträgen versorgt, und einige | |
von ihnen konnten später sogar in den Westen reisen. | |
Nur gab es bei all diesen sonnigen Aussichten einen Haken: Nicht jeder | |
konnte sich einfach Künstler nennen und schon gar nicht die Kunst | |
betreiben, die er wollte. Denn dafür musste man im Verband Bildender | |
Künstler sein. Dann bekam man eine Steuernummer, durfte Aufträge | |
entgegennehmen und ordnungsgemäß arbeiten. | |
Wer aber keiner geregelten Arbeit nachging, galt nach DDR-Recht als | |
„asozial“, und wer im Verband sein wollte, hatte sich auch nicht mit Kunst | |
aufzuhalten, die sich zu sehr vom sozialistischen Realismus weg bewegte. | |
Zumindest wurde solche nicht gefördert und auch nicht in Obhut genommen, | |
sobald die Partei mit Rügen oder die Stasi mit Überwachung reagierte. Es | |
war also besser, im Verband zu sein, den Willi Sitte bis 1988, also fast | |
bis zum Ende der DDR, vertrat: „Letztendlich gehörte ich auch mit dazu. Und | |
ich fühlte mich in dem Falle auch mit als Funktionär“, sagte er im Jahr | |
2001. | |
## Keine Antwort | |
Zwanzig Jahre später, im November 2021, wird in Halle auf einer Konferenz | |
über Willi Sitte drei Tage lang über diesen Zwiespalt diskutiert. Wo fängt | |
Freiheit an und wo endet sie? „Willi Sitte – eine exemplarische Biografie | |
zwischen Kunst und Macht“, so der Titel der Veranstaltung. | |
Drei Tage, Dutzende geladene Gäste, Zeitzeugen, Experten, Künstler und | |
Kunsthistoriker, Freunde, aber auch Feinde Willi Sittes sind angereist. Ich | |
erhoffe mir Erklärungen, warum Sitte so beliebt und so verhasst war, dass | |
ihm bis heute das Label „umstrittenster Künstler der DDR“ anhaftet. | |
Eine Antwort auf meine Frage bekomme ich nicht. | |
Deshalb kehre ich immer wieder zum Ausgangspunkt meiner Recherche zurück. | |
Zu diesem unbekannten Gemälde vom Dachboden meiner Großmutter. Es trägt den | |
Titel: „Die Heilige Familie“. Willi Sitte hatte es meinem Urgroßvater, | |
seinem Bruder, 1940 zu dessen Hochzeit geschenkt. Es liegt jetzt auf dem | |
Dachboden meiner Eltern. Meine Großmutter hatte sich das gewünscht. | |
*Gerhard Wolf ist am 7. Februar 2023 im Alter von 94 Jahren gestorben. | |
Aron Boks ist Stipendiat der taz-Panter-Stiftung. Sein Buch “Nackt in die | |
DDR“ erscheint am 21. Februar im Verlag HarperCollins. Die Buchpremiere | |
findet am 28. Februar im Pfefferberg-Theater in Berlin statt. Weitere | |
Termine auf: [2][https://www.aronboks.de/veranstaltungen] | |
8 Feb 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Willi_Sitte | |
[2] https://www.aronboks.de/veranstaltungen | |
## AUTOREN | |
Aron Boks | |
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Unser Autor ist zum ersten Mal auf der Frankfurter Buchmesse. In diesem | |
Tagebuch berichtet er von seinen Eindrücken. Tag 1: Deutscher Buchpreis. | |
Buch über Architektur der DDR: Exportschlager Weltflucht | |
Die DDR exportierte global Architektur. Doch preußischer und | |
internationaler Kommunismus waren nur schwer vereinbar, wie ein neues Buch | |
beschreibt. | |
Picasso-Rezeption in BRD und DDR: Der Trumpf-Trink-fix-Deal | |
Die Ausstellung „Der geteilte Picasso. Der Künstler und sein Bild in der | |
BRD und der DDR“ in Köln erzählt spannend von Bildern im Gebrauch. | |
DDR-Kunst in Eberswalde: Das allzeit optimistische Personal | |
Eberswalde zeigt Walter Womacka. Der Staatskünstler soll damit nicht | |
rehabilitiert werden. Er dient als Gegenstück zu Agit-Pop-Künstler Hans | |
Ticha. | |
Eugen Ruge über die DDR: „Wir waren keine Deutschen“ | |
Ostdeutsche vermissen Ostdeutschland: Der Schriftsteller Eugen Ruge im | |
Gespräch über Stalinismus, Verlust und heutige Befindlichkeiten im Osten. |