| # taz.de -- Buch über russische Redskins: Blut auf kaltem Schnee | |
| > Eine aufgeladene Erzählung über die russische Redskin-Szene erscheint auf | |
| > Deutsch. Es ist ein Portrait einer erschütterten Gesellschaft. | |
| Bild: Existenzialistischer Kampf gegen die Gesellschaft. | |
| Plötzlich tauchen sie auf. Ausgestattet mit Eisenstangen, zerbrochenen | |
| Wodkaflaschen und der Bereitschaft zu extremer Gewalt, erheben sie sich | |
| gegen die Korrupten in ihrem Land und gegen die extremen Rechten in ihrer | |
| Stadt. Es sind radikale Anarchisten, kämpfend stehen sie für die „Krüppel, | |
| die Kranken, für die Dummen, die Versager, die alle einen beschissenen | |
| Wahnsinnsanteil an der Bevölkerung ausmachen“ ein. | |
| Mehrere Jahre kursierte der Roman „Exodus“ im Internet, ehe die russische | |
| Literaturzeitschrift Snamja ihn 2010 erstmals veröffentlichte. Zugleich | |
| warnte der Chefredakteur im Vorwort vor seiner Brutalität. Der Autor | |
| selbst, damals nur bekannt unter dem Pseudonym DJ Stalingrad, gehört der | |
| darin porträtierten linksradikalen Red-Skin-Szene an. | |
| In kurzen Sequenzen lässt der Autor in seinem Debüt den Protagonisten | |
| Erinnerungen aus dem Untergrund wachrufen. Filmbildartig reiht er Heroin, | |
| Wodka, Demonstrationen, Hardcore-Konzerte und Verhaftungen aneinander. | |
| „Kälte, Schnee, knallrotes Blut auf kaltem Schnee“ – seine Szenen sind | |
| ästhetisch aufgeladen. Die Brutalität der Bilder – zu Hackfleisch | |
| zerschlagene Köpfe und in alle Richtungen fliegenden Zähne – ist plastisch | |
| vorgeführt. | |
| In Moskau 1985 geboren, arm und von den Eltern verlassen, erfand DJ | |
| Stalingrad einen Protagonisten aus Zügen seiner eigenen Biografie. Die | |
| namenlose Erzählerfigur ist ein Außenseiter, ein „Fünferkandidat mit | |
| pubertärem Bartflaum“. Seiner Welt tritt er mit Verachtung entgegen, aus | |
| seinen Sätzen spricht Misanthropie: „Rindviecher, die nach Auschwitz | |
| gehören“, „modische Schwuchteln“ und „Typen in Wichserjacken“. | |
| ## Psychodelische Finsternis | |
| Selbst lichte Momente lässt der Erzähler im Irrsinn versinken: Der | |
| furchtlose Fedja ist Kamerad und Vorbild, doch er wird von rechten Skins | |
| erstochen. Obdachlosen will er helfen, aber sie krepieren in ihren eigenen | |
| Exkrementen. Eine psychedelische Finsternis liegt über der Erzählung, in | |
| der sich die extremen Gestalten der russischen Gegenwartsgesellschaft – | |
| Nationalbolschewisten, radikale Orthodoxe, Soldaten aus Tschetschenien – | |
| wie Fratzen auftun. | |
| Ergeben, ja berauscht wirft sich der Jugendliche schließlich in sein | |
| Schicksal. „Siehe, du bist verdammt“, soll der Herrgott selbst ihm gesagt | |
| haben und fortan als „Belohnung und Angst“ in sein Herz getreten sein. In | |
| seinem enthusiastischen Fatalismus ersehnt er sich ein totales Barbarentum, | |
| hegt Sympathien für den Unabomber oder den Junkie-Rocker GG Allin. | |
| „Exodus“ ist drastisch und provokativ. Doch im Verlauf des Romans wird | |
| deutlich, dass sich hinter den Aggressionen des Erzählers die | |
| Aussichtslosigkeit und die Verzweiflung seines ganzen Umfeldes verbergen. | |
| Aus den fragmentarischen Erinnerungen schält er das Porträt einer | |
| erschütterten Gesellschaft. | |
| „Der Russe“, überlegt er, „leidet unter einem schrecklichen Bruch im | |
| Bewusstsein: der Kluft zwischen seiner feinen Bildung und der Dunkelheit | |
| seines realen Lebens.“ Schreibend sucht er einen Ausweg aus diesen | |
| Zuständen. Es ist eine existenzialistische Suche, die weit über sein Milieu | |
| bis zu uns hinausreicht. | |
| In Griechenland schrieb DJ Stalingrad Ende 2008 diesen Aussteigerroman. Als | |
| sein Name 2010 wegen Rowdytums auf der russischen Fahndungsliste landete, | |
| verließ er gänzlich das Land. Im finnischen Exil hat er mittlerweile seinen | |
| bürgerlichen Namen Piotr Silaev bekanntgegeben und macht als Journalist | |
| weiterhin Opposition. | |
| Seinen Roman lässt er überraschend enden. In kommentierenden Passagen – ein | |
| Zusatz, der bislang nur in der deutschen Ausgabe erscheint – blickt der | |
| Autor, plötzlich ernüchtert, auf die eigenen Worte und entwirrt die | |
| gewalttätigen Bilder. In dieser Schizophrenie entlässt Silaev den Leser | |
| moralisch gespalten, abgestoßen, zerschlagen, angefixt und eingewickelt in | |
| den Krieg am Rande einer russischen Großstadt. | |
| 9 Sep 2013 | |
| ## AUTOREN | |
| Sophie Jung | |
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