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# taz.de -- Buch von Götz Aly über Antisemitismus: Auf Biegen und Brechen
> Der Historiker skizziert ein facettenreiches Panoramabild des
> Antisemitismus in Europa von 1880 bis 1945. Er zwängt das Material in ein
> zu enges Korsett.
Bild: Aus Neid, aus Hass auf die Moderne, aus nationalistischen Motiven verfolgt
In den frühen Morgenstunden wurde das jüdische Viertel in Lemberg mit
Maschinengewehren und Panzerautos umringt. Soldaten brachen Türen auf,
warfen Handgranaten in Wohnungen und plünderten. Sie brüllten: „Jude, deine
Börse her!“, legten Brände und verrammelten die Türen. Auf alles Bitten und
Flehen hatten die Söldnerscharen ihre stereotypen Antworten: „Die Juden
mögen sich nur braten, es werde jüdischen Speck geben“, schrieb der
Militärarzt Joseph Tenenbaum, der das Geschehen später rekonstruierte. Am
nächsten Morgen wurde die Synagoge in Brand gesteckt.
Das Pogrom war kein spontaner Ausbruch, sondern von der militärischen
Führung exakt geplant. 72 Juden wurden ermordet, 443 verletzt. Die Täter
waren keine Wehrmachtsoldaten, der Exzess trug sich nicht 1941 zu, sondern
1919. Polnische Soldaten feierten mit dieser Gewalttat am 22. November 1919
in nationalem Überschwang die Unabhängigkeit der polnischen Republik. Die
Gewalt gegen die zum inneren Feind erkorenen Juden in Lemberg, so der
Historiker Götz Aly, sollte „den Zusammenhalt der soeben zu Freiheit und
Selbstbestimmung gelangten Polen festigen“.
Lemberg war kein Einzelfall. In den chaotischen Bürgerkriegswirren nach dem
Ersten Weltkrieg fanden allein in der damals kurzzeitig unabhängigen
Ukraine mehr als 1.000 Pogrome statt, begangen von Polen, ukrainischen
Nationalisten, marodierenden Truppen, Weißgardisten, Kosaken und sogar
Anarchisten, denen, Schätzungen zufolge, mehr als 100.000 jüdische
Zivilisten zum Opfer fielen. Die Brutalisierung des Ersten Weltkriegs, der
entfesselte Bürgerkrieg waren die eskalierenden Faktoren bei diesen
Gewaltausbrüchen, allerdings waren sie nicht der Grund. Der säkulare
Antisemitismus hatte, wenn man Götz Alys panoramahafter Studie über die
Judenfeindschaft in Europa nach 1880 folgt, andere, tiefere Motive.
Der wachsende Hass auf die jüdischen Minderheiten war ein Effekt der
nationalistischen Bewegungen, die auf den Trümmern der zusammenbrechenden
multiethnischen Großreiche Russland, osmanisches Reich und K.-u.-k-Dynastie
wuchsen. In den neuen, jungen Staaten, von Griechenland bis Ungarn und
Polen, machte sich im frühen 20. Jahrhundert ein aggressiver Nationalismus
breit, der alles, was anders war, diskriminierte und unterdrückte. Die Idee
der ethnisch reinen Nation war ein Brandbeschleuniger für militante
Judenfeindschaft. „Europa gegen die Juden“ führt diesen Zusammenhang, der
nicht ganz neu ist, anschaulich vor Augen.
## Hass auf die Emanzipation der Juden
Ein zweites Schlüsselmotiv war die mit dem Niedergang der feudalen
Kastensysteme und der Morgenröte der bürgerlichen Gesellschaft verbundene
Emanzipation der Juden, die seit dem 19. Jahrhundert, im Westen rascher als
im Osten, auf dem Kontinent Fuß fasste. Juden standen neue Berufe offen.
Viele ergriffen, mit dem für Minderheiten typischen Schwung, die
Möglichkeit aufzusteigen und Anwalt, Arzt oder Unternehmer zu werden. Genau
das mobilisierte die judenfeindlichen Phobien.
Den Historiker Heinrich von Treitschke, der 1879 den Antisemitismus in
Deutschland salonfähig machte, trieb die Angst um, dass die Kinder der
aufstrebenden Juden bald „Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen“
würden.
Als typisches Beispiel zeichnet Aly die Lage in Ungarn. Dort stellte die
jüdische Minderheit 1920 kaum 6 Prozent der Bevölkerung, aber 51 Prozent
der Rechtsanwälte, 39 Prozent der Ingenieure und Chemiker, 34 Prozent der
Journalisten und etwa 50 Prozent der Ärzte. Die rechte Horthy-Regierung
erließ einen Numerus clausus für jüdische Studenten, später Berufsverbote,
um die ungarische Mehrheit zu schützen.
Die Furcht vor der jüdischen Konkurrenz war, folgt man Aly, die Folie für
die effektive Unterstützung des Holocausts durch das Horthy-Regime, das
1944 mehr als 400.000 ungarische Juden in die Vernichtungslager des
NS-Regimes deportieren ließ. „Nicht die Gaskammern in Auschwitz erschienen
ungarischen Politikern und christlichen Bürgern als Erfüllung ihrer
judenpolitischen Visionen, wohl aber die Enteignung und die Deportation mit
unbekanntem Ziel“, so Aly. So erscheint der mal aggressive, mal verhaltene
Versuch vieler europäischer Nationalisten, sich die Juden vom Leib zu
halten, als eine Bedingung für die reibungslose Abwicklung der Vernichtung.
## Neid als zentraler Grund
Die Idee, Antisemitismus als europäisches Phänomen von Athen bis Budapest,
von Paris bis Berlin zu deuten, ohne den Holocaust direkt in den
Mittelpunkt zu rücken, ist originell. Darin nach heimlichen
Entschuldungswünschen zu fahnden, ist keinen Gedanken wert, gerade bei
einem Historiker, ohne den die hiesige Holocaustforschung um einiges ärmer
wäre.
Aly versteht es, Quellen und wechselnde Schauplätze geschickt, manchmal
suggestiv in kühnen Bögen zu montieren. „Europa gegen die Juden“ changiert
zwischen historischem Essay und faktenreicher Studie. Das Buch ist flüssig
geschrieben. Das ist bei deutschen Historikern nicht der Normalfall.
Wie schon in Alys letztem Buch „Warum die Deutschen?, Warum die Juden?“
erscheint Neid auf die Erfolgreichen als zentraler Grund des
Antisemitismus. Die ungarischen, rumänischen und griechischen
Nationalisten, die 1920 Juden aus Universitäten und Unternehmen drängten
und die Planer des Holocaust im Reichssicherheitshauptamt 1941 verbindet
ein ähnlicher Antrieb. Täter, Zuschauer und Plünderer hassen in den Juden
jene, die mit dem wuchtigen Konkurrenzdruck der kapitalistischen Moderne
besser fertig werden.
Am Grund des Antisemitismus leuchtet somit Aly zufolge ein
antikapitalistischer Affekt. Die Diskriminierung, Verfolgung und letztlich
Vernichtung der Juden ist die Rache der Mehrheit an der geschickteren,
klügeren Minderheit. Das ist hier der rationale Kern des Antisemitismus,
ja, trotz einiger pflichtschuldig notierter Einschränkungen, der
Universalschlüssel zu dessen Verständnis.
## Was nicht ins Bild passt
Das ist nicht falsch, so wie es nicht falsch ist, am Äquator nach Norden zu
zeigen, wenn jemand fragt, wo New York liegt. Was stört, verdrießt,
irritiert, ist, wie stark der Autor das Material formatiert und alles
überblendet, was die These verkleinern und einschränken würde.
Mit einer Randbemerkung wird der traditionelle christliche Antisemitismus
als Movens beiseite gewischt. Unstrittig ist, dass die Pogrome in Osteuropa
mit Verstädterung und Moderne rasant zunahmen. Doch das Grundmuster –
Ausgrenzung, Enteignung, Deportation – existierte in Russland seit dem
Mittelalter. Im 18. Jahrhundert, vor dem liberalen Kapitalismus, wurden die
Juden in Russland „zum Schutz der Bevölkerung gegen das Unrecht jüdischer
Konkurrenz“ verbannt. Weil die Vorgeschichte des ritualisierten
Antisemitismus fehlt, erscheint der Neid auf die jüdische Konkurrenz
ausschließlich als Produkt des Antiliberalismus.
Zudem spukt durch dieses Buch ein weißer Elefant. Wen das Tempo der
kapitalistischen Moderne überforderte, fand im ehrgeizigen, urbanen Juden
in Budapest, Berlin oder Thessaloniki, der die Karriereleiter hinaufsprang,
ein Ventil für seine Wut. Doch das Gros der jüdischen Bevölkerung, das dem
Holocaust zum Opfer fiel, passte nicht in dieses Bild: Sie hatten nicht
studiert, wohnten nicht in Metropolen, sondern in Dörfern und Kleinstädten
und waren oft bettelarm. Diese offenkundige Leerstelle in seiner
Erklärungskette versucht Aly durch den Verweis auf den Essay des linken
Zionisten Ber Borochow von 1917 zu füllen, der glaubte beobachtet zu haben,
dass jüdische Schuster und Weber in Osteuropa wendiger als ihre
christlichen Konkurrenten mit dem Veränderungsdruck klarkamen. Dieser
schüttere Beleg überzeugt nur, wer ohnehin an Sozialneid als Schlüsselmotiv
glaubt.
Aly, zu dessen Stärken das Abwägende und Besonnene nicht gehört, versucht
auf Biegen und Brechen den Antisemitismus als antiliberale Gewalt zu
deuten. So zwängt er die Komplexität des judenfeindlichen Syndroms in ein
straffes ideologisches Korsett. Warum aber fanden sich nach 1933 in
Deutschland Konservative und Katholiken, Kommunisten und Protestanten,
Adelige, Sozialdemokraten und Deutschnationale im Widerstand gegen Hitler
wieder – aber keine Liberalen? „Europa gegen die Juden“ überschätzt die
materielle Konkurrenz und unterschätzt historisch gewachsene Mentalitäten.
So wird ein Ausschnitt zum ganzen Bild. Zu dem gehört, dass die Juden nicht
nur als Konkurrenten gefürchtet wurden. Die Täter verachteten, hassten,
demütigten ihre Opfer auch, weil sie rückständig, verarmt, elend, schwach
und schutzlos waren. Götz Aly betreibt viel Aufwand, um diese schlichte
Einsicht beiseite zu schieben.
22 Feb 2017
## AUTOREN
Stefan Reinecke
## TAGS
Antisemitismus
Ukraine
Moderne
Kapitalismus
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