# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Totschlagen und andere Begabungen | |
> Was von Darwin übrig blieb und kuriose Blüten trieb, wie zum Beispiel die | |
> Erfindung des Sieger-Gens. Erkundungen rund um den 200. Geburtstag von | |
> Charles Darwin. | |
Bild: Aus Darwins Notizbuch: Bildliche Darstellung der Evolutionstheorie als St… | |
Fragt das Schlammerl den Philipp: "Wann haben Sie zum ersten Mal das | |
Sieger-Gen gespürt?" Sagt der Philipp zum Schlammerl: "Vom ersten Tag an." | |
Der Philipp heißt mit Nachnamen Laux und arbeitet als Sportpsychologe für | |
einen Münchner Fußballclub. Das Schlammerl heißt mit Vornamen Elisabeth und | |
arbeitet als Sportjournalistin für eine Frankfurter Zeitung. Das mit dem | |
Sieger-Gen bezog sich auf den FC Bayern. Es war damit aber nicht das viele | |
Geld gemeint, das die Manager ausgeben, um Spieler einzukaufen. Schlammerl | |
zum Philipp: "Kann man dieses Sieger-Gen psychologisch erklären?" Philipp | |
zum Schlammerl: "Ja, zum Teil." | |
Der kuriose Versuch, ein Gen psychologisch zu erklären, wenn auch nur ,zum | |
Teil', stand vor einigen Wochen ausgerechnet in jenem Blatt, das am 7. Juni | |
2000 mit dem Abdruck einer Teilsequenz des menschlichen Genoms den Beginn | |
des biowissenschaftlichen Jahrhunderts zu markieren meinte. Über sechs | |
FAZ-Seiten marschierten lange Kolonnen von Gs und As, von Ts und Cs, die | |
Chiffren der Basen Guanin, Adenin, Thymin und Cytosin, aus deren Paarungen | |
die sogenannte ,Strickleiter' der DNA besteht. | |
Weil die Basen mit Buchstaben abgekürzt werden, ist häufig die Metapher vom | |
,Buch des Lebens' zu lesen. Moleküle in Zellkernen sind aber keine | |
Buchstaben, chemische Verbindungen keine Leitern und Zellen keine Texte. | |
Man sollte Sachverhalte in der Natur nicht mit den Metaphern verwechseln, | |
mit denen sie je nach historischer Epoche kulturell codiert werden. | |
Um an die Geschichtlichkeit unserer Vorstellungen am Beispiel des | |
Gedächtnisses zu erinnern: In der Antike wurde die Gegend hinter der Stirn | |
gern mit einer Wachstafel verglichen, in die ein Griffel seine Spuren | |
ritzt. Mit der Erfindung der Uhr kam es zu einer Epidemie der | |
Uhrwerkmetapher: Von der göttlichen Schöpfung über den fürstlichen Staat | |
bis zur menschlichen Seele schien nun alles wie Uhren zu funktionieren. | |
Nach der Verbindung von Mechanik und Mathematik durch Pascal und Leibniz | |
galten Geist und Gedächtnis als eine Art höhere Rechenmaschine. Und heute | |
stellen sich die Gehirne der Leute die Gehirne der Leute wie Computer vor | |
oder, nächste Steigerung in der Metaphernkette, als Netzwerk von Computern. | |
Es wird nicht lange dauern bis man das Gedächtnis mit virtuellen | |
Speicherwolken vergleicht ähnlich denen beim ,Cloud Computing'. | |
Das alles sind Sinnbilder, metaphorische Veranschaulichungen, die sich im | |
öffentlichen Gebrauch zu Phrasen verfestigen. In den Hohlformen der Phrasen | |
bieten die Menschen einander ihre Meinungen über unverstandene Sachverhalte | |
an. Dass etwas ,in den Genen liegt', ist ein Beispiel für die Gemeinplätze | |
meinungsstarker Kenntnisschwäche. | |
Während die Erbinformationen in der Natur der genetischen Evolution | |
unterliegen, unterliegen die Vorstellungen, die sich die Menschen darüber | |
machen, der kulturellen Entwicklung. Man könnte die darwinistische | |
Stammbaummetapher auf die darwinistische Metapher vom Stammbaum anwenden. | |
Das soll auch gleich probiert werden - wenigstens zum Teil. | |
Es wird sich zeigen, dass die Verwandtschaftsbeziehung zwischen dem | |
neumodischen Genfetischismus und den altmodischen Erblehren der | |
Verwandtschaftsbeziehung zwischen Menschen und Affen nicht unähnlich ist. | |
Der eine stammt nicht direkt vom anderen ab, aber beide haben gemeinsame | |
Vorfahren. Und da scheint es rezessive Gene beziehungsweise rezessive | |
Gedanken zu geben, die an unerwarteten Stellen wirksam werden. | |
Jedenfalls erinnert manche seit der angeblichen ,Entzifferung des Genoms' | |
im Jahr 2000 kursierende Phrase an das Veranlagungsgerede vor der | |
tatsächlichen Entdeckung der Doppelhelixstruktur der DNA durch Watson und | |
Crick im Jahr 1953. Und die ältere Erblehre ruhte wiederum in einer | |
ideologischen Tradition, die vom Vulgärdarwinismus der kolonialistischen | |
Rassegedanken bis zum Vernichtungsdarwinismus der nationalsozialistischen | |
Rassengesetze führte. | |
Worin bestehen die Gemeinsamkeiten zwischen dem aktuellen Genfetischismus, | |
der sozialdarwinistischen Vorstellung vom Überleben des Stärksten, der | |
kolonialistischen und schließlich der faschistischen Rassentheorien? In der | |
Erklärung kultureller durch natürliche Unterschiede, in der Rechtfertigung | |
sozialer durch natürliche Ungleichheit, in der Verwandlung | |
naturwissenschaftlicher Begriffe in kulturelle Metaphern, die dann in einem | |
ideologischen Rückkoppelungseffekt wiederum für die ,Natur der Sache' | |
gehalten werden. | |
Eine der beliebtesten und zugleich gefürchtetsten Phrasen ist die vom | |
,survival of the fittest'. Die Wendung stammt nicht von Charles Darwin, | |
sondern von dem Philosophen und Soziologen Herbert Spencer. Allerdings hat | |
Darwin sie in eine spätere Auflage seines Hauptwerks aufgenommen. Spencer | |
übertrug Darwins Überlegungen zur natürlichen Evolution auf die Entwicklung | |
von Gesellschaften und kann als einer der ,Klassiker' des Sozialdarwinismus | |
gelten. Der ideologischen Wertverschiebung zwischen Darwin und Spencer | |
entspricht eine ideologische Wortverschiebung: von "favoured" zu "fittest". | |
Darwins 1859 erschienenes Hauptwerk hieß: "On the Origin of Species by | |
Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the | |
Struggle for Life". Darwin spricht von "favoured races", was bei den ersten | |
deutschen Ausgaben mit "begünstigten Rassen" übersetzt wurde. | |
Darwin spricht also nicht vom Erhalt der Stärksten, sondern von dem der | |
Begünstigten. Diejenigen Rassen, die von der Natur begünstigt sind, | |
erhalten sich in einer bestimmten natürlichen Umwelt am besten, jedenfalls | |
so lange, bis sich die Umwelt ändert und das, was einmal von Vorteil war, | |
unter neuen Bedingungen zum Nachteil wird. Analogisch korrekt aufs Soziale | |
übertragen, würde sich das so anhören: Diejenigen Klassen, die von der | |
Gesellschaft begünstigt sind, erhalten sich in einer bestimmten sozialen | |
Umwelt am besten, jedenfalls so lange, bis sich die soziale Umwelt ändert - | |
zum Beispiel durch eine Revolution - und das, was einmal von Vorteil war, | |
unter neuen Bedingungen zum Nachteil wird. | |
Die naturalistische Reduktion - um wissenschaftlich auszudrücken, was im | |
politischen Nahkampf als ideologischer Trick funktioniert - ist eine halbe | |
Sache und vielleicht deshalb ganz erfolgreich. Einerseits wird bei der | |
Übertragung des Selektionsgedankens auf gesellschaftliche Verhältnisse die | |
natürliche Umwelt durch die soziale ersetzt, andererseits aber die | |
natürliche Begünstigung gerade nicht durch eine soziale. Vielmehr wird die | |
soziale Begünstigung durch (angebliche) natürliche Stärke gerechtfertigt. | |
Und dafür eignet sich Spencers "fittest" besser als Darwins "favoured". | |
Das ,survival of the fittest' wurde in Deutschland von dem Mediziner und | |
Zoologen Ernst Haeckel bekannt gemacht. Er war der große Popularisierer der | |
Evolutionstheorie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Seine Ideen | |
wirken bis heute nach. Beispielsweise die symbolisch beeindruckende, | |
wissenschaftlich naive und ideologisch folgenreiche Vorstellung eines | |
evolutionären Stammbaums mit Wurzel und Wipfel, mit Hauptstamm, Ästen und | |
Zweigen: Symbolisch beeindruckend, weil der Baum der Evolution an den Baum | |
des Paradieses in der Genesis anschließt; wissenschaftlich naiv, weil die | |
Evolution kein artiges Aufstreben der Arten ist, sondern ein | |
undurchdringliches Speziengestrüpp - auch Darwins Handskizze erinnert eher | |
an einen Strauch; ideologisch folgenreich, weil ein Baum-Modell viel klarer | |
als ein Strauch-Modell das Bedürfnis nach Hierarchien artikuliert, denen | |
zufolge der schwarze Mensch unter dem weißen steht wie der Hominide unter | |
dem Homo sapiens. | |
"Die Naturmenschen", schrieb Haeckel, "stehen in psychologischer Hinsicht | |
näher den Säugetieren als dem hochzivilisierten Europäer; daher ist auch | |
ihr individueller Lebenswert ganz verschieden zu beurteilen." Haeckel war | |
Ehrenmitglied der 1905 gegründeten Gesellschaft für Rassenhygiene, die laut | |
Satzung "die Förderung der Theorie und Praxis der Rassenhygiene unter den | |
weißen Völkern" bezweckte. Mitglieder dieser Gesellschaft waren auch der | |
Schriftsteller Gerhart Hauptmann und der sozialdemokratische Hygieniker | |
Alfred Grotjahn. Damals ging der Erbfanatismus durch alle politischen | |
Lager, so wie heute der Genfetischismus parteiübergreifend zum Mainstream | |
wird. | |
Auch die Evolution von Ideen und Ideologien verläuft eher gestrüppartig als | |
nach dem Stammbaum-Modell. Dennoch gibt es über die Epochen hinweg | |
Entsprechungen zwischen dem Denken in Sieger-Genen. Der englische Publizist | |
Walter Bagehot hat 1872 Darwins ,natürliche Zuchtwahl' auf | |
gesellschaftliche Verhältnisse übertragen: "Physics and Politics", lautet | |
der Titel, "or Thoughts on the Application of the Principles of ,Natural | |
Selection' and ,Inheritance' [Vererbung] to Political Society". Darin heißt | |
es: "Erwägen wir, worin ein Dorf englischer Kolonisten einem Stamm | |
australischer Eingeborener überlegen ist. Unzweifelhaft sind die Engländer | |
in einer, und zwar der hauptsächlichen Hinsicht überlegen. Sie können die | |
Australier im Krieg schlagen, wann immer es ihnen gefällt; sie können ihnen | |
alles wegnehmen, was ihnen gefällt; und sie können jeden von ihnen töten, | |
den sie auswählen." | |
Für Bagehot manifestiert sich Überlegenheit nicht nur im Totschlagen, | |
sondern noch in anderen Begabungen. So haben "die Nachkommen kultivierter | |
Eltern durch angeborene Nervenorganisation eine größere Anlage zur | |
Kultivierung als die Nachkommen der Unkultivierten". Auch Darwin glaubte, | |
"dass Erziehung und Umgebung nur eine geringe Wirkung auf den Geist eines | |
jeden ausüben und dass die meisten unserer Eigenschaften angeboren sind". | |
In seinem zweiten Hauptwerk "Die Abstammung des Menschen und die | |
geschlechtliche Zuchtwahl" warnte er, "… es dürfen die Fähigsten nicht | |
durch Gesetze oder Gebräuche daran verhindert werden, den größten Erfolg zu | |
haben und die größte Zahl von Nachkommen aufzuziehen." | |
So gesehen ist die Einführung des staatlichen Elterngelds eine | |
darwinistische Maßnahme. Es ist nach Einkommen gestaffelt und beträgt bei | |
Geringverdienern mindestens 300 Euro, bei Gutverdienern höchstens 1 800 | |
Euro. Je mehr man verdient, desto mehr Elterngeld bekommt man, weil man es | |
mehr verdient. Diese typisch sozialdarwinistische Tautologie dominierte die | |
öffentliche Diskussion vor der Einführung des Elterngelds. Susanne Gaschke | |
etwa rechtfertigte die Höhenunterschiede bis zum Sechsfachen in mehreren | |
Zeit-Artikeln: "Die Einkommensabhängigkeit [des Elterngelds] drückt ganz | |
nüchtern das Ziel dieser staatlichen Subventionen aus: Sie soll Nachwuchs | |
auch bei den Gut- und Besserverdienenden fördern, denn davon gibt es zu | |
wenig." | |
Aus der liberalen Mittelschicht, die damals noch nicht genug vor | |
Interventionen des Staates warnen konnte, ertönte im Kampf ums Überleben | |
und Vermehren der eigenen Begabungsgene die Forderung nach einer | |
staatsinterventionistischen Prämie, um "die soziale Spaltung der | |
Fortpflanzung zumindest mildern" zu können, wie Gaschke seinerzeit schrieb: | |
"Sonst wird Fortpflanzung ein Unterschichtenmerkmal." | |
Durch Zeilen wie diese raunt die Furcht vor sozialer Überfremdung. Eine | |
Argumentationsschleife, die in Zusammenhang mit Migranten als rassistisch | |
erkannt worden wäre, fällt im Sozialkampf gegen die eigene Unterschicht als | |
klassistisch nicht einmal auf. Und doch liegt ihr ein durch und durch | |
naturalistisches Begabungsverständnis zugrunde. Die angeblich genetisch | |
Überlegenen dürfen nicht durch sozialen Ausgleich daran gehindert werden, | |
die größte Zahl an Nachkommen zu zeugen. Vielmehr muss der soziale | |
Ausgleich denjenigen zugutekommen, die ihn genetisch verdienen. Im | |
genfetischistischen Gesellschaftsbild kehrt Darwins verstiegene Warnung als | |
Forderung nach Finanzhilfe für fortpflanzungsgehemmte Akademiker wieder. | |
Ein anderes Beispiel für die eigentümliche Renaissance der Erblehre beim | |
Thema Begabung liefert Josef Kraus, ehrenamtlicher Präsident des deutschen | |
Lehrerverbands. Im Dezember schrieb er in der von der Bundeszentrale für | |
politische Bildung herausgegebenen Zeitschrift Aus Politik und | |
Zeitgeschichte: "Die Forschung hat seit mehreren Jahrzehnten eindeutig | |
nachgewiesen, dass 70 Prozent des kognitiven Potentials durch Erbfaktoren | |
bestimmt sind." | |
Alles, was ,die Forschung', wer immer die geheimnisvolle Dame sein mag, in | |
dieser Hinsicht ,nachgewiesen' hat, ist ihre Ratlosigkeit darüber, was | |
dieses ,kognitive Potential' überhaupt sein soll. Nicht einmal auf einen | |
gemeinsamen Intelligenzbegriff konnte man sich einigen. Unter | |
intelligenteren Intelligenzforschern kursiert deshalb ,seit mehreren | |
Jahrzehnten' der selbstironische Witz, Intelligenz sei das, was | |
Intelligenzforscher messen. | |
Man könnte Äußerungen wie die hier bloß beispielhaft zitierten auf sich | |
beruhen lassen, hätten sie keinen Einfluss auf das praktische Leben. Aber | |
Sichtweisen wie die von Susanne Gaschke prägen die mittelschichtorientierte | |
Sozialpolitik und Sichtweisen wie die von Josef Kraus die | |
mittelschichtorientierte Schulpolitik. | |
Schon vor zehn Jahren fürchtete Noelle Lenoir, damals Ethikberaterin bei | |
der EU-Kommission: "Sogar bei Schulkindern wird man danach suchen, ob | |
schlechte Leistungen genetisch bedingt sind." Im gleichen Jahr tobte in | |
Deutschland eine Züchtungsdebatte, ausgelöst durch Peter Sloterdijks | |
Menschenparkrede. Sloterdijk wurde vorgeworfen, er wolle Menschen mit | |
verschiedenen Eigenschaften züchten, so wie einst Gregor Mendel in seinem | |
Klostergarten Erbsen mit verschiedenen Farben gezüchtet hatte. | |
Vieles, was damals Angst, Schrecken und Vorwürfe auslöste, gehört | |
inzwischen zum genfetischistischen Phrasenrepertoire. So bewirbt etwa der | |
Verlag C. H. Beck das Buch "Der Darwin Code" unter anderem mit dieser | |
Frage: "Steht die moderne sexuelle Selbstbestimmung der Frauen im Gegensatz | |
zur Evolution, oder ist sie Teil der biologischen Natur?" Ein hübsches | |
Beispiel dafür, dass es nicht nur dumme Antworten, sondern auch dumme | |
Fragen gibt. Die ,moderne sexuelle Selbstbestimmung der Frauen' steht | |
deshalb nicht im Gegensatz zur Evolution, weil sie mit der Evolution | |
überhaupt nichts zu tun hat. Sie ist aber auch kein ,Teil der biologischen | |
Natur', weil Menschenrechte oder Frauenrechte keine biologischen, sondern | |
ethische, politische, rechtliche, soziale Angelegenheiten sind. | |
Heiratsneigung und andere Erbeigenschaften | |
Theorien über die genetischen Wurzeln des sozialen Verhaltens sind heute so | |
populär wie seit dem späten 19. Jahrhundert nicht mehr. "Fast alles hat | |
irgendeine genetische Basis, Politik eingeschlossen", schrieb der | |
Harvard-Professor James Q. Wilson kürzlich im amerikanischen City Journal. | |
Nach dieser umwerfend präzisen Behauptung wartete Wilson ähnlich wie Josef | |
Kraus mit einer dieser kuriosen Prozentangaben auf, von denen niemand weiß, | |
wie sie eigentlich zustande kommen: "Bei registrierten Wählern erklären | |
genetische Faktoren 60 Prozent des Unterschieds zwischen denjenigen, die | |
wählen gehen, und denjenigen, die das nicht tun." | |
Jeremy Freese von der US-amerikanischen Northwestern University wiederum | |
stellte eine Liste von 52 Charaktereigenschaften und Neigungen zusammen, | |
die "teilweise erblich" sind, was immer dieses ,teilweise' auch bedeuten | |
mag, das in solchen Kontexten stets herumvagabundiert. | |
Auf der Freese-Liste stehen zum Beispiel: kognitive Fähigkeiten, | |
Aggressivität, Heiratsneigung, Alter beim Vollzug des ersten | |
Geschlechtsverkehrs, Befürwortung der Todesstrafe. | |
Die lächerlich schmale Datenbasis, aufgrund derer solche Aussagen | |
zusammengeschustert werden, stammt aus der Zwillingsforschung. Was den | |
Evolutionsbiologen die Fruchtfliege ist, das sind den Sozialgenetikern die | |
Zwillinge. Diese Vorliebe teilen sie mit den Rassehygienikern. Einer von | |
ihnen war Otmar Freiherr von Verschuer. Er attestierte "Sippenwanderern", | |
vulgo ,Zigeunern', politisch korrekt Sinti und Roma, eine "Unstetigkeit", | |
die eine "psychische Erbeigenschaft" sei, vielleicht ähnlich den 52 | |
Charaktereigenschaften von Jeremy Freese oder dem zum Teil psychologisch | |
erklärbaren Sieger-Gen im Sinn der spekulativen Sportgenetik von Schlammerl | |
und Laux. | |
1935 schrieb Verschuer in der Zeitschrift Der Erbarzt über den ,Urvater' | |
aller Rassetheoretiker: "Gobineau hat mit genialem Griff die Rassenlehre | |
auf die Politik angewandt." Comte de Gobineau veröffentlichte von 1853 bis | |
1856 den "Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen". Das bizarre | |
Werk avancierte zu einer der ideologischen Inspirationsquellen der | |
nationalsozialistischen Rassen- und Vernichtungspolitik. | |
In den ideologischen Rahmen der Rasse- und Erblehre wurde auch die Eugenik | |
gespannt. Schon 1930 fragte Hans Luxenburger im Titel einer Schrift: Welche | |
Folgerungen hat die Eugenik aus den Ergebnissen der psychiatrischen | |
Erblichkeitsforschung zu ziehen? Seine Antwort lautet: Die Eugenik ist die | |
Lehre "von der Wohlgezeugtheit des Individuums. Sie will erreichen, dass | |
der ungezeugte Mensch wohlgezeugt sein wird im Sinne größtmöglicher | |
biologischer Vollkommenheit." | |
Drei Generationen später, genau gesagt am 22. Dezember 2008, meldete dpa: | |
"Eine Frau aus London erwartet das erste Baby Großbritanniens, das nach | |
einer genetischen Auswahl ohne Brustkrebs-Gen geboren werden soll." Nach | |
einer künstlichen Befruchtung waren die entstandenen Embryonen einer | |
Präimplantationsdiagnostik (PID) unterzogen worden. Von den insgesamt elf | |
in vitro erzeugten Embryonen wurden zwei zur Einpflanzung in die | |
Gebärmutter ausgewählt, denen trotz erblicher Vorbelastung die | |
,Brustkrebs-Gene' BRCA1 und BRCA2 fehlten. Ein Embryo reifte heran. Der | |
ungezeugte Mensch als wohlgezeugt im Sinne größtmöglicher Vollkommenheit? | |
Die Selektion von Embryonen durch PID im England unserer Tage unterscheidet | |
sich sachlich und ethisch von der Euthanasie behinderter Kinder im | |
Deutschland während der Hitlerzeit. Die schlimme Last unseres historischen | |
Erbes presst uns Aufmerksamkeit für alles ab, was uns am Tun der anderen an | |
die eigenen Untaten erinnert. Reflexempörung führt aber dazu, aus lauter | |
Angst vor den rassehygienischen Verbrechen der Vergangenheit die anders | |
gearteten biopolitischen Gefahren der Zukunft zu übersehen. | |
So wurde auch in der dpa-Meldung gleich zu Anfang auf die ethische | |
Problematik der in Deutschland verbotenen PID hingewiesen. Aber erst im | |
allerletzten Satz wurde klargestellt, was es mit dem angeblichen | |
,Brustkrebs-Gen' wirklich auf sich hat: "Es wird davon ausgegangen, dass | |
BRCA 1 und das verwandte BRCA 2 für rund fünf bis zehn Prozent der | |
Brustkrebserkrankungen verantwortlich sind." Anders herum: Für 90 bis 95 | |
Prozent der Brustkrebsfälle ist nicht das ,Brustkrebs-Gen' die Ursache. | |
Das ändert nichts an der Relevanz der BRCA-Gene für Menschen, die damit | |
leben müssen. Eine entsprechende Diagnostik nicht schlankweg zu verwerfen, | |
kann ethisch besser sein, als mit leichtfertig gutem Gewissen dem Problem | |
einfach auszuweichen. Die Bedeutung, die solche Gene für die betroffenen | |
Menschen haben, rechtfertigt jedoch weder sachlich noch ethisch die | |
Instrumentalisierung dieser Einzelfälle für eine allgemeine Gen-Promotion, | |
die zusehends in Marketing übergeht. Ihre tatsächliche medizinische | |
Bedeutung wird von der symbolischen Bedeutung für das Geschäftsmodell | |
Gentechnik weit übertroffen. Derzeit läuft bei der britischen | |
Aufsichtsbehörde Human Fertilisation and Embryology Authority der | |
Genehmigungsantrag für einen standardisierten PID-Test, der für 1 800 Euro | |
in vitro erzeugte Embryonen auf genetische Defekte untersuchen soll. | |
Die Achillesferse des nackten Affen | |
Also schickt sich der Mensch an, statt der kulturellen Entwicklung, die ihm | |
nach wie vor über den Kopf wächst, die biologische Evolution in die Hand zu | |
nehmen? Beginnt nun das Naschen vom Baum der Erkenntnis Wirkung zu zeigen | |
und die Nachfahren von Eva und Adam zu befähigen, nicht länger nur zu | |
zeugen, sondern auch zu schöpfen? | |
Das Schimpansen-Genom unterscheidet sich in der Abfolge der Gs und As, der | |
Ts und Cs von dem unseren um höchstens zwei Prozent. In Kafkas Bericht für | |
eine Akademie erinnert ein zum Menschen umgeschulter Affe die Professoren | |
daran: "Ihr Affentum, meine Herren, soferne Sie etwas Derartiges hinter | |
sich haben, kann Ihnen nicht ferner sein als mir das meine. An der Ferse | |
aber kitzelt es jeden, der hier auf Erden geht: den kleinen Schimpansen wie | |
den großen Achilles." | |
Der Fersenkitzel der Darwinschen Kränkung, dass der Mensch zwar nicht | |
,direkt' vom Affen abstammt, jedoch zum Gestrüpp der Primatenverwandtschaft | |
gehört, ist heute nur noch ein Nervenkitzel für Leute, die an die Genesis | |
glauben statt an die Genetik. Aber was genau passiert eigentlich bei der | |
Evolution? Ist sie ein - je nach Sichtweise - glücklicher beziehungsweise | |
unglücklicher Zufallsprozess, an dessen Beginn nicht ein wissender und | |
wollender Gott nach menschlichem Bild stand, sondern irgendeine neue | |
Eiweißverbindung? | |
So hat es der Evolutionsbiologe Axel Meyer wohltuend nüchtern in der FAZ | |
erklärt: "Zufällig in den Genen auftretende Mutationen führen zu | |
veränderten biochemischen Interaktionen von Genen und Proteinen, die | |
schließlich manchmal auch in veränderten äußeren Erscheinungsbildern der | |
Organismen zum Ausdruck kommen." Also liegt es nicht ,in den Genen', | |
sondern zwischen Genen und Proteinen, wenn es schon irgendwo liegen muss, | |
dass es durch zufällige (!) Mutationen manchmal (!!) auch (!!!) zu | |
Veränderungen kommt. | |
Die Evolution ist ein Prozess ohne Ziel, Sinn und Zweck, vor allem ist sie | |
kein Lernprozess, in dem sich die ,Fitten' der Umwelt anpassen. Es gehört | |
zu den Grunddogmen der Evolutionstheorie, dass erlernte Fähigkeiten nicht | |
vererbt werden. | |
Allerdings steht vor dem botanischen Garten in Paris ein Typ auf dem | |
Sockel, der anderer Meinung war. Die Inschrift auf dem Sockel lautet " | |
Begründer der Evolutionstheorie", und da sich das Denkmal in Paris | |
befindet, ist damit nicht der Engländer Darwin gemeint, sondern der | |
Franzose Jean-Baptiste Lamarque, der drei Generationen vor Darwin über die | |
Entstehung der Arten nachdachte. Er vermutete, dass Individuen einer | |
Spezies die Eigenschaften, die sie im Leben nicht brauchen, allmählich | |
verlieren, während sie nützliche weiterentwickeln. Die Giraffe, glaubte er, | |
hat deshalb einen langen Hals, weil sie ihn Generation um Generation nach | |
immer höheren Blättern streckte. | |
Viele vernünftige Menschen sprechen wie Darwinisten und denken wie | |
Lamarque. In Tierfilmen werden Pfauenschwänze und Pavianärsche damit | |
erklärt, dass damit die Weibchen beeindruckt werden sollen. Warum jedoch | |
die Weibchen nicht einfarbige Kavaliershintern vorziehen und weniger eitle, | |
dafür beweglichere und überlebensfähigere Radschläger, fällt bei solchen | |
pseudodarwinistischen, in Wahrheit lamarquianischen Deutungen als Problem | |
gar nicht auf. Darwin selbst hat übrigens lange über die nicht sehr | |
überlebensfitte Befiederung des sogenannten starken Geschlechts beim Pfau | |
gegrübelt. | |
Für den Fall, dass Tierfilme nicht akzeptiert werden als Beweis für das | |
Überleben der Ideen Lamarques im darwinistischen Mainstream, sei der Stern | |
als weiterer Belastungszeuge aufgerufen. Anlässlich des 200. Geburtstags | |
von Darwin erkundigte er sich bei Axel Meyer in einem Interview: "Evolution | |
geschieht durch Anpassung eines Lebewesens an seine Umwelt. Wie gelangt | |
diese Veränderung ins Erbgut?" Axel Meyer antwortete: "So gefragt zäumt man | |
das Pferd von hinten auf. Die Variation muss schon im Erbgut vorhanden | |
sein. Dann wird selektiert." Weniger geduldig reformuliert: Die Gene sind | |
eben keine Speicher, in die im Überlebenskampf erworbene Fähigkeiten | |
,hineingelegt' werden. Erworbenes Vermögen wird nur in der Gesellschaft | |
vererbt, nicht in der Natur. | |
Trotzdem trösten sich die Menschen, zweckorientiert und sinnbedürftig wie | |
sie nun einmal sind, über die darwinistische Zumutung der Evolution als | |
Zufallsprozess gern mit einem Schuss Zielgerichtetheit hinweg. Es ist, im | |
Wortsinn, verrückt: Während die kulturelle Evolution, die wirklich eher mit | |
Lamarque beschreibbar wäre, mit darwinistischen Metaphern begriffen, besser | |
gesagt: betatscht wird, mag man bei der natürlichen Evolution, der allein | |
das darwinistische Modell angemessen ist, von lamarquianischen Illusionen | |
nicht lassen. Die zur Diva angeschwollene Prinzessin der genetischen | |
Alltagsweisheit fühlt sich auf Mendels Erbsen immer noch nicht recht wohl. | |
"Was wir bergen in den Särgen, | |
ist der Erde Kleid. | |
Doch der Gene Reigen, den die Enkel zeigen, | |
führt zur Ewigkeit." | |
Das stand ebenso wie das Schlammerl-Interview und die Genomsequenz in der | |
FAZ: im schwarzen Rahmen einer Todesanzeige. | |
© Le Monde diplomatique, Berlin | |
2 Apr 2009 | |
## AUTOREN | |
Bruno Preisendörfer | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Rassismus | |
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