# taz.de -- 200. Todestag des Marquis de Sade: Die bizarren Neigungen der Natur | |
> Vor 200 Jahren starb der Marquis de Sade. Sein Wunsch, aus dem Gedächtnis | |
> der Menschen getilgt zu werden, ging nicht in Erfüllung. | |
Bild: „Die Philosophie im Boudoir“ von de Sade wurde 1963 in Deutschland in… | |
„Sobald das Grab zugeschaufelt ist, sollen Eicheln darüber gesät werden, | |
damit in der Folge die Stelle besagten Grabes wieder bewachsen und das | |
Gehölz wieder so dicht sei wie vordem und die Spur meiner Grabstätte von | |
der Erdoberfläche verschwinde, so wie hoffentlich mein Andenken in der | |
Erinnerung der Menschen gelöscht wird.“ | |
Mit diesem bitteren Wunsch endet das Testament von | |
Donatien-Alphonse-François, Marquis de Sade, das er sieben Jahre Jahre vor | |
seinem Tod aufsetzte. Es hat ihm wenig genützt. Nicht nur ist er dem | |
Gedächtnis der Menschen mit seinen Werken erhalten geblieben, sein Name | |
lebt überdies im Begriff des Sadismus in der Alltagssprache fort. | |
Als de Sade am 2. Dezember 1814 starb, wurde er allerdings nicht, wie er | |
verfügt hatte, auf dem Grundstück seines Anwesens Malmaison begraben, | |
sondern auf dem Friedhof in Charenton, wo er seine letzten Lebensjahre – | |
trotz geistiger Gesundheit – in einer Irrenanstalt zubrachte. Zuvor hatte | |
er schon von 1778 bis 1790 in der Festung Vincennes und in der Bastille | |
einsitzen müssen. | |
## Bis in die Nachkriegszeit verboten | |
Weggesperrt blieb zunächst auch sein schriftstellerisches Werk, das zu | |
großen Teilen während der Haft entstanden ist. Noch 1963 wurde in | |
Deutschland de Sades „Die Philosophie im Boudoir“ indiziert. In Frankreich | |
war de Sade ebenfalls bis in die Nachkriegszeit verboten. Zum Skandal | |
taugten seine Bücher allemal, wurden darin doch die größten physischen | |
Grausamkeiten, die Menschen einander zufügen können, in systematischer | |
Gründlichkeit geschildert. | |
Vor allem aber wimmelt es in den Romanen de Sades von Libertins, die | |
extreme sexuelle Bedürfnisse ausleben, sich dem Bösen aus Prinzip | |
verschrieben haben und ihre Verbrechen mit größter Eloquenz und | |
philosophischem Scharfsinn rechtfertigen. | |
Was wollte de Sade? Das ist nicht einfach zu beantworten, da seine Leser in | |
„Die 120 Tage von Sodom“ oder im Doppelroman „Justine und Juliette“ mit… | |
Frage alleingelassen werden, ob sich ihr Verfasser mit den Positionen | |
seiner Figuren identifiziert oder nicht. So verwundert es kaum, dass sich | |
die Reaktionen auf de Sade von damals bis heute stark verändert haben. | |
Nachvollziehen kann man diese Entwicklung schlaglichtartig im Sammelband | |
„Sade. Stationen einer Rezeption“, den die Schweizer Philosophin Ursula Pia | |
Jauch herausgegeben hat. | |
## Angehöriger des Ancien Régime | |
De Sade war ein – ambivalenter – Augenzeuge der Französischen Revolution. | |
Als Angehöriger des Ancien Régime, das er persönlich verachtete, auf dessen | |
Privilegien er aber nur ungern verzichtete, wäre er um ein Haar selbst auf | |
dem Schafott gelandet. Stattdessen erlebte er die Revolutionsjahre | |
weitgehend als freier „Bürger“ und bekleidete für kurze Zeit Ämter wie d… | |
eines Richters oder des Sekretärs der jakobinischen „Piken-Sektion“. | |
Offiziell unterstützte er die Ziele der Revolution, die massenhaften | |
Exekutionen lehnte er insgeheim jedoch ab. | |
Die Gewaltorgien in de Sades anonym publizierten Romanen lasen sich für | |
einige seiner Zeitgenossen denn auch als Kritik am Revolutionsterror. Der | |
deutsche Schriftsteller Ludwig Ferdinand Huber mutmaßte 1796 in seiner | |
Rezension zu „Justine“ gar, der Verfasser stehe dem „geheimen Kabinet des | |
Herzogs von Orleans“ nahe und das Buch sei dazu bestimmt, „das böse Princip | |
der Revolution zu nähren“. | |
Weniger konspirativ erscheint das Verhältnis de Sades zur Revolution in den | |
Augen des französischen Autors Pierre Klossowski. Dessen Buch „Sade – mein | |
Nächster“ von 1947 – auf Deutsch erst 1996 erschienen – umkreist de Sades | |
Denken aus philosophischer, psychoanalytischer und theologischer | |
Perspektive. In Jauchs Band findet sich daraus das Kapitel „Sade und die | |
Revolution“, in dem Klossowski zu zeigen versucht, dass de Sades | |
Rechtfertigung des Atheismus – und der mit ihm entfesselten Gewalt – auf | |
eine indirekte Anerkennung Gottes hinausläuft. | |
## Literarische Monstrositäten | |
So bestimme das „theokratische Prinzip“ die Terminologie de Sades, ferner | |
seien seine literarischen Monstrositäten ein Ausdruck von Sühne: „Sade | |
machte die virtuelle Kriminalität seiner Zeitgenossen zu seinem | |
persönlichen Schicksal, er allein wollte sie im Ausmaß der Kollektivschuld | |
sühnen, die sein Bewußtsein auf sich genommen hatte.“ | |
Diese Einlassung forderte Widerspruch heraus. In ihrem Buch „Soll man de | |
Sade verbrennen?“ von 1955 entgegnete die existenzialistische Philosophin | |
Simone de Beauvoir: „So interessant Klossowskis Studie auch sein mag, so | |
begeht doch meines Erachtens der Autor an Sade Verrat, wenn er behauptet, | |
seine leidenschaftliche Ablehnung Gottes sei das Eingeständnis einer | |
Sehnsucht nach Gott.“ | |
De Sade habe sich in dieser Sache eindeutig geäußert: „ ’Die Gottesidee i… | |
das einzige Unrecht, das ich den Menschen nicht verzeihen kann.‘ “ De Sades | |
atheistische „Ethik“ sieht de Beauvoir vielmehr in den Worten | |
zusammengefasst: „ ’In einer verbrecherischen Gesellschaft muß man ein | |
Verbrecher sein.‘ “ | |
## Eine beachtliche Zahl von aktenkundigen Sexualvergehen | |
Völlig anders als in Frankreich verlief die Rezeption de Sades in | |
Deutschland, wo der Psychiater Richard von Krafft-Ebing etwa in seiner | |
„Psychopathia sexualis“ von 1886 den Begriff des Sadismus prägte. Unter | |
diesem Stichwort versammelte er eine beachtliche Zahl von aktenkundigen | |
Sexualvergehen. De Sade selbst erwähnt er lediglich als „psychosexuales | |
Monstrum“. | |
Der deutsche Sexualwissenschaftler Ivan Bloch hingegen würdigt de Sade 1900 | |
als einen Autor, dem das Verdienst gebühre, „fast alle sexualpathologischen | |
Typen, die es giebt, in seinen Romanen zusammengestellt zu haben“. Bloch, | |
der seine Untersuchung zu de Sade unter dem Pseudonym Eugen Dühren | |
veröffentlichte – und die erste Buchfassung der „120 Tage von Sodom“ | |
überhaupt herausbrachte –, bleibt dabei ganz nüchterner Wissenschaftler. | |
Für ihn lautet die wichtigste Frage: „War der Marquis de Sade geisteskrank | |
oder nicht?“ Bloch verneint nach ausgiebiger Prüfung. | |
Aufseiten der Bewunderer prophezeite der französische Lyriker Guillaume | |
Apollinaire im Jahr 1909, dass der „göttliche Marquis“, „der während des | |
ganzen 19. Jahrhunderts für nichts erachtet wurde, sehr wohl das 20. | |
beherrschen könnte.“ Tatsächlich entfaltete die De-Sade-Rezeption erst nach | |
1945 ihre volle Blüte. Wobei selbst die glühendsten Verehrer mitunter nicht | |
frei von Ambivalenz sind. | |
## Die amoralische Welt de Sades als Sprungbrett | |
Georges Bataille raunte 1948 zwar, „derjenige ist noch nicht gefunden, der | |
die ’120 Tage von Sodom‘ lesen und in ihnen die Welt erkennen kann, die er | |
wollte und für die er entschlossen Stellung bezieht“, doch muss man bei | |
diesem bedrohlich anmutenden Tonfall stets berücksichtigen, dass Bataille | |
einer der vielen französischen Leser de Sades war, die in ihrem Denken | |
stark vom Katholizismus geprägt wurden und für die die amoralische Welt de | |
Sades als Sprungbrett diente, um sich von der eigenen Gottesfürchtigkeit | |
loszusagen. | |
Was bleibt von de Sades entzündlichen Gedanken an Reibungspotenzial? Eine | |
„Summa der pornographischen Phantasie“, wie Susan Sontag 1967 urteilte? | |
Oder die Einsicht, dass einerseits Gewalt und Sexualität in enger Beziehung | |
zueinander stehen, andererseits aber Gewalt und Atheismus überhaupt keine | |
notwendige Verbindung miteinander eingehen? Die schlimmste Gewalt, predigen | |
de Sades Helden, wird im Namen von Religion oder Wohlanständigkeit verübt. | |
An der Aktualität dieser Einschätzung hat sich leider bis heute wenig | |
geändert. | |
2 Dec 2014 | |
## AUTOREN | |
Tim Caspar Boehme | |
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