| # taz.de -- Streitgespräch mit Sexualpädagogin: „Sexualität hat einen Zwec… | |
| > Der neue Bildungsplan in Ba-Wü sieht ein offenes Sprechen über Sexuelles | |
| > vor. Karla Etschenberg warnte deshalb vor einer „Sexualisierung“ der | |
| > Jugendlichen. | |
| Bild: Die Frage, ob Oralverkehr zur Liebe gehört, wird schon an 12-Jährige ge… | |
| taz: Frau Etschenberg, in einem Interview mit der rechten Zeitung „Junge | |
| Freiheit“ warnten Sie vor übermäßiger „Sexualisierung“ von Jugendliche… | |
| Anlass waren Diskussionen über neue Impulse des Bildungsplans in | |
| Baden-Württemberg. Wird nicht vielmehr mit offenem Sprechen über Sexuelles | |
| Schülern und Schülerinnen etwas von der üblichen Beklommenheit zum Thema | |
| genommen? | |
| Karla Etschenberg: Meine Kritik entzündet sich an bestimmten Vorschlägen | |
| zur methodischen Umsetzung. Und meine Auffassung als Sexualpädagogin ist | |
| es, dass sachliches Sprechen über Sexualität die wichtigste Methode der | |
| Sexualerziehung von der Grundschule an ist – das hat mit Sexualisierung im | |
| Regelfall nichts zu tun. | |
| Und das Problem liegt wo? | |
| Das Sprechen nimmt Beklommenheit, kann sie aber auch auslösen, wenn Kinder | |
| überfordert sind oder ihre Schamgrenzen überschritten werden – oder ihnen | |
| die Art, wie eine Person mit ihnen spricht, peinlich ist. | |
| Sie sprechen von Kindern – die lockernden Impulse richten sich aber an | |
| Jugendliche. | |
| Nicht ausschließlich. Sexualisierend wirkt das Sprechen, wenn Kinder und | |
| 14- bis 15-Jährige öffentlich angehalten werden, sich an eigenes sexuelles | |
| Handeln zu erinnern oder sich irgendein sexuelles Handeln konkret | |
| auszumalen, und wenn dann Neugier geweckt wird für etwas, was noch | |
| außerhalb ihrer Lebenswelt liegt – etwa Einzelheiten aus der | |
| Erwachsenensexualität. | |
| Nun, um Kinder geht es nicht, aber: Welche Details meinen Sie, mit denen | |
| Jugendliche Bekanntschaft machen könnten? | |
| Sexuelle Vorlieben oder Praktiken, zu denen man zum Beispiel Dildos oder | |
| Peitschen braucht, Bordellbesuche und so weiter. | |
| Aber das geht aus keinem pädagogischen Impuls hervor: Es sind freiwillige | |
| Informationen – bei Kindern steht dies in keinem Bildungsplan. | |
| Natürlich nicht. Aber es werden von Sexualpädagogen zum Ziel der Akzeptanz | |
| sexueller Vielfalt spezielle Methoden vorgeschlagen, die sich nicht nur an | |
| Jugendliche richten. Die Frage, ob Oralverkehr zur Liebe gehört, wird in | |
| dieser Handreichung schon an 12-Jährige gestellt. Und Analverkehr steht in | |
| einer Liste mit anderen möglichen Formen des „ersten Mals“ für 13-Jährige | |
| zur Diskussion. | |
| Ist es nicht sinnvoll, über Sexuelles anders als pornografisch, wie es etwa | |
| auf Schulhöfen getan wird, zu sprechen? | |
| Selbstverständlich, das muss so sein, aber dann wirklich über Sexualität | |
| als Sachthema und nicht methodenbedingt über die eigene Sexualität. | |
| Sexualisierend kann es auch wirken, wenn Kinder durch Körperkontakt in der | |
| Gruppe in Schmusestimmung gebracht werden und sie dann über ihre Gefühle | |
| sprechen sollen. Pizzabacken auf dem Rücken, das Formen von Statuen, | |
| Kondome am Körper verstecken und suchen lassen sind meines Erachtens solche | |
| Methoden. | |
| Frau Etschenberg, Sie beklagen gar, dass die Sexualpädagogik, die auch die | |
| Linien für den Bildungsplan in Baden-Württemberg entwickelt hat, | |
| interpretatorisch bei einem Kartell liegt. | |
| Von Kartell habe ich nirgendwo gesprochen. Doch man kann von einer | |
| sexualpädagogischen Schule sprechen, die in Deutschland vorherrschend ist. | |
| Und das stört Sie inwiefern? | |
| Dass diese sexualpädagogische Schule konzeptionell davon ausgeht, dass | |
| kindliches sexuelles Handeln und Erleben vom Säuglingsalter an im Interesse | |
| des Kindes gezielt gefördert werden soll, damit es Kindern gut geht. | |
| Das wird heftig bestritten. | |
| Das kann man nachlesen. Und das ist meines Erachtens wissenschaftlich … | |
| … Ihrem wissenschaftlichen Verständnis nach … | |
| … nicht begründbar. Aber es ist eine Vereinbarung, die sich in | |
| Veröffentlichungen von Autoren, die dieser Schule nahestehen, | |
| niederschlägt. | |
| Sie kritisieren, dass bestimmte Ansätze der Sexualaufklärung nicht zum Zuge | |
| kommen. Ihre? Oder welche sind das? | |
| Es sind Konzepte und Materialien für den Biologieunterricht, in dem das | |
| Thema Sexualität ja oft ansteht. Man müsste sie weiterentwickeln, damit das | |
| Thema nicht biologistisch verkürzt bleibt. Eine solche Förderung geschieht | |
| nicht, weil sich dafür keine Institution zuständig erklärt. | |
| Sollte es im Sexualkundeunterricht nicht um Wesentlich mehr als um | |
| Biologisches gehen? | |
| Selbstverständlich. Aber wissenschaftlich korrekt ist der Ansatz, dass | |
| menschliche Sexualität eine biologische Basis und einen Zweck hat, nämlich | |
| die Ermöglichung der Fortpflanzung. Diese Deutung ist – wie bei Pflanzen | |
| und Tieren – unabhängig von Kultur und sozialwissenschaftlichen | |
| Interpretationen. | |
| Zweck? Ist Sexualität nicht lediglich auch der Fortpflanzung dienlich? Ist | |
| der Mensch nicht anders als Tiere und Pflanzen? | |
| Ja, aber seine biologischen Wurzeln kann er nicht leugnen. Viele | |
| körperliche Phänomene und sexuelle Verhaltensweisen kann man Kindern von | |
| dieser Basis aus verständlich machen. Auch die Lust am Sex – sowohl die | |
| Vorfreude als auch die Belohnung durch einen Orgasmus motivieren, das zu | |
| tun, was der Fortpflanzung dienen kann. | |
| Bitte? Der Fortpflanzung dienen kann? Welcher Jugendliche denkt bei | |
| Sexuellem an Fortpflanzung? | |
| Da braucht er auch nicht dran zu denken. Dass die Lust am Sex meist ohne | |
| Bewusstsein um den Zusammenhang zur möglichen Fortpflanzung gesucht wird, | |
| ist logisch. Warum sollte er das nicht? Und die Lust ist ja auch unabhängig | |
| vom Geschlecht. | |
| Sie sprechen über Sexualität und kommen gleich zur Fortpflanzung. Ist das | |
| nicht an den Informationswünschen von Jugendlichen vorbeigedacht – und | |
| pädagogisch ziemlich heterosexuell instruierend? | |
| Jedenfalls kann man um diesen Kern herum Kindern und Jugendlichen erklären, | |
| was Sexualität ursprünglich bedeutet, und dann die Augen öffnen dafür, wie | |
| variationsreich der Mensch mit der Energiequelle Sexualität umgeht. Zum | |
| Beispiel in den Medien, in der Kunst oder in den Religionen – und wie jeder | |
| für sich damit umgehen kann und darf. Den Bezug zur eigenen Sexualität | |
| braucht ein Kind dabei nicht öffentlich herzustellen. | |
| Sind Sie gegen ein freimütiges Sprechen über Sexualitäten, die nicht dem | |
| Mann-Frau-Schema entsprechen? Wird es nicht Zeit, gerade in Schulen über | |
| Sexuelles schlechthin zu reden? | |
| Dem stimme ich zu, wenn damit gemeint ist, bei Kindern und Jugendlichen | |
| über die reine Sexualkunde hinaus für die Akzeptanz sexueller Vielfalt und | |
| Ablehnung jedweder Diskriminierung zu werben. | |
| Sie monieren auch, die – wie Sie es nennen – „Genderideologie“ unterlau… | |
| die biologische Zweigeschlechtlichkeit. | |
| Es gibt neuerdings die ernstgemeinte These, das biologische Geschlecht sei | |
| kulturell gemacht. Aber der Fortbestand der Menschheit ist auf | |
| zweigeschlechtliche Fortpflanzung angewiesen. Dazu brauchen wir Individuen, | |
| die anlagebedingt – wenn auch nicht in jedem Einzelfall – Samenzellen oder | |
| Eizellen produzieren. Wir nennen diese Individuen – wie im Tierreich – | |
| männlich oder weiblich. Die Embryonalentwicklung verläuft oft nicht | |
| eindeutig. Deshalb gibt es das Phänomen der Intersexualität in vielen | |
| Abstufungen – genetisch, anatomisch, hormonell. Das ist aber kein | |
| wissenschaftlich haltbarer Grund, die Zweigeschlechtlichkeit des Menschen | |
| infrage zu stellen. | |
| Aber was beanstanden Sie? | |
| Dass auf der Basis des biologischen Geschlechts Menschen Verhaltensweisen | |
| unterstellt oder als Rollen zugewiesen werden mit dem Ziel, sie auch sozial | |
| männlich oder weiblich werden zu lassen. | |
| Auf diese Differenz wird in der Gendertheorie verwiesen. | |
| Ja, die ermutigende Botschaft, die schon lange in der Sexualerziehung | |
| gültig ist, lautet: Jeder Mensch kann – unabhängig von seiner Möglichkeit, | |
| Ei- oder Samenzellen zu produzieren – eine Rolle einschließlich seiner | |
| sexuellen Orientierung frei ausleben. Individuelle Grenzen gibt es | |
| vielleicht noch durch Relikte aus unserem stammesgeschichtlich verankerten | |
| Verhaltensrepertoire. Humanethologie und Verhaltensgenetik müssen da noch | |
| weiterforschen. | |
| Was mithin ist daran falsch, in der Schule Jugendliche über das, was die | |
| Welt außerhalb des Frau-Mann-Schemas kennt, ins Bild zu setzen? | |
| Daran ist gar nichts falsch. Das ist Aufklärung im besten Sinne des Wortes: | |
| Bewusstmachen einer sexuellen Realität, die traditionell nicht angemessen | |
| beachtet oder sogar diskriminiert und tabuisiert wurde und noch wird. Die | |
| Trennung von Sex und Gender hilft, die heutige Realität perspektivreicher | |
| abzubilden. Es gibt keinen vernünftigen Grund mehr, aus dem biologischen | |
| Geschlecht irgendeine geschlechtsbezogene Verpflichtung fürs Leben | |
| herzuleiten. Aber: Schwangerschaft, Geburt und Stillen sind weiterhin | |
| spezifisch für das biologisch weibliche und das Zeugen spezifisch für das | |
| biologisch männliche Geschlecht, das kann man nicht wegdiskutieren. | |
| Weshalb haben Sie Ihre Bedenken zu sexualpädagogischen Bildungsplänen wie | |
| in Baden-Württemberg nicht schon im Beirat der Bundesstiftung Magnus | |
| Hirschfeld angemeldet? | |
| Den Bildungsplan kannte ich vor der öffentlichen Debatte nicht. Ich hätte | |
| auch keine Veranlassung gehabt, ihn im Beirat zur Sprache zu bringen. Ich | |
| stoße mich ja nur an dem viermaligen Einschub zum Stichwort „Akzeptanz | |
| sexueller Vielfalt“. Vielleicht hätte es ohne diese Betonung die | |
| Aufregungen gar nicht gegeben. | |
| Es gibt Stimmen in den Gremien der Bundesstiftung, die sich nicht mehr | |
| vorstellen möchten, dass Sie im Beirat sitzen. Manche sagen, Ihre Haltung | |
| widerspreche der Stiftungssatzung. | |
| Seit vielen Jahren setze ich mich öffentlich für eine Sichtweise von | |
| Sexualität in der Schule ein, die einem Tunnelblick auf heterosexuelle | |
| Normalität entgegenwirkt. Ich bedaure, dass es zu den aktuellen | |
| Irritationen gekommen ist. Aber aus der Tatsache, dass ich auch | |
| konservative Adressaten im Sinne der Akzeptanz sexueller Vielfalt | |
| anspreche, kann man mir eigentlich aus Sicht der Stiftungssatzung keinen | |
| Vorwurf machen. | |
| 3 Dec 2014 | |
| ## AUTOREN | |
| Jan Feddersen | |
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