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# taz.de -- Gleichstellungs-Aktivist: Mit fremder Hand
> Am Europäischen Protesttag demonstrieren Körperbehinderte für ihre
> Belange. Eine der kräftigsten Stimmen gehört Matthias Vernaldi.
Bild: „Ich brauche das Gefühl, wichtig zu sein“: Matthias Vernaldi am Mont…
BERLIN taz | Die erste Hürde, die es zu nehmen gilt, hat neun Stufen. Neun
Stufen, die vom Pflaster bis zum Eingang des Rathauses Neukölln führen.
Matthias Vernaldi späht die Treppe hinauf. Er wendet den Kopf und ruft in
Richtung der Menschen, die sich um ihn versammelt haben: „Fahrt mal so
schnell wie möglich hoch. Weil die Polizei schon Bescheid weiß.“
Knapp 50 Menschen sind gekommen, etwa 20 in Rollstühlen, dazu vielleicht 30
Assistenten und Pfleger. Sie haben Transparente mitgebracht, Schilder und
grüne Luftballons, auf denen steht: „Bezirksamt verletzt Menschenrechte.“
Sie steuern auf den Seiteneingang zu, wo es einen Fahrstuhl gibt. Matthias
Vernaldi, 55 Jahre alt, mit Doppelstegbrille und wollkrausem Kinnbart, ist
mit einem Gurt an der Lehne seines Rollstuhls festgeschnallt. Sein
bewegungsloser Körper ist eingepackt in eine Fleecejacke.
Ein bisschen nervös ist er schon. Er ist Mitglied in der
Arbeitsgemeinschaft für die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung
und für den Protest verantwortlich. Zweimal ist er bereits bei ähnlichen
Aktionen angezeigt worden, und wie der Tag heute ausgehen wird, ist nicht
ganz klar. „Ich würd’ gern um ein Uhr zu Hause sein. So eine
Gebäudebesetzung ist nicht mehr so mein Ding.“
Es ist Montag, der Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen
mit Behinderungen. Zur selben Zeit demonstrieren am Brandenburger Tor die
großen Verbände und Organisationen der Behindertenhilfe. Vernaldi aber will
in seinem Kiez protestieren, vor dem Amt, in dem über die Hilfen für ihn
und die anderen hier entschieden wird. „Inklusion“, sagt er, „das ist so
eine Wortblase. Aber wenn es darum geht, dass es Geld kostet, ist
Ausgrenzung preiswerter.“
## Zwei Bereiche öffentlicher Leistungen
Schon seit rund einem Jahr, sagt er, nehmen die Probleme der
Schwerbehinderten in Neukölln zu. Die Leistungen sind in zwei Bereiche
unterteilt: Es gibt die „Hilfen zur Pflege“, worunter alles läuft, was mit
Waschen, Toilette und Essen zu tun hat. Behinderte haben aber auch ein
Recht darauf, einkaufen zu gehen oder Freunde zu treffen.
Die Unterstützung, die sie dabei brauchen, wird als „Eingliederungshilfe“
verbucht. Menschen mit sehr hohem Hilfebedarf ist es möglich, als
Arbeitgeber persönliche Assistenten einzustellen. Diese Hilfeform ist im
„Leistungskomplex 32“ definiert, den Betroffene gemeinsam mit der
Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales ausgehandelt haben.
Eingeschlossen sind Grundpflege wie auch Eingliederungshilfe, da sich
beides im Alltag oft nicht klar trennen lässt.
In Neukölln gibt es acht Schwerbehinderte, die Assistenten eingestellt
haben. Doch nun fordert das Bezirksamt Neukölln von ihnen, dass sie die
Hilfen in den beiden Bereichen getrennt beantragen müssen, sagen die
Demonstranten. Nur was, wenn einer in die Stadt fährt und unterwegs mal
muss? Betroffene würden von der einen Abteilung zur anderen verwiesen.
In manchen Fällen zahle das Amt die Leistungen nicht mehr in voller Höhe.
„Das ist neu, dass da keine Verlässlichkeit mehr drin ist“, sagt Petra
Stampfel, die beim Berliner Assistenzverein eine Beratung anbietet.
Derartige Schwierigkeiten gebe es auch nur in Neukölln und sonst in keinem
Bezirk von Berlin. „Für die Arbeitgeber ist es ein Schock, dass die
Absprachen nicht mehr gelten.“
## „Interne Abstimmungsprobleme“
Noch bevor die Demonstration richtig begonnen hat, steuert Bezirksstadtrat
Bernd Szczepanski (Bündnis 90/Grüne), der Leiter der Abteilung Soziales,
auf Matthias Vernaldi zu. „Sie sind ja jetzt schon da“, ruft der ihm
entgegen. „Ja, Sie ja auch“, sagt der Bezirksstadtrat gepresst. Szczepanski
ist etwas verstimmt. Er räumt ein, dass es in seiner Abteilung „interne
Abstimmungsprobleme“ gab. Die seien aber längst ausgeräumt.
„Die Probleme haben aber nicht dazu geführt, dass Leuten Leistungen
vorenthalten oder in zynischer Weise Einsparungen vorgenommen hätten.“
Ringsum ihn regnet es Zettel, die wie Geldscheine bedruckt sind. „000 Euro
für Selbstbestimmung“ steht darauf geschrieben.
Davon, dass die Probleme gelöst sind, könne keine Rede sein, sagen die
Demonstranten. „Unfug“, sagt Bilal Kir, der in seinem Rollstuhl oben auf
der Treppe sitzt. Zehn Monate lang habe er seine Assistenten nicht bezahlen
können, weil das Amt seine Anträge nicht bearbeitet habe. „Ich kriege nur
Geld, wenn ich über meinen Anwalt eine einstweilige Verfügung beantrage“,
sagt er. Dann tritt Szczepanski auf die Menge zu. „Wir handeln nicht auf
willkürlicher Grundlage“, sagt er. „Doch“, sagt Vernaldi, sein Blick geht
über den Platz, wo sich ein paar Polizisten aufgestellt haben.
Wie er es sieht, steht vieles auf dem Spiel. Für ihn ist das Wichtigste,
sein Leben frei gestalten zu können, aufzustehen und ins Bett zu gehen, wie
er es will, und nicht wie die Dienstpläne der Pflegedienste es vorgeben.
Aufs Klo gehen können, keine Windel tragen müssen. Solche alltäglichen
Dinge bedeuten für ihn Menschenwürde. Wer begreifen will, welche Rolle die
Assistenten dabei spielen, braucht nur eine Weile mit ihm unterwegs zu
sein.
## „Da kommt der Bus!“
An einem lauwarmen Nachmittag Ende April kommt Vernaldi aus dem Gebäude der
Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales. Sein Assistent Stefan Weise,
ein stiller junger Mann mit Cordhose und rotem Bart, schiebt ihn aus der
Pforte des hohen Backsteinriegels. Vernaldi hat gerade eine Sitzung hinter
sich. Er ist Mitglied des Landesbeirats für Menschen mit Behinderung. Die
Termine strengen ihn an, doch er will sich einmischen und die Belange von
Leuten wie ihm zur Sprache bringen.
„Da kommt der Bus!“, ruft Weise, als die Linie M 29 weiter vorne um die
Ecke biegt. Dann rennt er, den Rollstuhl vorneweg, quer über die Kreuzung.
Die blaue Decke über Vernaldis Beinen flattert im Wind. Weise wuchtet ihn
in den überfüllten Bus. Mit energischen Rufen treibt er die Menge
auseinander. „Können Sie mal bitte aus der Ecke raus“, schreit er in
Richtung der Frau, die auf dem Behindertenplatz steht. Am Hermannplatz
steigen beide aus. Vernaldi muss noch einkaufen.
Mit dem Fahrstuhl geht es herunter in die Feinkostabteilung von Karstadt.
Vernaldis Blick tastet über die Preisschilder an der Auslage des
Spargelstandes. „Wie ist der für 6,99?“, fragt er. Vom Rollstuhl aus kann
er die Stangen in den blauen Bottichen nicht sehen. „Ziemlich dünn“, sagt
Weise. Später wird er das Essen auch kochen. „Er kocht“, sagt er und deutet
auf Vernaldi, „ich bin nur der Arm.“ Schritt für Schritt wird Weise
Vernaldis Anweisungen folgen.
Insgesamt sind acht Assistenten für ihn tätig. Rund um die Uhr muss jemand
bei ihm sein. Weise bleibt von neun Uhr morgens bis neun Uhr abends. Danach
kommt die Nachtschicht.
## Bis zu zwei Stunden täglich am Atemgerät
Er manövriert den Rollstuhl durch eine ruhige Seitenstraße. In Vernaldis
Altbauwohnung hängt ein Art-Déco-Leuchter. Ausgestopfte Vögel hocken auf
dunklen 20er-Jahre-Möbeln. „Leg mal meine Arme bitte hoch“, sagt er. Weise
sortiert den dünn und zerbrechlich wirkenden Körper zurecht. Dann streift
er Vernaldi die Maske des Atemgeräts über. Inzwischen muss er sich am Tag
ein, zwei Stunden daran anschließen lassen. Die Krankheit, die er von
Geburt an hat, heißt spinale Muskelatrophie. Seine Muskeln bilden sich
zurück. Es gab Zeiten, da konnte er alleine essen. Heute kann er nur noch
den Kopf bewegen.
Matthias Vernaldi ist in der DDR aufgewachsen, wo für Behinderte kein
selbstständiges Leben vorgesehen war. Er war sieben, als er aus seiner
Familie genommen und in einem Heim untergebracht wurde. Nach der Schule gab
es zwei Möglichkeiten: Er konnte weiter im Heim leben oder sich von seinen
Eltern versorgen lassen. Doch Vernaldi erkämpfte sich Freiraum. Mit 19
Jahren gründete er im ostthüringischen Hartroda eine Kommune mit, die
einzige in der DDR, in der Menschen ohne und mit Behinderungen
zusammenlebten.
Nach der Wende zog es ihn nach Berlin. Er reiste als Wahrsager auf
Mittelaltermärkten herum und sagt offen, dass er Sex mit Prostituierten
hat. Er hat die Initiative Sexybilities gegründet, um Sexualberatung für
Körperbehinderte anzubieten, hilft bei der Vorbereitung der „Behindert und
verrückt feiern Pride Parade“ und zählt zu den Redakteuren einer Zeitung
für das organisierte Gebrechen. „Ich brauche das Gefühl, wichtig zu sein“,
sagt er. „Stefan, gib mir bitte noch mal was zu trinken.“
Wenn Vernaldi über sich spricht, klingt er gelassen und heiter. Er hat
nichts Bitteres an sich, obwohl es für ihn seit Jahren keinen Tag ohne
Schmerzen gibt. „Solange mir nichts wehtat, dachte ich immer: Was immer
alle haben. So schlecht geht’s mir doch gar nicht.“ Auch wenn ihm nun sogar
das Atmen und Schlucken schwerfällt, hat er nach wie vor Freude am Leben,
sagt er.
## Was wird noch kommen?
Aber er weiß auch, dass alles anders sein könnte. Sein Assistenzbedarf ist
vor vielen Jahren bewilligt worden. Damals, sagt er, gewährten die Ämter
Hilfen viel leichter als heute. Vernaldi fragt sich inzwischen öfter, was
kommen wird, wenn der Spardruck weiter steigt.
„Also, das macht mich schon betroffen hier, die Vorwürfe, die Sie mir
machen“, sagt Bernd Szczepanski wenige Tage später vor dem Rathaus. „Wir
sitzen hier, weil wir uns in unserer Existenz bedroht sehen“, sagt
Vernaldi. „Wir lassen uns jetzt nicht abspeisen.“ Szczepanski bietet den
Demonstranten an, die Unstimmigkeiten mit ihnen zu klären. Sie sind
einverstanden, aber nur, wenn dieses Gespräch genau jetzt stattfindet.
„Gut. Dann muss ich mich um einen Raum bemühen.“
Er greift zu seinem Handy, dann nickt er knapp und verschwindet durch das
Foyer. Nach und nach versickert die Menge durch die Türen. Es dauert ein
paar Minuten, dann ist der Treppenabsatz verlassen. Nur ein paar
000-Euro-Scheine liegen noch auf dem Pflaster.
5 May 2014
## AUTOREN
Gabriela Keller
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