# taz.de -- Demo für Rechte von Behinderten: Party statt Pathologisierung | |
> Bei der Pride Parade demonstrieren Menschen mit psychiatrischer Diagnose | |
> und Behinderung für mehr Selbstbestimmung und gegen das Konzept der | |
> Inklusion. | |
Bild: Wir sind ok so, wie wir sind - die Verhältnisse müssen sich ändern: Te… | |
„Wir feiern, bis der Arzt kommt“, sagt Matthias Vernaldi und grinst. Er | |
gehört zum Bündnis der Organisator_innen, das bereits im dritten Jahr die | |
„Mad and Disability Pride Parade“ für Menschen mit Behinderungen und | |
psychiatrischer Diagnose organisiert. | |
„Freaks, Krüppel, Verrückte, Taube und Normalgestörte sind eingeladen, sich | |
zu feiern“, heißt es im Aufruf. Und: Wir werden „unsere Buckel und schiefen | |
Hüften, unsere sogenannten Neurosen und Verhaltensauffälligkeiten“ auf die | |
Straße tragen“. | |
„Wir sind gut so, wie wir sind, die Verhältnisse, in denen wir leben, sind | |
es nicht“, fasst Mitorganisatorin Ella Metzer* das Motto der Demonstration | |
zusammen. | |
Das trifft offenbar einen Nerv: Vor zwei Jahren nahmen 1.000 Menschen an | |
der Parade teil, im vergangenen Jahr waren es bereits 2.000. Neben vielen | |
Redebeiträgen wird auch die „Glitzernde Krücke“ verliehen: Der ironisch | |
gemeinte Preis wird für „besondere Verdienste“, beispielsweise den | |
geschickten Einsatz behinderten Humankapitals, verliehen. Letztes Jahr | |
gewann die Behindertenwerkstatt Cuxhaven, in der Rüstungsteile produziert | |
werden. Sie zeige sich konsequent, lasse Waffen von Behinderten fertigen, | |
durch die dann neue Behinderte produziert würden, heißt es zugespitzt in | |
der Begründung. | |
Es sind diese Zustände, die die Veranstalter_innen zynisch werden lassen. | |
Was derzeit als Inklusion gilt, ist für sie nicht mehr als | |
„Inklusionsreklame“: „Das ist meist bloß ein Label, das auf Einrichtungen | |
klebt, weil es sonst keine Gelder gibt. Dabei ist die Realität zum Kotzen“, | |
sagt Vernaldi. Er fordert, Einrichtungen für Menschen mit Behinderung | |
konsequent abzubauen: „Behindertenwerkstätten beispielsweise sind nicht | |
inklusiv. Dass dort arbeitende Leute vom Mindestlohn ausgenommen sind, | |
zeigt, dass die nicht dazugehören.“ | |
## Inklusion ist ein Hohn | |
Für jene, die zwangsweise in Psychiatrien untergebracht sind, sei Inklusion | |
sowieso ein Hohn, ergänzt Metzer: „Man ist weggesperrt, völlig isoliert.“ | |
Von Selbstbestimmung sei der Alltag in psychiatrischen Einrichtungen weit | |
entfernt, erzählt sie, die selbst psychiatrieerfahren ist: „Ärzt_innen | |
legen fest, welche Erkrankung du hast. Siehst du das anders oder wehrst | |
dich gegen Behandlungen, wird das als Ausdruck der Krankheit abgestempelt.“ | |
Therapie heiße da vor allem, Medikamente zu nehmen. | |
Vor allem den Zwang, in der kapitalistischen Gesellschaft funktionieren zu | |
müssen, sieht Metzer als Ursache für psychische Erkrankungen. Wer das nicht | |
kann, werde aussortiert, bestätigt auch Vernaldi. Für ihn sind | |
Internierungen jedoch auch Ausdruck davon, dass wegsperrt wird, wovor | |
Menschen Angst haben: „Verrückt oder behindert will man ja nicht sein. | |
Darum muss das aus dem Blick.“ Besonders brutal findet er die derzeit so | |
populären Patientenverfügungen, deren Devise letztlich laute: Macht mich | |
lieber tot, als dass ich alt, krank oder abhängig von der Hilfe anderer | |
bin. | |
Wie Inklusion aussehen könnte, zeigt die Pride Parade: Redebeiträge werden | |
in leicht verständlicher Sprache gehalten, es gibt Übersetzungen zwischen | |
Laut- und Gebärdensprache und Möglichkeiten zum Ausruhen für jene, denen | |
das Gehen oder Stehen lang wird. | |
Dass manche Menschen an der Demo nicht teilnehmen können oder wollen, ist | |
den Veranstalter_innen klar: „Bei manchen ist die Scham zu groß, weil sie | |
ständig Stigmatisierungen erleben, andere sind in Psychiatrien weggesperrt, | |
wieder andere können wegen Aufenthaltsbestimmungen nicht anreisen“, sagt | |
Metzer. Leuten mit Depressionen sei vielleicht auch gar nicht zum Feiern | |
zumute. In diesem Jahr gibt es deshalb einen „Traurigen Wagen“, auf dem im | |
Gegensatz zum Rest der Demo nicht gefeiert wird. | |
Mit ihrer Forderung nach Rechten für Menschen mit Behinderungen und | |
psychiatrischen Diagnosen, ihrer grundlegenden Kritik an Normen von | |
Leistung und Schönheit kann die Parade auch eine Demo für jene sein, die | |
sich vielleicht gar nicht angesprochen fühlen: Nicht nur kann jeder Mensch | |
durch Unfall, Alter oder eine psychische Krise in eine andere | |
Lebenssituation geraten, mein Vernaldi – mit Konkurrenzdruck und | |
Schönheitsidealen ist jede_r im alltäglichen Leben konfrontiert. Der Aufruf | |
lautet also: „Her mit dem schönen Leben für alle“ *Name geändert | |
10 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
Hilke Rusch | |
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