# taz.de -- Nachruf auf Matthias Vernaldi: Unverschämt lebendig | |
> Matthias Vernaldi war Vorkämpfer für die Selbstbestimmung von Menschen | |
> mit Behinderungen – vor einer Woche ist er mit 60 Jahren gestorben. | |
Bild: Matthias Vernaldi 2014 bei einer Protestaktion vor dem Neuköllner Rathaus | |
Das Memento mori stand in seinem Wohnzimmer auf der Anrichte. Ein | |
Totenschädel, neben den Fotos der Familie. Der Tod war Matthias Vernaldi | |
ein Begleiter. Als ungebetenen Gast hat er ihn eingeladen, mit ihm das | |
Leben zu feiern. Das hat er sich erkämpfen müssen gegen Verhältnisse, die | |
ihn zum unmündigen Pflegefall erklären wollten, gegen die Prognosen der | |
Ärzt*innen. Die gaben ihm und seinen nach und nach immer | |
bewegungsunfähigeren Muskeln gerade mal zwanzig Jahre Zeit zum Leben. Die | |
angeborene spinale Muskelatrophie bedeute einen frühen Tod, zwangsläufig, | |
haben sie gesagt. | |
Er hat allen Unkenrufen getrotzt, bis zum Montag letzter Woche. Da ist | |
Matthias Vernaldi, Berliner Aktivist der Behindertenbewegung, mit sechzig | |
Jahren gestorben. Dass er überhaupt so alt geworden ist, das war für ihn | |
klar, lag nur an der persönlichen Assistenz und seinem unbedingten | |
Lebenswillen. Er, der in den letzten Jahrzehnten keine Hand mehr heben | |
konnte, hatte immer jemanden an seiner Seite. Als Arbeitgeber seines rein | |
männlichen Teams suchte er sich seine Assistenten selbst aus. Matthias | |
Vernaldi war sich sicher: Hätte er in einem Heim leben müssen, er wäre viel | |
früher unter die Erde gekommen. Seine Assistenten waren geschult im Umgang | |
mit seinem Atemgerät, mehrfach retteten sie sein Leben, verhinderten | |
Erstickungen oder stellten sich Sanitätern in den Weg, die fanden, es lohne | |
sich nicht, den Bewusstlosen zu versorgen. | |
Sein Leben war eines, das vielen auch in aktuellen Debatten als ein | |
Paradebeispiel für „nicht lebenswert“ gegolten hätte. „Wir brauchen kei… | |
Sterbehilfe, wir brauchen Lebenshilfe!“, hätte Matthias Vernaldi dazu | |
gesagt. Er drehte allen eine Nase, die ihm seinen Lebenswert absprachen. | |
Geboren im thüringischen Pößneck, kam er mit sieben Jahren ins Internat in | |
Gotha. Im Schlafsaal lagen die Kinder Bett an Bett, die Krankenschwestern | |
pflegten wie am Fließband, es regierte die schwarze Pädagogik, renitente | |
Kinder wurden mit Medikamenten ruhig gestellt. Nachts kamen Pfleger, um | |
Matthias' krumme Glieder in einem Gipsbett gerade zu biegen. Seine | |
Erfahrungen beschrieb er in seinem autobiographischen Roman | |
„Dezemberfahrt“. | |
Als Teenager kommt er in eine liberalere Einrichtung in Arnstadt, trifft | |
auf progressive, christliche Pfleger*innen und Lehrer*innen. Mit vierzehn | |
geht er in den lokalen Kneipen ein und aus, betrunkene Gäste mit glasigen | |
Augen legen den Arm um ihn, versichern ihm mitleidig: „Junge, einen wie | |
dich hätte unser Führer damals vergast.“ Auf die örtliche Oberschule darf | |
er nicht gehen – zu viele Treppen. Sein Abi hätte er machen können, im | |
Internat in Birkenwerder, wo stark pflegedürftige Schüler*innen damals noch | |
ausschließlich im Bett unterrichtet wurden. Für ihn ausgeschlossen. | |
Mit rebellischen Arnstädter Mitschüler*innen gründet er 1978 statt dessen | |
die erste WG für behinderte Menschen, da ist er neunzehn Jahre alt. Direkt | |
ins Altenheim oder zurück zur Familie – keiner von ihnen will, was die DDR | |
für sie als Pflegebedürftige nach der Schule bereit hält. In Hartroda bei | |
Gera übernehmen sie einen alten, verkommenen Pfarrhof. Ihre | |
nichtbehinderten Mitbewohner*innen können sich als Pfleger*innen dem | |
Arbeitszwang entziehen, ohne in der DDR als „asozial“ zu gelten. | |
Vernaldi studiert Theologie im Selbststudium, wird Prediger der Dorfkirche. | |
Die Thüringer Landeskirche verweigert ihm die Ordination: Ein Pfarrer im | |
Rollstuhl, das ginge nicht, er müsse doch die Hände zum Segen heben und | |
Sterbenden treppauf beistehen können. Er predigt trotzdem weiter. Hartroda | |
wird zum Magnet für Aussteiger*innen. Punks und Künstler*innen kommen, | |
helfen mit, den Hof bewohnbar zu machen. Jedes Jahr feiern sie ihre | |
Unabhängigkeit von System und Pflegeheim mit einem Festival. | |
Der Stasi missfällt das Treiben, vor allem Matthias Vernaldi, der als | |
Chef-Organisator gilt. Sein Hausarzt bespitzelt ihn jahrelang, als | |
operativer Vorgang „Parasit“, berichtet minutiös und voyeuristisch. Ende | |
der 80er Jahre wird Matthias Vernaldi in der Bürgerrechtsbewegung aktiv. Er | |
ist gut vernetzt, auch nach Westdeutschland, wohin er schon zu DDR-Zeiten | |
als „nicht arbeitsfähiger“ Bürger reisen darf. 1994 zieht er nach Neuköl… | |
in eine eigene Wohnung, organisiert sich seine Assistenten selbst, fortan | |
als ihr Chef. | |
Er wird zu einer der wichtigsten Figuren der Berliner | |
Behindertenselbsthilfe, verhandelt bessere Entgelte für Assistenz, lässt | |
sich vor der Senatsverwaltung für Finanzen in zehn Metern Höhe von einem | |
Kran baumeln, besetzt Rathäuser. Schreibt Texte mit Empörung, Verve und | |
Provokation. Ficken, Scheißen, Arsch und Schwanz kommen oft drin vor – | |
Matthias Vernaldi war im besten Sinne unverschämt. Die Scham über die | |
fremden Hände, die ihn täglich wuschen und fütterten, hat er umgedreht und | |
produktiv gemacht: 2006 gründet er mit behinderten und nichtbehinderten | |
Autor*innen das schamlos satirische Magazin „Mondkalb – Zeitschrift für das | |
Organisierte Gebrechen“. | |
Er mischt mit bei der „Behindert und verrückt feiern Pride Parade“, sitzt | |
auf unzähligen Podien, engagiert sich für das Mahnmal der | |
NS-„Euthanasie“-Opfer und gegen neue „Euthanasie“-Fans wie den Bioethik… | |
Peter Singer. Im Jahr 2000 gründet er die Initiative „Sexybilities“, | |
organisiert sexuelle Dienstleistungen für behinderte Menschen. In Hartroda | |
hatte Vernaldi Liebhaberinnen – in Berlin wird er bekennender Freier, | |
unterstützt Sexarbeiter*innen und die Hurenorganisation Hydra. Sex ist ihm | |
wichtig, genauso wie Portwein und Schampus. | |
In seinem Wohnzimmer, vis-à-vis des Totenschädels, saß man und aß das | |
exzellente Essen, das Matthias Vernaldi – die Hände seiner Assistenten | |
dirigierend – gekocht hatte, und lachte über seine rabenschwarzen, | |
lebensklugen Zoten. Als bibelfester Christ und Anarchist, als Feminist und | |
Freier passte er in keine Schublade. | |
Seine Stimme wird fehlen, gerade jetzt, gerade hier. | |
16 Mar 2020 | |
## AUTOREN | |
Rebecca Maskos | |
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