# taz.de -- Schwerstbehinderte besetzen Rathaus: Im Krankenhaus alleingelassen | |
> Für Menschen mit schwerer Behinderung ist Assistenz im Krankenhaus | |
> überlebenswichtig. Doch manche Bezirke bezahlen diese nicht. Betroffene | |
> besetzten deshalb das Kreuzberger Rathaus | |
Bild: Protestierende im Rathaus Berlin-Kreuzberg | |
Matthias Vernaldis Megafon dröhnt durch die Eingangshalle des Kreuzberger | |
Rathauses. Ein 90er-Jahre-Bau, immerhin barrierefrei. Rund 15 Rollifahrer, | |
AssistentInnen und UnterstützerInnen haben sich hier versammelt, gleich | |
wollen sie den Eingang des Rathauses blockieren. Ihre Forderung: Der Bezirk | |
soll endlich dafür bezahlen, dass Menschen mit schweren Behinderungen ihre | |
Assistenten mit ins Krankenhaus nehmen können. „Bei meinem letzten | |
Krankenhausaufenthalt wäre ich ohne Assistent gestorben“, sagt Vernaldi. | |
Der 58-Jährige hat Muskelschwund, muss beatmet werden und könnte nicht | |
einmal die Notklingel drücken. | |
Menschen, die wie Vernaldi auf Assistenz angewiesen sind, können diese | |
entweder über einen Pflege- oder Assistenzdienst beziehen | |
(Dienstleistungsmodell) oder die Assistenten selbst beschäftigen | |
(Arbeitgebermodell). „Das hängt davon ab, ob man sich mit der ganzen | |
Abrechnung herumschlagen will und kann“, sagt Jule Butzek, die am Dienstag | |
mit ihrem Elektrorolli im Rathaus steht. „Das Thema Krankenhaus war der | |
Grund, warum ich inzwischen meine Assistenten selbst beschäftige“, sagt die | |
29-Jährige. Denn wer das Arbeitgebermodell wählt, bekommt gemäß einer | |
gesetzlichen Regelung von 2009 die Unterstützung auch im Krankenhaus | |
bezahlt. Die mit dem Dienstleistungsmodell, rund 90 Prozent der | |
Betroffenen, nicht. Eine Ungleichbehandlung, die laut einem Gutachten der | |
Humboldt-Universität von 2015 nicht mit der UN-Behindertenrechtskonvention | |
vereinbar ist. | |
Im Frühjahr 2016 hatte die damals zuständige Senatsverwaltung für Soziales | |
und Gesundheit unter Mario Czaja (CDU) eine Vergütungsvereinbarung mit drei | |
Berliner Assistenzdiensten abgeschlossen, nach der die Assistenz auch bei | |
Krankenhausaufenthalten zumindest anteilig finanziert wird. Problem nur: In | |
der Realität halten sich manche Bezirke, allen voran | |
Friedrichshain-Kreuzberg, nicht daran. | |
„Bei uns sind inzwischen Kosten von 40.000 Euro aufgelaufen“, sagt Uschi | |
Aurien aus dem Vorstand von Ambulante Dienste und selbst Assistenznehmerin. | |
Der 1981 gegründete Verein unterstützt mit rund 600 MitarbeiterInnen über | |
100 Menschen mit schweren Behinderungen in allen Bereichen des täglichen | |
Lebens. „Wir stecken in einem Dilemma“, sagt Aurien. „Wenn wir unsere | |
Kunden im Krankenhaus allein lassen, sind sie unterversorgt bis hin zu | |
lebensbedrohlichen Situationen.“ Deshalb betreut der Verein sie häufig auch | |
weiterhin – und bleibt auf den Kosten sitzen. | |
„Wir bleiben hier, bis Knut Mildner-Spindler die Bezahlung zusichert“, ruft | |
Matthias Vernaldi in sein Megafon. Mildner-Spindler (Linkspartei), | |
Friedrichshain-Kreuzberger Stadtrat für Soziales, ist leider gerade nicht | |
im Haus. Aber, versichert er der taz am Telefon, er wolle die | |
Demonstrierenden zu einem Gespräch am Donnerstag einladen. Die | |
Vergütungsvereinbarung mit den Assistenzdiensten widerspreche der | |
Bundesgesetzgebung, so der Stadtrat. Das müsse erst geklärt werden. Dass | |
das auf dem Rücken der Betroffenen ausgetragen wird, „bedaure ich sehr“. | |
Einer davon ist Dennis Tampe. Der 26-Jährige, der aufgrund einer | |
Muskelerkrankung auf 24-Stunden-Betreuung angewiesen ist, liegt gerade in | |
der Charité – ohne Assistent. Sich drehen, das Kissen richten, etwas | |
trinken – wegen allem muss Tampe klingeln. „Zu oft“, habe ihm das Personal | |
schon gesagt. | |
In der inzwischen SPD-geführten Senatsverwaltung für Gesundheit ist man | |
erstaunt, dass sich einzelne Bezirke nicht an die Vergütungsvereinbarung | |
halten: Sie seien daran gebunden. Man wolle sie noch einmal kontaktieren | |
und „auf Vertragseinhaltung drängen“, so ein Sprecher gegenüber der taz. | |
Im Rathaus haben indes Matthias Vernaldi, Jule Butzek, Uschi Aurien und die | |
anderen den Eingang besetzt. Sie wollen bleiben, bis es eine Entscheidung | |
gibt – zur Not über Nacht. „Sollen sie mich doch wegtragen“ sagt Butzek. | |
Rund 200 Kilo wiegt ihr Rollstuhl. Ihrem Freund Dennis Tampe bleibt noch | |
eine Woche im Krankenhaus. Sieben mal 24 Stunden ohne Assistenz. | |
4 Apr 2017 | |
## AUTOREN | |
Manuela Heim | |
## TAGS | |
Behinderte | |
Menschen mit Behinderung | |
Leben mit Behinderung | |
Leben mit Behinderung | |
Behinderung | |
Burkhard Lischka | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Inklusion | |
Verdi | |
Lesestück Recherche und Reportage | |
Barrierefreiheit | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Nachruf auf Matthias Vernaldi: Unverschämt lebendig | |
Matthias Vernaldi war Vorkämpfer für die Selbstbestimmung von Menschen mit | |
Behinderungen – vor einer Woche ist er mit 60 Jahren gestorben. | |
Tag der Menschen mit Behinderung: Forderung nach Wahlrecht für alle | |
Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung fordert, dass auch Menschen | |
unter Vollbetreuung wählen dürfen. Die Regierung will handeln. | |
Betreuer über das Sterben in der Pflege: Ich jedenfalls hätte Angst bekommen | |
Was tun, kurz vor dem Tod? Warum ist Sabrina fröhlich, während Peter jede | |
Berührung als Zumutung empfindet? Ein Einblick in die Realität sozialer | |
Arbeit. | |
Menschen mit Behinderung: Vom Wahlrecht ausgeschlossen | |
Menschen mit Betreuung „in allen Angelegenheiten“ dürfen laut | |
Bundeswahlgesetz nicht wählen. Wie willkürlich ist diese Regelung? | |
Vorstandswahl bei der Lebenshilfe: Auf dem Weg an die Spitze | |
Für Träger der Behindertenhilfe ist Inklusion Programm. Doch in ihren | |
Leitungsgremien sitzen kaum Menschen mit Beeinträchtigung. Das könnte sich | |
jetzt ändern. | |
Expertin über Pflegekräftemangel: „Die Patienten sind gefährdet“ | |
Die Pflegekräfte in Deutschland sind stark überbelastet, sagt | |
Verdi-Bundesvorstand Sylvia Bühler. Sie fordert eine Mindestbesetzung in | |
Krankenhäusern. | |
Klinik in Spremberg (Brandenburg): Das Krankenhaus der Mitarbeiter | |
Vor 20 Jahren kauften die Mitarbeiter gemeinsam die Klinik Spremberg. Heute | |
sind sie zufriedener – und die Patienten auch. | |
Barrierefreiheit in Berliner Neubauten: Das Gespenst der hohen Kosten | |
Die Koalition will an der Bauordnung in Sachen Barrierefreiheit nichts mehr | |
ändern. Behindertenvertreter, Opposition und Experten: Argumente dafür sind | |
Unsinn. |