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# taz.de -- Behinderte im Visier der StaSi: "Laufen wollt ich, doch man gab mir…
> In Thüringen entstand vor 30 Jahren so etwas wie die Kommune 1 der DDR.
> Hartroda war ein einmaliges Lebensprojekt Behinderter - zum Missfallen
> der StaSi.
Bild: Körperbehinderte unterlagen in der DDR einer "Meldepflicht" - ein selbst…
Bertram sitzt am Küchentisch und dreht sich seine Zigaretten aus der
Tupperdose. Sein halbes Leben schon wohnt er in dieser WG in Hartroda.
Seine Augen blicken freundlich, aber mutlos. Früher in der DDR verdingte
sich der drahtige Mann als Transportarbeiter bei der Wismut. In dem
Bergbauunternehmen, wo sie hier in Sichtweite Uran abbauten. Nach der Wende
schult er zum Tischler um - einen Job findet Bertram nicht. Er ist 44 Jahre
alt. Und das Reden überlässt er lieber Sylvia, die fast genauso lange hier
lebt, in der WG. Sie war einmal Verkäuferin, hat eine Ausbildung zur
Familienpflegerin gemacht, sie ist selbstbewusster als Bertram, Arbeit hat
sie trotzdem keine bekommen. Die anderen Mitbewohner, sieben sind es
derzeit, lassen sich nicht blicken, sitzen oben in ihren Zimmern und hören
Musik. Jeder lebt für sich.
Wer die prallen Aktenordner bezwungen hat, die die Stasi über diese
Wohngemeinschaft seinerzeit zusammentrug, erwartet von einem Besuch in
Hartroda etwas anderes, etwas Subversives. Bertram findet: "Hier passt man
ein bisschen aufeinander auf." Anderswo leben? Sylvia spielt dieses
Szenario oft durch. Einmal hat sie versucht, wegzukommen. Nach einem Jahr
zog sie wieder ein. Irgendwann ist ihr vielleicht klar, dass sie hier
rausmuss. "Irgendwann", "vielleicht", Sylvia schaut, als glaubte sie sich
selbst nicht: "Ich hab Schiss davor."
Die Kommunarden in Hartroda sind Gefangene von Hartz IV. Das hat ihnen die
Selbstständigkeit ausgetrieben. Wenn sich Sylvia vergewissern will, dass
das mal anders war, dann holt sie aus ihrem Zimmer die Kiste mit den Fotos.
Wenn sie die Bilder wieder sieht, dann merkt man, wie mit den dazugehörigen
Geschichten Sylvias Mut wächst. Hier zu wohnen, das bedeutete
Selbstbefreiung. Wenn sie erzählt, fällt vor allem ein Name: Matthias
Vernaldi.
Dieser Matthias Vernaldi entwickelt in Hartroda den Mut, sich über
staatliche Fesseln hinwegzusetzen. Die Kommune und dieser bärtige Mann im
Rollstuhl lassen sich nicht getrennt erzählen. Ohne ihn hätte es Hartroda
nie gegeben. Und ohne die Kommune, davon ist er überzeugt, wäre er schon
unter der Erde. Stattdessen wohnt er heute selbstbestimmt im Berliner
Stadtteil Neukölln. Für einen Mann ohne Muskelkraft ist das alles andere
als selbstverständlich: Vernaldi hatte in seinem Leben Sex mit Frauen, war
Prediger, setzt sich seit Jahren lautstark für die Rechte Behinderter ein
und wirkt derzeit an einer Zeitung für das "Organisierte Gebrechen" mit.
Vernaldi hat es geschafft, aus seinem genetischen Gefängnis zu fliehen.
Die Flucht beginnt mit einem Gegenmodell in der DDR: Behinderten und
Nichtbehinderten gelingt es, in diesem vorstrukturierten Staat, der keine
Nischen für Abweichler erlaubt, eine selbstbestimmte Kommune zu gründen.
Ein kleine Revolution innerhalb der DDR, die in einem kleinen Thüringer
Dorf vollzogen wurde. Ein Kaff mit knapp fünfzig Einwohnern, meist Bauern
oder bartstoppelige Malocher vom Uranabbau. Dieses Wohnprojekt wirkt auf
die Stützen des Sozialismus etwa so irritierend, als würde McKinsey heute
Fünfjahrespläne propagieren. Willfährige Spitzel und Hauptamtliche des
Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) füllen in elf Jahren rund 2.000
Seiten, abgeheftet in T-Gleit-Ordnern der VEB Organisationstechnik
Eisenberg. Sie nennen ihre Akten "Parasit" und "Kommune". Ihre Feinde sind
Spastiker, Querschnittgelähmte, Muskelkranke. Damals existieren fast
ausschließlich Gründe, die Hartroda zum Scheitern verurteilen: Aber als
Matthias Vernaldi mit neunzehn Jahren hier ankommt, kennt er die
Alternative. Er musste sie sieben Jahre erdulden. In der Landkommune
entwickelt er die nötige Energie, sich so etwas für immer zu ersparen. Die
Entstehung der WG in Hartroda erklärt sich aus dem repressiven Umgang des
Staates mit Schwerstbehinderten - Menschen, von denen ein
Arbeiter-und-Bauern-Staat nichts Produktives zu erwarten hat. Matthias
Vernaldi ist ein Beispiel für diesen Umgang.
In der DDR gilt für Behinderte unter achtzehn Jahren eine Meldepflicht bei
den Abteilungen des Gesundheitswesens. So normiert, klassifiziert und
sortiert das System seine Bürger. Matthias Vernaldi hat wie seine Schwester
progressive Muskeldystrophie, von Geburt an. Menschen wie ihn trennt der
Apparat von gesunden Schülern, er trennt Kinder von ihren Familien, auch
gegen den Willen der Eltern. Im Jahr 1966 kommt er deswegen mit sieben
Jahren in das "Haus am Seeberg" nach Gotha. Es ist eine der wenigen Schulen
für Körperbehinderte mit angeschlossener orthopädischer Klinik. Den
herrschaftlichen Bau ziert ein kleiner Turm neben dem Portal. Hinter der
schmucken Fassade der Villa aber interniert das Haus am Seeberg
Aussortierte wie Vernaldi. Sein Zimmer ist ein Saal mit etwa 25 Betten,
dazwischen Flure, gerade breit genug für die Rollstühle. Privat ist nur das
Nachtschränkchen am Bett. Die Kinder sind Faktoren in einem
durchrationalisierten Prozess. "Die gingen durch die Bettreihen und zogen
den Leuten die Hosen runter, legten reihum Pinkelpullen an oder
Bettpfannen", sagt Vernaldi. Wie am Fließband müssen die Schwestern ihre
Arbeit organisieren, wenn auf eine Pflegerin fünfundzwanzig Kinder kommen,
die sich weder allein waschen noch anziehen können, die für die
alltäglichsten Dinge Hilfe benötigen. "Zum Teil sind behinderte Menschen
mit Medikamenten ruhig gestellt worden", erinnert sich ein späterer
Bekannter. "Die wurden früh gewaschen, dann kriegten sie eine Tablette
hinterher, damit sie bis zum Mittagessen ruhig waren. Das ist keine
Lebensperspektive für Menschen, die was wollen und die so hochintelligent
sind wie Matthias Vernaldi."
inder, die auf die soziale Akkordarbeit, auf die institutionelle Gewalt
renitent reagieren, erwartet der Dachboden. Eine hohe Kiste steht dort
bereit. Die Schüler nennen sie "Mäusekiste". Ein Rebell muss nur darin
abgelegt werden, dann hat es sich mit seinem Aufstand. "Die konnten ja
nicht laufen, also blieben sie darin dann liegen. Im Dunkeln, im Dreck, wir
sagten: Da sind tote Mäuse drin", erinnert sich Vernaldi.
Der medizinische Blick dominiert die Sonderpädagogik der DDR, die
Orthopädie orientiert sich am Ebenmaß des Menschen. Matthias Vernaldi
bekommt das an seinen Kontrakturen, seinen krummen Knie- und
Ellbogengelenken zu spüren. Nachts holt ihn ein Pfleger ab. "Er hatte
Schurz und Stiefel aus Gummi an. Ruppig nahm er mich huckepack und
schleppte mich in den Keller. Dort zogen auch die Ärzte Gummischürzen über.
Ich wurde nackt auf eine Pritsche gelegt und auf den Bauch gedreht. Dann
drückten alle Hände im Gipskeller an meinem Körper herum. Ich wurde
gerichtet. Erst mit einer Rolle unter den Knien gelang es, meinen Hintern
sowie Füße und Beine derart durchzudrücken, dass sie den Vorstellungen der
Ärzte entsprachen." Sie formen eine Gipsschale. Ein Negativ des
angestrebten Körperideals. Eine halbe Stunde dauert die quälende Prozedur.
Abends bindet ihn die Spätschicht an die Form, morgens befreit ihn die
Frühschicht. Eine orthopädische Folter, die aus dem Krüppel über Wochen
einen ansehnlich geformten Menschen machen soll.
Im Beisein des Chefarztes, eines Wissenschaftlers, den das große Ganze
interessiert. Ihm geht es um die Volksgesundheit, als ihm Matthias Vernaldi
mit neun Jahren unter das Messer gerät. Unter Äthernarkose zwei
Muskelschnitte am Oberarm und am Schenkel bis auf die Knochenhaut. Der
Mediziner braucht Muskelgewebe für Forschungszwecke. Das müsse sein, habe
er zu Vernaldis Vater gesagt. Wo käme man hin im Sozialismus, wenn jeder
nur an sein Kind denken würde? Es gehe um die Erforschung der
Muskeldystrophie, habe er der Skepsis seines Vaters erwidert. Er werde es
sehen: Sein Sohn werde laufen wie ein Gesunder. "Dieser Herrenmensch
brachte alle unsere Eltern dazu, ihre Kinder als Versuchskaninchen
preiszugeben", sagt Vernaldi. Die Muskelschnitte bewahrt der Arzt in der
Dachstube auf.
Nach sieben Jahren, Matthias Vernaldi ist vierzehn Jahre alt, lässt er die
Normalisierungsmaschine in Gotha hinter sich und kommt 1972 in ein Heim der
Diakonie für körperbehinderte Kinder. Im Marienstift in Arnstadt begegnet
er erstmals anderen Behinderten, die in ihrer Mobilität nicht vollends
eingeschränkt sind. Und in Arnstadt begegnet Vernaldi Ideen von einem
anderen Leben. Diakonieschüler und bärtige Theologiestudenten
transportieren sie in das Heim. Sie bringen Beatmusik mit, tragen Parkas
und Jeans. Die Nachwehen der 68er: Vernaldi findet Gefallen an den Stones
und an der Vorstellung von Selbstbestimmtheit. Er freundet sich mit Leute
an, denen ein DDR-konformer Alltag zuwider ist. Und mit den Jahren in
Arnstadt wird es für ihn unmöglich, dem Weg zu folgen, der für
Schwerstbehinderte vorgezeichnet ist. Wenn er das Marienstift nach der
Schulzeit verlassen muss, bleiben ihm zwei Möglichkeiten: Er kann wie ein
Kleinkind ein Leben lang von seinen Eltern gepflegt werden. "Oder du bist
mit 18 Jahren in ein Alterspflegeheim gekommen. Wenn du Glück hattest, in
die Jugendstation. Da waren die unter Sechzigjährigen." Hellwach dämmern,
bis zum Lebensende. "Wir wollten nicht den Rest unserer Zeit sehnsüchtig
den Stationsflur hinuntersehen", sagt Vernaldi.
ie entwickeln ein einmaliges Lebenskonzept. Eine christliche Bruderschaft
von Behinderten und Nichtbehinderten, die ein selbstbestimmtes Leben als
Kommunarden führen. Sie werden ihre 180 Ostmark Renten und Pflegegelder in
einen Topf werfen und damit ihre eigenen Pfleger finanzieren. So hebeln sie
den Paragrafen 249 aus, der Gesunde wegen "asozialer Lebensweise" mit drei
Jahren Knast bestraft, sollten sie es wagen, auf eine zugeteilte Arbeit zu
pfeifen. Sie haben eine Immobilie bei Leipzig im Auge, doch die nötige
Zuzugsgenehmigung verwehrt der Gemeinderat. "Das kriegt ihr nicht, ihr seid
doch schwul, hieß es. Wir waren junge Männer, hatten lange Haare, waren
behindert, und das wars dann", sagt Vernaldi. Nur die Kirche kann ihre
Dienstwohnungen ohne Zuzugsgenehmigung besetzen. In Hartroda entdecken sie
im Juni 1978 einen verlassenen Pfarrhof, Vernaldi ist gerade mal neunzehn
Jahre alt. Es ist auch physisch riskant: Er kann zu diesem Zeitpunkt nur
noch seine Hände leicht bewegen.
An einem verregneten und kalten Tag 1978 fährt er nach Hartroda. Durch die
Scheiben des Trabant seiner Eltern blickt Matthias Vernaldi auf die
Agrarsteppe Ostthüringens. Er knattert im Duroplastmobil durch zerfallene
Dörfer, tiefe Schlaglöcher in den Straßen, Ödnis. Ein Anstieg, dann das
Ortsschild: Wildenbörten, Ortsteil Hartroda, Bezirk Leipzig. In Sichtweite
türmen sich die Halden des Uranabbaus der Wismut AG wie versteinerte
Bugwellen in die ausgebeutete Landschaft. Keine befestigte Straße gibt es
im Ort, keine Post, keinen Laden, keine Bushaltestelle. Am höchsten Punkt
steht der Pfarrhof. Der Holzzaun drumherum ist eingedrückt, das Tor hängt
schief in den Angeln, von innen kann man durch das Loch im Dach den Himmel
sehen. Die Mutter von Matthias Vernaldi ist von dieser Tristesse wenig
angetan. Für ihn jedoch ist es ein biblischer Ort, nach allem, was er
bisher erlebt hat. Vernaldi ist gerade mal neunzehn Jahre alt.
m Haus fehlen die Dielen. Sie ziehen mit Matratzen, einer Kochplatte und
einer Stereoanlage ein. Das Paradies hält täglich Fettbrot, Schwarztee, und
Malzkaffee bereit. Für einen wie Vernaldi ist das "die absolute Erfüllung,
nicht nur weil das Freiheit bedeutete, sondern auch weil das alles leer
war. Wir konnten das mit unseren Träumen füllen."
Ihre spirituelle Sozialisation bei "Halleluja-Terroristen, bei diesen
Pneumatikern, Extatikern und Pfingstlern", wie Vernaldi sagt, bestimmt
nicht lange das Leben. Anfangs treffen sie sich noch zu Bibelstunden, es
gibt Tischgebete und Andachten. Vernaldi predigt, hält später auch
Gottesdienste, gibt Konfirmandenunterricht für die Dörfler. Später
entstehen Theater- und Diskussionsgruppen, sie protestieren gegen den
Uranabbau, wandeln sich von Christen zu Ökos zu Anarchos, durchlaufen die
WG-typische Sozialisation der Selbstfindung. Die Abgeschiedenheit, das
vermeintliche Unbeobachtetsein und die tatsächliche Freiheit, so zu leben,
wie es beliebt, macht die Kommune zum Anlaufpunkt für Andersdenkende, für
spätere Oppositionellen, für DDR-Punks, auch für Drogenabhängige, für von
der Gesellschaft Ausgespiene, die hier der DDR-Wirklichkeit entfliehen
wollen. Die WG ist von der Idee beseelt, den Einzelnen auch in seiner
Unfähigkeit zu akzeptieren. Das bringt Probleme mit sich. "Wir waren
Versager im Alltag, dreckige Buden, nichts auf die Reihe gekriegt".
Vernaldi lacht.
Das Prinzip Selbstversorgung läuft anfangs nur zäh an. Die gezüchteten
Hühner sind so klein, dass sie in Einweggläser passen, die Schafe äsen vor
Hunger in fremden Vorgärten und werfen Fehlgeburten, aber mit der Zeit
bevölkern Leute die Kommune, die die Landwirtschaft in den Griff bekommen.
Und auch die Dorfbewohner gewöhnen sich an die schrägen WGler. "Man mag
einer dörflichen Gesellschaft höchste Intoleranz vorwerfen. Aber wenn ich
mir im Nachhinein überlege, wie sehr wir die Toleranzgrenze überschritten
haben, und es ist nie ein Übergriff passiert. Wir waren eine Zeit lang
integriert", sagt Vernaldi. Er organisiert, kümmert sich um den
Briefverkehr mit Behörden und der Kirche, in der WG nennen sie ihn "Chef",
was Vernaldi nicht gerne hört. Der bibelfeste Intellektuelle versteht sich
selbst als bedingungsloser Anarchist. Die Behinderten bessern die
Gemeinschaftskasse mit selbst gebastelten Postkarten und Linoleumdrucken
auf, manche der Pfleger arbeiten als Totengräber. Hartroda wächst, zu
Hochzeiten wohnen zwanzig Behinderte und Nichtbehinderte dort, und jedes
Jahr feiern sie den Tag ihrer Unabhängigkeit mit einem ausschweifenden
Festival.
Dann fällt die Szene in den kleinen Ort ein, bis zu zweihundert Freaks,
Friedensbewegte, Ökoaktivisten, Hippies. Denn Vernaldi ist vernetzt auch
nach Westdeutschland. Als Schwerstbehinderter darf er zum Klassenfeind
reisen. Er baut Kontakte nach Westberlin aus, schmuggelt Cannabis,
verbotene Bücher, Infoblätter der Antifa in die Landkommune in
Ostthüringen.
Das MfS beobachtet die WGler vom ersten Jahr an. Gegen Vernaldi und zwei
weitere Bewohner eröffnet die Staatssicherheit den Operativen Vorgang
"Parasit". Begründung: "Seit ihrem Bestehen entwickelt sich die Gruppe in
Hartroda zu einem Anlaufpunkt für negativ-klerikale Kräfte, Homosexuelle,
Asoziale, Haftentlassene und sogenannte ,Aussteiger'." Sie habe sich "zu
einem Verbreiter pazifistischen Gedankengutes und aktivem Befürworter und
Unterstützer einer nichtstaatlichen Friedensbewegung entwickelt". Des
Weiteren "verfügt die Gruppe über ein weitverzweigtes Verbindungsnetz
innerhalb der DDR zu negativ-klerikalen Kräften, die größtenteils operativ
bearbeitet werden." Weiter heißt es: "Der Kopf, Initiator und Inspirator
dieser Gruppe ist der Schwerstgeschädigte Matthias Vernaldi, der ständig an
den Rollstuhl gebunden ist, jedoch über sehr gute und ausgeprägte geistige
Fähigkeiten verfügt. V. ist als Hilfsprediger angestellt und als
Korrespondent der kirchlichen Zeitschrift Glaube und Heimat tätig. Da seine
Artikel jedoch ständig einen die Verhältnisse in der DDR diskriminierenden
Charakter tragen, erfolgte bisher noch keine Veröffentlichung."
In den MfS-Akten finden sich exakt gezeichnete Grundrisse, Fotos, Kopien
des Adressbuchs von Vernaldi, seitenlange Listen mit Personenbeschreibungen
und Angaben zu den Besuchern von Hartroda. Im November 1985 hält die Stasi
fest: "Musikgruppe ,Tote Hosen' aus der BRD wollen im Mai/Juni 86 in
Hartroda auftreten."
Das MfS und seine Zuträger spähen die Kommune noch bis nach dem Mauerfall
aus. Der letzte Bericht stammt vom 24. Oktober 1989. Über Vernaldi steht
da: "Die OV-Person äußerte, dass sie für eine Wiedervereinigung
Deutschlands sei. Er wertete, dass noch mehr ,Betonköpfe' zurücktreten
müssten. In diesem Zusammenhang nannte er den Namen Erich Mielke."
Hauptzuträger ist IM "Dr. Walther". Der Mann ist sich 1979 noch sicher:
"Vielleicht brauchen wir gar nicht soooo viel zu unternehmen, allenfalls
der Kirche ein wenig behilflich sein, um diese Läuse aus ihrem Pelze zu
entfernen." Doch die Leitung der Thüringer Landeskirche ist gespalten.
Oberkirchenrat Johannes will noch 1985 aus Hartroda ein Modellprojekt für
Behinderte machen. Er stößt auf Widerstand. Die Stasi zitiert die
Einschätzung des Kirchenrats Kirchner: "Diese Bürger stellen sich durch ihr
Verhalten außerhalb der Kirche und der Gesellschaft. Das einzig richtige
wäre, wenn diese Bürger wieder in ein Pflegeheim kämen, weil sie dort ihre
Ordnung hätten. Die Kirche wird sich nicht vor diese Bürger stellen. Durch
die Kirche wird es im Falle staatlicher Maßnahmen keine Aktivitäten geben."
Beide Kirchenmänner werden später als IMs enttarnt. Immer wieder gibt es
Vermittlungen zwischen Vernaldi und der Kirchenleitung. Dies wird auch
nötig, weil der neue Pfarrer im Ort die Kommune gängelt und Vernaldi
regelmäßig anschwärzt. Er sieht in ihm eine unorthodoxe Konkurrenz,
verbietet Vernaldi, zu predigen. In einem Brief kritisiert er die
"Befürwortung eines überspitzten Autonomiestrebens". Die
Landeskirchenleitung lehnt Vernaldis Wunsch, sich ordinieren zu lassen, ab.
Er könne ja nicht mal die Abendmahlsgeräte halten. Das MfS bewertet den
Ortspfarrer als "für die operative Nutzung geeignet". Die gleiche
Einschätzung gilt dem IM "Dr. Walther", Klarname: Dr. Beutel. Er ist
Vertrauensarzt der WG und viel mehr noch: ein Freund, über mehr als ein
Jahrzent.
us den Berichten der Stasi spricht ein voyeuristisches Fasziniertsein durch
das "Abnorme". "Dr. Walther" schreibt Vernaldi noch Briefe, die
folgendermaßen enden: "Empfehlen Sie mich, bitte, Ihren mir leider noch
unbekannten Eltern und sagen Sie Ihrer guten Schwester Maria viel
Freundliches von mir." Der Stasi protokolliert Beutel: "In Hartroda wohnte
ich dem Bade von Matthias bei. Er wurde ein wenig gewaschen, auch die Haare
shampooniert, aber sonst nur eingewischt. Das Gesäß und die Genitalien
wurden nicht versorgt. Wie hilflos Matthias ist, was für ein Fettkloß ohne
Muskeln!" Als Vernaldi in der Vorwendezeit Kontakte zu Oppositionellen der
Zionskirche in Ostberlin unterhält und über ein Postfach Informationen
erhalten kann, teilt "Dr. Walther" dem MfS im Juni 1989 mit: "Ich machte
Vernaldi darauf aufmerksam, dass ich alle vier bis fünf Wochen in Berlin
sei und dann gern die Zeitschriften mitbrächte. Allerdings bräuchte ich
dann jemanden, der mich dort als vertrauenswürdig einführe?. Ich bin
begeistert bis skeptisch. Es böte sich uns hier die Möglichkeit, an das
neuste Umwelt- und Untergrundmaterial herankommen und es kopieren zu
können. Bekomme ich die finanziellen Unkosten für diese Fahrten auch von
der Dienststelle ersetzt, so tritt doch ein zusätzlicher Verschleiß für den
Wagen ein. Es wäre also zu erwägen, wie ich materiell entschädigt werden
könnte."
Vernaldi begegnet "Dr. Walther" heute noch in Berlin. In seinen Träumen.
1994 verlässt Matthias Vernaldi nach sechzehn Jahren die WG in Hartroda und
zieht nach Westberlin.
Er ist jetzt 49 Jahre alt. Sein Lebenskonzept heute heißt ambulante Hilfe,
er bezahlt seine Assistenten, die ihn im Alltag unterstützen. "Ich bin
jetzt an dem Punkt", sagt er "der in der Medizin als finales Stadium
bezeichnet wird. Also jetzt kann ich mich wirklich nicht mehr rühren." Alle
seine Freunde mit Muskeldystrophie hat er überlebt. Vernaldi führt dies auf
sein selbstbestimmtes Leben zurück. Den Mut, den ein Mensch wie er für
diese Freiheit braucht, konnte er nur in der Praxis lernen. Hartroda war
der Anfang. An der Wand seines Wohnzimmers in Neukölln hängt ein Plakat:
"Laufen wollt ich, doch man gab mir Flügel."
16 Aug 2008
## AUTOREN
Kai Schlieter
Kai Schlieter
## TAGS
Behinderung
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Nachruf auf Matthias Vernaldi: Unverschämt lebendig
Matthias Vernaldi war Vorkämpfer für die Selbstbestimmung von Menschen mit
Behinderungen – vor einer Woche ist er mit 60 Jahren gestorben.
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