# taz.de -- Behinderte im Visier der StaSi: "Laufen wollt ich, doch man gab mir… | |
> In Thüringen entstand vor 30 Jahren so etwas wie die Kommune 1 der DDR. | |
> Hartroda war ein einmaliges Lebensprojekt Behinderter - zum Missfallen | |
> der StaSi. | |
Bild: Körperbehinderte unterlagen in der DDR einer "Meldepflicht" - ein selbst… | |
Bertram sitzt am Küchentisch und dreht sich seine Zigaretten aus der | |
Tupperdose. Sein halbes Leben schon wohnt er in dieser WG in Hartroda. | |
Seine Augen blicken freundlich, aber mutlos. Früher in der DDR verdingte | |
sich der drahtige Mann als Transportarbeiter bei der Wismut. In dem | |
Bergbauunternehmen, wo sie hier in Sichtweite Uran abbauten. Nach der Wende | |
schult er zum Tischler um - einen Job findet Bertram nicht. Er ist 44 Jahre | |
alt. Und das Reden überlässt er lieber Sylvia, die fast genauso lange hier | |
lebt, in der WG. Sie war einmal Verkäuferin, hat eine Ausbildung zur | |
Familienpflegerin gemacht, sie ist selbstbewusster als Bertram, Arbeit hat | |
sie trotzdem keine bekommen. Die anderen Mitbewohner, sieben sind es | |
derzeit, lassen sich nicht blicken, sitzen oben in ihren Zimmern und hören | |
Musik. Jeder lebt für sich. | |
Wer die prallen Aktenordner bezwungen hat, die die Stasi über diese | |
Wohngemeinschaft seinerzeit zusammentrug, erwartet von einem Besuch in | |
Hartroda etwas anderes, etwas Subversives. Bertram findet: "Hier passt man | |
ein bisschen aufeinander auf." Anderswo leben? Sylvia spielt dieses | |
Szenario oft durch. Einmal hat sie versucht, wegzukommen. Nach einem Jahr | |
zog sie wieder ein. Irgendwann ist ihr vielleicht klar, dass sie hier | |
rausmuss. "Irgendwann", "vielleicht", Sylvia schaut, als glaubte sie sich | |
selbst nicht: "Ich hab Schiss davor." | |
Die Kommunarden in Hartroda sind Gefangene von Hartz IV. Das hat ihnen die | |
Selbstständigkeit ausgetrieben. Wenn sich Sylvia vergewissern will, dass | |
das mal anders war, dann holt sie aus ihrem Zimmer die Kiste mit den Fotos. | |
Wenn sie die Bilder wieder sieht, dann merkt man, wie mit den dazugehörigen | |
Geschichten Sylvias Mut wächst. Hier zu wohnen, das bedeutete | |
Selbstbefreiung. Wenn sie erzählt, fällt vor allem ein Name: Matthias | |
Vernaldi. | |
Dieser Matthias Vernaldi entwickelt in Hartroda den Mut, sich über | |
staatliche Fesseln hinwegzusetzen. Die Kommune und dieser bärtige Mann im | |
Rollstuhl lassen sich nicht getrennt erzählen. Ohne ihn hätte es Hartroda | |
nie gegeben. Und ohne die Kommune, davon ist er überzeugt, wäre er schon | |
unter der Erde. Stattdessen wohnt er heute selbstbestimmt im Berliner | |
Stadtteil Neukölln. Für einen Mann ohne Muskelkraft ist das alles andere | |
als selbstverständlich: Vernaldi hatte in seinem Leben Sex mit Frauen, war | |
Prediger, setzt sich seit Jahren lautstark für die Rechte Behinderter ein | |
und wirkt derzeit an einer Zeitung für das "Organisierte Gebrechen" mit. | |
Vernaldi hat es geschafft, aus seinem genetischen Gefängnis zu fliehen. | |
Die Flucht beginnt mit einem Gegenmodell in der DDR: Behinderten und | |
Nichtbehinderten gelingt es, in diesem vorstrukturierten Staat, der keine | |
Nischen für Abweichler erlaubt, eine selbstbestimmte Kommune zu gründen. | |
Ein kleine Revolution innerhalb der DDR, die in einem kleinen Thüringer | |
Dorf vollzogen wurde. Ein Kaff mit knapp fünfzig Einwohnern, meist Bauern | |
oder bartstoppelige Malocher vom Uranabbau. Dieses Wohnprojekt wirkt auf | |
die Stützen des Sozialismus etwa so irritierend, als würde McKinsey heute | |
Fünfjahrespläne propagieren. Willfährige Spitzel und Hauptamtliche des | |
Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) füllen in elf Jahren rund 2.000 | |
Seiten, abgeheftet in T-Gleit-Ordnern der VEB Organisationstechnik | |
Eisenberg. Sie nennen ihre Akten "Parasit" und "Kommune". Ihre Feinde sind | |
Spastiker, Querschnittgelähmte, Muskelkranke. Damals existieren fast | |
ausschließlich Gründe, die Hartroda zum Scheitern verurteilen: Aber als | |
Matthias Vernaldi mit neunzehn Jahren hier ankommt, kennt er die | |
Alternative. Er musste sie sieben Jahre erdulden. In der Landkommune | |
entwickelt er die nötige Energie, sich so etwas für immer zu ersparen. Die | |
Entstehung der WG in Hartroda erklärt sich aus dem repressiven Umgang des | |
Staates mit Schwerstbehinderten - Menschen, von denen ein | |
Arbeiter-und-Bauern-Staat nichts Produktives zu erwarten hat. Matthias | |
Vernaldi ist ein Beispiel für diesen Umgang. | |
In der DDR gilt für Behinderte unter achtzehn Jahren eine Meldepflicht bei | |
den Abteilungen des Gesundheitswesens. So normiert, klassifiziert und | |
sortiert das System seine Bürger. Matthias Vernaldi hat wie seine Schwester | |
progressive Muskeldystrophie, von Geburt an. Menschen wie ihn trennt der | |
Apparat von gesunden Schülern, er trennt Kinder von ihren Familien, auch | |
gegen den Willen der Eltern. Im Jahr 1966 kommt er deswegen mit sieben | |
Jahren in das "Haus am Seeberg" nach Gotha. Es ist eine der wenigen Schulen | |
für Körperbehinderte mit angeschlossener orthopädischer Klinik. Den | |
herrschaftlichen Bau ziert ein kleiner Turm neben dem Portal. Hinter der | |
schmucken Fassade der Villa aber interniert das Haus am Seeberg | |
Aussortierte wie Vernaldi. Sein Zimmer ist ein Saal mit etwa 25 Betten, | |
dazwischen Flure, gerade breit genug für die Rollstühle. Privat ist nur das | |
Nachtschränkchen am Bett. Die Kinder sind Faktoren in einem | |
durchrationalisierten Prozess. "Die gingen durch die Bettreihen und zogen | |
den Leuten die Hosen runter, legten reihum Pinkelpullen an oder | |
Bettpfannen", sagt Vernaldi. Wie am Fließband müssen die Schwestern ihre | |
Arbeit organisieren, wenn auf eine Pflegerin fünfundzwanzig Kinder kommen, | |
die sich weder allein waschen noch anziehen können, die für die | |
alltäglichsten Dinge Hilfe benötigen. "Zum Teil sind behinderte Menschen | |
mit Medikamenten ruhig gestellt worden", erinnert sich ein späterer | |
Bekannter. "Die wurden früh gewaschen, dann kriegten sie eine Tablette | |
hinterher, damit sie bis zum Mittagessen ruhig waren. Das ist keine | |
Lebensperspektive für Menschen, die was wollen und die so hochintelligent | |
sind wie Matthias Vernaldi." | |
inder, die auf die soziale Akkordarbeit, auf die institutionelle Gewalt | |
renitent reagieren, erwartet der Dachboden. Eine hohe Kiste steht dort | |
bereit. Die Schüler nennen sie "Mäusekiste". Ein Rebell muss nur darin | |
abgelegt werden, dann hat es sich mit seinem Aufstand. "Die konnten ja | |
nicht laufen, also blieben sie darin dann liegen. Im Dunkeln, im Dreck, wir | |
sagten: Da sind tote Mäuse drin", erinnert sich Vernaldi. | |
Der medizinische Blick dominiert die Sonderpädagogik der DDR, die | |
Orthopädie orientiert sich am Ebenmaß des Menschen. Matthias Vernaldi | |
bekommt das an seinen Kontrakturen, seinen krummen Knie- und | |
Ellbogengelenken zu spüren. Nachts holt ihn ein Pfleger ab. "Er hatte | |
Schurz und Stiefel aus Gummi an. Ruppig nahm er mich huckepack und | |
schleppte mich in den Keller. Dort zogen auch die Ärzte Gummischürzen über. | |
Ich wurde nackt auf eine Pritsche gelegt und auf den Bauch gedreht. Dann | |
drückten alle Hände im Gipskeller an meinem Körper herum. Ich wurde | |
gerichtet. Erst mit einer Rolle unter den Knien gelang es, meinen Hintern | |
sowie Füße und Beine derart durchzudrücken, dass sie den Vorstellungen der | |
Ärzte entsprachen." Sie formen eine Gipsschale. Ein Negativ des | |
angestrebten Körperideals. Eine halbe Stunde dauert die quälende Prozedur. | |
Abends bindet ihn die Spätschicht an die Form, morgens befreit ihn die | |
Frühschicht. Eine orthopädische Folter, die aus dem Krüppel über Wochen | |
einen ansehnlich geformten Menschen machen soll. | |
Im Beisein des Chefarztes, eines Wissenschaftlers, den das große Ganze | |
interessiert. Ihm geht es um die Volksgesundheit, als ihm Matthias Vernaldi | |
mit neun Jahren unter das Messer gerät. Unter Äthernarkose zwei | |
Muskelschnitte am Oberarm und am Schenkel bis auf die Knochenhaut. Der | |
Mediziner braucht Muskelgewebe für Forschungszwecke. Das müsse sein, habe | |
er zu Vernaldis Vater gesagt. Wo käme man hin im Sozialismus, wenn jeder | |
nur an sein Kind denken würde? Es gehe um die Erforschung der | |
Muskeldystrophie, habe er der Skepsis seines Vaters erwidert. Er werde es | |
sehen: Sein Sohn werde laufen wie ein Gesunder. "Dieser Herrenmensch | |
brachte alle unsere Eltern dazu, ihre Kinder als Versuchskaninchen | |
preiszugeben", sagt Vernaldi. Die Muskelschnitte bewahrt der Arzt in der | |
Dachstube auf. | |
Nach sieben Jahren, Matthias Vernaldi ist vierzehn Jahre alt, lässt er die | |
Normalisierungsmaschine in Gotha hinter sich und kommt 1972 in ein Heim der | |
Diakonie für körperbehinderte Kinder. Im Marienstift in Arnstadt begegnet | |
er erstmals anderen Behinderten, die in ihrer Mobilität nicht vollends | |
eingeschränkt sind. Und in Arnstadt begegnet Vernaldi Ideen von einem | |
anderen Leben. Diakonieschüler und bärtige Theologiestudenten | |
transportieren sie in das Heim. Sie bringen Beatmusik mit, tragen Parkas | |
und Jeans. Die Nachwehen der 68er: Vernaldi findet Gefallen an den Stones | |
und an der Vorstellung von Selbstbestimmtheit. Er freundet sich mit Leute | |
an, denen ein DDR-konformer Alltag zuwider ist. Und mit den Jahren in | |
Arnstadt wird es für ihn unmöglich, dem Weg zu folgen, der für | |
Schwerstbehinderte vorgezeichnet ist. Wenn er das Marienstift nach der | |
Schulzeit verlassen muss, bleiben ihm zwei Möglichkeiten: Er kann wie ein | |
Kleinkind ein Leben lang von seinen Eltern gepflegt werden. "Oder du bist | |
mit 18 Jahren in ein Alterspflegeheim gekommen. Wenn du Glück hattest, in | |
die Jugendstation. Da waren die unter Sechzigjährigen." Hellwach dämmern, | |
bis zum Lebensende. "Wir wollten nicht den Rest unserer Zeit sehnsüchtig | |
den Stationsflur hinuntersehen", sagt Vernaldi. | |
ie entwickeln ein einmaliges Lebenskonzept. Eine christliche Bruderschaft | |
von Behinderten und Nichtbehinderten, die ein selbstbestimmtes Leben als | |
Kommunarden führen. Sie werden ihre 180 Ostmark Renten und Pflegegelder in | |
einen Topf werfen und damit ihre eigenen Pfleger finanzieren. So hebeln sie | |
den Paragrafen 249 aus, der Gesunde wegen "asozialer Lebensweise" mit drei | |
Jahren Knast bestraft, sollten sie es wagen, auf eine zugeteilte Arbeit zu | |
pfeifen. Sie haben eine Immobilie bei Leipzig im Auge, doch die nötige | |
Zuzugsgenehmigung verwehrt der Gemeinderat. "Das kriegt ihr nicht, ihr seid | |
doch schwul, hieß es. Wir waren junge Männer, hatten lange Haare, waren | |
behindert, und das wars dann", sagt Vernaldi. Nur die Kirche kann ihre | |
Dienstwohnungen ohne Zuzugsgenehmigung besetzen. In Hartroda entdecken sie | |
im Juni 1978 einen verlassenen Pfarrhof, Vernaldi ist gerade mal neunzehn | |
Jahre alt. Es ist auch physisch riskant: Er kann zu diesem Zeitpunkt nur | |
noch seine Hände leicht bewegen. | |
An einem verregneten und kalten Tag 1978 fährt er nach Hartroda. Durch die | |
Scheiben des Trabant seiner Eltern blickt Matthias Vernaldi auf die | |
Agrarsteppe Ostthüringens. Er knattert im Duroplastmobil durch zerfallene | |
Dörfer, tiefe Schlaglöcher in den Straßen, Ödnis. Ein Anstieg, dann das | |
Ortsschild: Wildenbörten, Ortsteil Hartroda, Bezirk Leipzig. In Sichtweite | |
türmen sich die Halden des Uranabbaus der Wismut AG wie versteinerte | |
Bugwellen in die ausgebeutete Landschaft. Keine befestigte Straße gibt es | |
im Ort, keine Post, keinen Laden, keine Bushaltestelle. Am höchsten Punkt | |
steht der Pfarrhof. Der Holzzaun drumherum ist eingedrückt, das Tor hängt | |
schief in den Angeln, von innen kann man durch das Loch im Dach den Himmel | |
sehen. Die Mutter von Matthias Vernaldi ist von dieser Tristesse wenig | |
angetan. Für ihn jedoch ist es ein biblischer Ort, nach allem, was er | |
bisher erlebt hat. Vernaldi ist gerade mal neunzehn Jahre alt. | |
m Haus fehlen die Dielen. Sie ziehen mit Matratzen, einer Kochplatte und | |
einer Stereoanlage ein. Das Paradies hält täglich Fettbrot, Schwarztee, und | |
Malzkaffee bereit. Für einen wie Vernaldi ist das "die absolute Erfüllung, | |
nicht nur weil das Freiheit bedeutete, sondern auch weil das alles leer | |
war. Wir konnten das mit unseren Träumen füllen." | |
Ihre spirituelle Sozialisation bei "Halleluja-Terroristen, bei diesen | |
Pneumatikern, Extatikern und Pfingstlern", wie Vernaldi sagt, bestimmt | |
nicht lange das Leben. Anfangs treffen sie sich noch zu Bibelstunden, es | |
gibt Tischgebete und Andachten. Vernaldi predigt, hält später auch | |
Gottesdienste, gibt Konfirmandenunterricht für die Dörfler. Später | |
entstehen Theater- und Diskussionsgruppen, sie protestieren gegen den | |
Uranabbau, wandeln sich von Christen zu Ökos zu Anarchos, durchlaufen die | |
WG-typische Sozialisation der Selbstfindung. Die Abgeschiedenheit, das | |
vermeintliche Unbeobachtetsein und die tatsächliche Freiheit, so zu leben, | |
wie es beliebt, macht die Kommune zum Anlaufpunkt für Andersdenkende, für | |
spätere Oppositionellen, für DDR-Punks, auch für Drogenabhängige, für von | |
der Gesellschaft Ausgespiene, die hier der DDR-Wirklichkeit entfliehen | |
wollen. Die WG ist von der Idee beseelt, den Einzelnen auch in seiner | |
Unfähigkeit zu akzeptieren. Das bringt Probleme mit sich. "Wir waren | |
Versager im Alltag, dreckige Buden, nichts auf die Reihe gekriegt". | |
Vernaldi lacht. | |
Das Prinzip Selbstversorgung läuft anfangs nur zäh an. Die gezüchteten | |
Hühner sind so klein, dass sie in Einweggläser passen, die Schafe äsen vor | |
Hunger in fremden Vorgärten und werfen Fehlgeburten, aber mit der Zeit | |
bevölkern Leute die Kommune, die die Landwirtschaft in den Griff bekommen. | |
Und auch die Dorfbewohner gewöhnen sich an die schrägen WGler. "Man mag | |
einer dörflichen Gesellschaft höchste Intoleranz vorwerfen. Aber wenn ich | |
mir im Nachhinein überlege, wie sehr wir die Toleranzgrenze überschritten | |
haben, und es ist nie ein Übergriff passiert. Wir waren eine Zeit lang | |
integriert", sagt Vernaldi. Er organisiert, kümmert sich um den | |
Briefverkehr mit Behörden und der Kirche, in der WG nennen sie ihn "Chef", | |
was Vernaldi nicht gerne hört. Der bibelfeste Intellektuelle versteht sich | |
selbst als bedingungsloser Anarchist. Die Behinderten bessern die | |
Gemeinschaftskasse mit selbst gebastelten Postkarten und Linoleumdrucken | |
auf, manche der Pfleger arbeiten als Totengräber. Hartroda wächst, zu | |
Hochzeiten wohnen zwanzig Behinderte und Nichtbehinderte dort, und jedes | |
Jahr feiern sie den Tag ihrer Unabhängigkeit mit einem ausschweifenden | |
Festival. | |
Dann fällt die Szene in den kleinen Ort ein, bis zu zweihundert Freaks, | |
Friedensbewegte, Ökoaktivisten, Hippies. Denn Vernaldi ist vernetzt auch | |
nach Westdeutschland. Als Schwerstbehinderter darf er zum Klassenfeind | |
reisen. Er baut Kontakte nach Westberlin aus, schmuggelt Cannabis, | |
verbotene Bücher, Infoblätter der Antifa in die Landkommune in | |
Ostthüringen. | |
Das MfS beobachtet die WGler vom ersten Jahr an. Gegen Vernaldi und zwei | |
weitere Bewohner eröffnet die Staatssicherheit den Operativen Vorgang | |
"Parasit". Begründung: "Seit ihrem Bestehen entwickelt sich die Gruppe in | |
Hartroda zu einem Anlaufpunkt für negativ-klerikale Kräfte, Homosexuelle, | |
Asoziale, Haftentlassene und sogenannte ,Aussteiger'." Sie habe sich "zu | |
einem Verbreiter pazifistischen Gedankengutes und aktivem Befürworter und | |
Unterstützer einer nichtstaatlichen Friedensbewegung entwickelt". Des | |
Weiteren "verfügt die Gruppe über ein weitverzweigtes Verbindungsnetz | |
innerhalb der DDR zu negativ-klerikalen Kräften, die größtenteils operativ | |
bearbeitet werden." Weiter heißt es: "Der Kopf, Initiator und Inspirator | |
dieser Gruppe ist der Schwerstgeschädigte Matthias Vernaldi, der ständig an | |
den Rollstuhl gebunden ist, jedoch über sehr gute und ausgeprägte geistige | |
Fähigkeiten verfügt. V. ist als Hilfsprediger angestellt und als | |
Korrespondent der kirchlichen Zeitschrift Glaube und Heimat tätig. Da seine | |
Artikel jedoch ständig einen die Verhältnisse in der DDR diskriminierenden | |
Charakter tragen, erfolgte bisher noch keine Veröffentlichung." | |
In den MfS-Akten finden sich exakt gezeichnete Grundrisse, Fotos, Kopien | |
des Adressbuchs von Vernaldi, seitenlange Listen mit Personenbeschreibungen | |
und Angaben zu den Besuchern von Hartroda. Im November 1985 hält die Stasi | |
fest: "Musikgruppe ,Tote Hosen' aus der BRD wollen im Mai/Juni 86 in | |
Hartroda auftreten." | |
Das MfS und seine Zuträger spähen die Kommune noch bis nach dem Mauerfall | |
aus. Der letzte Bericht stammt vom 24. Oktober 1989. Über Vernaldi steht | |
da: "Die OV-Person äußerte, dass sie für eine Wiedervereinigung | |
Deutschlands sei. Er wertete, dass noch mehr ,Betonköpfe' zurücktreten | |
müssten. In diesem Zusammenhang nannte er den Namen Erich Mielke." | |
Hauptzuträger ist IM "Dr. Walther". Der Mann ist sich 1979 noch sicher: | |
"Vielleicht brauchen wir gar nicht soooo viel zu unternehmen, allenfalls | |
der Kirche ein wenig behilflich sein, um diese Läuse aus ihrem Pelze zu | |
entfernen." Doch die Leitung der Thüringer Landeskirche ist gespalten. | |
Oberkirchenrat Johannes will noch 1985 aus Hartroda ein Modellprojekt für | |
Behinderte machen. Er stößt auf Widerstand. Die Stasi zitiert die | |
Einschätzung des Kirchenrats Kirchner: "Diese Bürger stellen sich durch ihr | |
Verhalten außerhalb der Kirche und der Gesellschaft. Das einzig richtige | |
wäre, wenn diese Bürger wieder in ein Pflegeheim kämen, weil sie dort ihre | |
Ordnung hätten. Die Kirche wird sich nicht vor diese Bürger stellen. Durch | |
die Kirche wird es im Falle staatlicher Maßnahmen keine Aktivitäten geben." | |
Beide Kirchenmänner werden später als IMs enttarnt. Immer wieder gibt es | |
Vermittlungen zwischen Vernaldi und der Kirchenleitung. Dies wird auch | |
nötig, weil der neue Pfarrer im Ort die Kommune gängelt und Vernaldi | |
regelmäßig anschwärzt. Er sieht in ihm eine unorthodoxe Konkurrenz, | |
verbietet Vernaldi, zu predigen. In einem Brief kritisiert er die | |
"Befürwortung eines überspitzten Autonomiestrebens". Die | |
Landeskirchenleitung lehnt Vernaldis Wunsch, sich ordinieren zu lassen, ab. | |
Er könne ja nicht mal die Abendmahlsgeräte halten. Das MfS bewertet den | |
Ortspfarrer als "für die operative Nutzung geeignet". Die gleiche | |
Einschätzung gilt dem IM "Dr. Walther", Klarname: Dr. Beutel. Er ist | |
Vertrauensarzt der WG und viel mehr noch: ein Freund, über mehr als ein | |
Jahrzent. | |
us den Berichten der Stasi spricht ein voyeuristisches Fasziniertsein durch | |
das "Abnorme". "Dr. Walther" schreibt Vernaldi noch Briefe, die | |
folgendermaßen enden: "Empfehlen Sie mich, bitte, Ihren mir leider noch | |
unbekannten Eltern und sagen Sie Ihrer guten Schwester Maria viel | |
Freundliches von mir." Der Stasi protokolliert Beutel: "In Hartroda wohnte | |
ich dem Bade von Matthias bei. Er wurde ein wenig gewaschen, auch die Haare | |
shampooniert, aber sonst nur eingewischt. Das Gesäß und die Genitalien | |
wurden nicht versorgt. Wie hilflos Matthias ist, was für ein Fettkloß ohne | |
Muskeln!" Als Vernaldi in der Vorwendezeit Kontakte zu Oppositionellen der | |
Zionskirche in Ostberlin unterhält und über ein Postfach Informationen | |
erhalten kann, teilt "Dr. Walther" dem MfS im Juni 1989 mit: "Ich machte | |
Vernaldi darauf aufmerksam, dass ich alle vier bis fünf Wochen in Berlin | |
sei und dann gern die Zeitschriften mitbrächte. Allerdings bräuchte ich | |
dann jemanden, der mich dort als vertrauenswürdig einführe?. Ich bin | |
begeistert bis skeptisch. Es böte sich uns hier die Möglichkeit, an das | |
neuste Umwelt- und Untergrundmaterial herankommen und es kopieren zu | |
können. Bekomme ich die finanziellen Unkosten für diese Fahrten auch von | |
der Dienststelle ersetzt, so tritt doch ein zusätzlicher Verschleiß für den | |
Wagen ein. Es wäre also zu erwägen, wie ich materiell entschädigt werden | |
könnte." | |
Vernaldi begegnet "Dr. Walther" heute noch in Berlin. In seinen Träumen. | |
1994 verlässt Matthias Vernaldi nach sechzehn Jahren die WG in Hartroda und | |
zieht nach Westberlin. | |
Er ist jetzt 49 Jahre alt. Sein Lebenskonzept heute heißt ambulante Hilfe, | |
er bezahlt seine Assistenten, die ihn im Alltag unterstützen. "Ich bin | |
jetzt an dem Punkt", sagt er "der in der Medizin als finales Stadium | |
bezeichnet wird. Also jetzt kann ich mich wirklich nicht mehr rühren." Alle | |
seine Freunde mit Muskeldystrophie hat er überlebt. Vernaldi führt dies auf | |
sein selbstbestimmtes Leben zurück. Den Mut, den ein Mensch wie er für | |
diese Freiheit braucht, konnte er nur in der Praxis lernen. Hartroda war | |
der Anfang. An der Wand seines Wohnzimmers in Neukölln hängt ein Plakat: | |
"Laufen wollt ich, doch man gab mir Flügel." | |
16 Aug 2008 | |
## AUTOREN | |
Kai Schlieter | |
Kai Schlieter | |
## TAGS | |
Behinderung | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Nachruf auf Matthias Vernaldi: Unverschämt lebendig | |
Matthias Vernaldi war Vorkämpfer für die Selbstbestimmung von Menschen mit | |
Behinderungen – vor einer Woche ist er mit 60 Jahren gestorben. |