# taz.de -- Verhaltensauffällige Schüler: Ein Kind sieht rot | |
> Alle reden von Inklusion. Doch das drängendere Problem ist die wachsende | |
> Zahl von „unbeschulbaren“ Kindern, die brüllen und zuschlagen. Wie Mads. | |
Bild: Wenn sich die Wutanfälle einfach nicht abstellen lassen | |
SCHLESWIG taz | Wut ist ein starkes Aufputschmittel. Wut kommt, tobt sich | |
aus und ist wieder weg. Verunsicherung ist dunkler, zäher. Sie blieb an | |
Mads haften, wenn die Rage verflogen war und seine Eltern ihn von der | |
Schule abgeholt und nach Hause gebracht hatten. „Danach war er immer böse | |
geknickt und weinte. Er wusste ja, dass er etwas falsch gemacht hatte“, | |
sagt seine Mutter. | |
Wie er da sitzt am Esstisch zwischen seinen Eltern und Vanilleeis mit | |
Erdbeeren löffelt, wirkt er wie ein ganz normaler, sorgloser Junge. Mads | |
Jansen* ist 13 Jahre alt, blond, mit rosigen Wangen, groß und kräftig für | |
sein Alter. Er und seine Eltern leben in einem ruhigen Örtchen in | |
Norddeutschland. Kein Haus hier, das nicht tipptopp gepflegt ist, | |
Blumenrabatten, Natursteinmauern. Der Flieder blüht. Irgendwo klappt eine | |
Autotür. | |
Mads ist gerade aus der Schule gekommen. Ob er gerne geht? „Montags nicht. | |
Da hab’ ich blöde Fächer“, sagt er. Seine Mutter sagt: „Aber jetzt gehs… | |
doch ganz gerne.“ Inzwischen läuft es ja im Großen und Ganzen. Aber Claudia | |
Jansen*, sehr schlank, mit kurzen Haaren und Sporthose, hat nicht | |
vergessen, dass das bis vor nicht langer Zeit noch ganz anders war. Dass es | |
einen zermürbenden Krieg gab zwischen der Schule und ihrem Kind. | |
Die Probleme haben praktisch mit Mads’ erstem Schultag angefangen. Das | |
lange Stillsitzen, das war für ihn kaum auszuhalten. Er kippelte, hampelte. | |
Wenn der Lehrer eine Aufgabe stellte, fragte er: Wieso soll ich das machen? | |
Sah er den Sinn einer Übung nicht ein, verweigerte er sich. | |
## Arschloch, Ficker, blaue Flecke | |
Jähzornig, sagt die Mutter, ist Mads immer gewesen, das hat er vom Vater. | |
Aber diese rohe Aggression, die nun oft aus ihm herausbrach, die machte sie | |
ratlos. Er geriet leicht in Streit mit anderen Kindern, brüllte, schlug zu. | |
Dann war ihm nicht mehr beizukommen. Wenn ein Lehrer eingreifen wollte, | |
schrie er ihm Schimpfwörter entgegen. Arschloch. Ficker. Es kam vor, dass | |
er auch gegen Erwachsene boxte. Einmal rempelte er eine Lehrerin hart mit | |
der Schulter an. Einmal musste ihn ein Lehrer so festhalten, dass Mads mit | |
einem blauen Arm nach Hause kam. | |
„Es war ein Eiertanz“, sagt Claudia Jansen. „Man hat immer das Handy neben | |
sich, weil man weiß, dass es gleich wieder klingelt.“ Die Schule schickte | |
Mads ständig heim. Manchmal gleich für zwei Tage. Seine Mutter hat es ihm | |
meist morgens angesehen, an der Art, wie er aus dem Haus ging. Da ahnte sie | |
schon, dass um zehn, elf Uhr ein Anruf kommen würde. Die Eltern sprachen | |
mit Mads, schimpften, fragten nach den Gründen. Aber das Kind konnte sich | |
selbst nicht verstehen. „Es war, als hätte er einen An- und Ausschalter“, | |
sagt die Mutter. | |
Zwar gilt im Prinzip für alle Kinder ab sechs Jahren die Schulpflicht. | |
Dennoch können die, die den Unterricht massiv stören, zeitweise davon | |
ausgeschlossen werden. „Unbeschulbar“ ist der Begriff, den die Behörden f�… | |
solche Kinder benutzen. Mads’ Vater, ein wuchtiger Mann mit großen Händen, | |
hat sich damals oft über die Schule geärgert. Wie er es sieht, haben es | |
sich Lehrer sehr leicht gemacht. „So blöd das klingt“, sagt er, „aber zu | |
unserer Zeit wurde durchgegriffen. Da hat man auch schon mal eine Ohrfeige | |
bekommen.“ | |
## „Wir sind alleingelassen worden“ | |
Nicht, dass er gewollt hätte, dass jemand seinen Sohn schlägt. Aber mehr | |
Strenge, das hätte er sich schon gewünscht. Knut Jansen* führt einen | |
Handwerksbetrieb, seine Frau ist Fitnesstrainerin. Wenn Mads plötzlich | |
abgeholt werden sollte, musste sich einer freinehmen. Ob das überhaupt | |
geht, hat nie jemand gefragt. Die Mutter sagt: „Wir sind alleingelassen | |
worden.“ | |
Die Eltern merkten, dass ihr fröhlicher Junge immer unglücklicher wurde. | |
Morgens sagte er oft, er habe Bauchweh und könne nicht in die Schule. Er | |
verlor nach und nach viele Freunde. Die Jungen verabredeten sich ja in der | |
Pause, da war Mads aber meist schon wieder zu Hause. Die Mutter sah, wie | |
ihr Sohn einen nach dem anderen anrief und keinen mehr erreichte. Sie sah, | |
wie er aus Kummer aß und immer dicker wurde. Aber die Wutanfälle ließen | |
sich nicht abstellen, sagt sie. „Das hat die ganze Familie | |
heruntergezogen.“ | |
Das Bildungssystem steckt in einem Wandel, und Mads’ Geschichte hat viel | |
mit den Schwierigkeiten zu tun, die damit einhergehen. Kinder mit und ohne | |
Behinderung sollen gemeinsam unterrichtet werden – das ist das Ziel der | |
Bildungspolitik. Schleswig-Holstein ist ein Vorreiter bei der Inklusion: | |
Mehr als die Hälfte der Kinder mit Förderbedarf lernt dort an einer | |
Regelschule. Das ist mehr als doppelt so viel wie der Bundesdurchschnitt. | |
Zugleich aber wächst die Zahl der Schüler, die zwar keine Behinderung | |
haben, sich aber trotzdem nicht in den Unterricht eingliedern lassen. | |
Kinder wie Mads. | |
## Lange Warteliste für die Klinik | |
„Ein zum Beispiel taubes Kind zu integrieren, ist kein Problem. Das Problem | |
ist die Masse von Kindern, die verhaltensauffällig sind“, sagt Ulrike | |
Behme-Matthiesen. Die Psychologin leitet das Baumhaus, eine | |
psychotherapeutische Tagesklinik für Kinder und Jugendliche am Helios | |
Klinikum Schleswig. Bei ihr rufen derzeit häufig Eltern an, deren Kinder | |
gar nicht mehr oder nur noch ein, zwei Stunden pro Tag in die Schule gehen | |
dürfen. „Wir haben eine riesige Warteliste.“ | |
Behme-Matthiessen sitzt in einem Besprechungsraum der Schule Hesterberg, | |
einer Förderschule, die der Klinik angegliedert ist. Bereits vor sieben | |
Jahren haben die Klinik und die Schule ein Programm aufgebaut, um als | |
unbeschulbar eingestuften Kindern die Rückkehr in den Regelunterricht zu | |
ermöglichen. Bei dem Projekt „Familie in Schule“, kurz FiSch, werden die | |
Eltern intensiv in den Schulalltag ihrer Kinder einbezogen. | |
Inzwischen haben neun Schulen im Kreis Schleswig-Flensburg FiSch-Klassen | |
eingerichtet. Auch überregional wächst die Nachfrage; das FiSch-Team bietet | |
bundesweit Fortbildungen an. Im Kreis Schleswig-Flensburg ist fast jeder | |
zehnte Grundschüler betroffen, sagt die Psychologin, meist Jungen, aus | |
allen Schichten. | |
## Die Heilpraktikerin griff zum Pendel | |
Aber Claudia Jansen war klar, dass viele Menschen verhaltensauffällige | |
Kinder mit prekären Verhältnissen verbinden. Wann immer sie in die Schule | |
bestellt wurden, sagte sie daher zu ihrem Mann: „Zieh dir was Ordentliches | |
an.“ Sie fuhren ihren Sohn zu Psychologen, zu Bewegungstherapien, | |
Sozialkompetenz-Trainings. Nichts half. Die Psychologen hatten keine | |
Diagnose. Einmal brachte ihn die Mutter in ihrer Not zu einer | |
Heilpraktikerin, die versuchte, das Problem auszupendeln. Die sagte, ein | |
böser Geist sei in den Jungen gefahren. Die Direktorin der Grundschule | |
sagte: „Ihr Kind passt nicht in das Schulsystem.“ | |
Mads’ Wutanfälle wurden mit der Zeit immer schlimmer. Als er auf die | |
Gemeinschaftsschule wechselte, dauerte es nicht lange, bis er aus dem | |
Regelunterricht genommen wurde. Stattdessen musste er eine Förderklasse für | |
schwierige Kinder besuchen. Dort fühlte er sich nicht wohl. Und zudem gab | |
es jeden Tag nur drei Stunden Unterricht. | |
Mads liebt Fußball und ist gerne draußen. Mit der Playstation spielt er | |
nicht oft, und wenn doch, dann meist Fußballspiele. Es ist nicht zu | |
übersehen, dass sein Bewegungsdrang ihm keine Ruhe lässt. Er räkelt sich, | |
lässt den Kopf auf den Tisch fallen und richtet sich wieder auf. Dann | |
klingelt es, ein Freund steht vor der Tür. „Darf ich?“, fragt er, die | |
Eltern nicken; die Jungen rennen die Treppe hoch, dann dröhnen von oben die | |
Bässe eines Rocksongs. | |
Im April vergangenen Jahres begann Mads eine vier Monate lange Therapie in | |
der Tagesklinik Baumhaus. „Die Leute haben sich Mühe gegeben und ihn | |
aufgebaut“, sagt Knut Jansen. Während des FiSch-Programms lernte Mads, sich | |
besser zu beherrschen. Aus dem Raum zu gehen, wenn er spürt, dass die Wut | |
in ihm hochkocht. Mads strengte sich an, er wollte unbedingt wieder an | |
seine Schule. Es hat funktioniert. Mads durfte zurück. | |
## „Wir haben keine Erklärung“ | |
Nun haben seine Eltern ihn schon seit mehr als drei Monaten nicht mehr | |
abholen müssen. Nur, warum Mads überhaupt so außer Kontrolle geraten ist, | |
das begreifen sie bis heute nicht. Seine Mutter sagt: „Wir haben keine | |
Erklärung. Niemand hat uns je gesagt: Das ist so, weil …“ Das Paar hat noch | |
zwei ältere Kinder, die aufs Gymnasium gehen und nie ernste Schwierigkeiten | |
hatten. Vielleicht waren sie nicht streng genug mit Mads, ihrem Jüngsten, | |
sagt der Vater. „Er hat nie ein Nein bekommen, das musste er erst in der | |
Schule lernen.“ | |
Auch Ulrike Behme-Matthiessen hat keine eindeutige Antwort auf die Frage, | |
warum mehr und mehr Kinder wegen Schulproblemen bei ihr in der Klinik | |
landen. Ein Faktor ist sicher, dass sich gerade in gut situierten Familien | |
oft alles um die Kinder dreht, sagt sie. Zugleich hört die Psychologin von | |
Lehrern oft, dass die Belastungen steigen. Und wenn dann unter 25 Kindern | |
eines oder zwei sind, die ständig stören, dann ist kein Unterricht mehr | |
möglich. | |
Abweichendes Verhalten wird heute weniger akzeptiert als früher, sagt sie: | |
„Ich denke, dass Kinder früher mehr Raum hatten in der Gesellschaft.“ | |
Schwer integrierbare Kinder sind nicht zwangsläufig krank. Aber die meisten | |
werden es irgendwann. Die häufigen Schulverweise, die Konflikte mit den | |
Lehrern, all das wirkt sich verheerend auf das Selbstbewusstsein aus. | |
„Viele entwickeln tiefgreifende psychologische Auffälligkeiten“, sagt sie, | |
die Aufmerksamkeitsdefizitstörung ADHS, Ängste, Unruhe, Probleme mit der | |
Impulssteuerung. | |
Nach einer Weile kommen Mads und sein Freund wieder die Treppe herunter. | |
Sie wollen zum Sportplatz. Claudia Jansen blättert in einem roten | |
Schnellhefter. Im März hatte er einen Rückfall; danach gab es noch ein | |
Gespräch in der Klinik und eine neue Liste mit Zielvorgaben für Mads. „Ich | |
akzeptiere meine Arbeitsaufträge“ steht auf dem Zettel in dem Hefter, und: | |
„Ich bin respektvoll zu Kindern und Erwachsenen.“ Seine Lehrer müssen | |
regelmäßig festhalten, wie Mads die Vorgaben erfüllt. Seit einigen Wochen | |
hat er nur noch gute Bewertungen erhalten. Wie es aussieht, kann er im | |
Sommer sogar mit ins Zeltlager. Bislang war er von Klassenfahrten | |
ausgeschlossen. Aber jetzt darf er zum ersten Mal mit. So wie alle anderen | |
Kinder. | |
* Namen geändert | |
25 Jun 2014 | |
## AUTOREN | |
Gabriela Keller | |
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