# taz.de -- Gewalt gegen Frauen mit Behinderungen: „Griff an die Genitalien“ | |
> Frauen mit Behinderung werden häufiger Opfer von sexueller Gewalt. Der | |
> Frauennotruf Hannover versucht das mit einem Präventionsprojekt zu | |
> verhindern. | |
Bild: Werden häufiger Opfer von sexualisierter Gewalt: Frauen mit Behinderungen | |
taz: Frau Chodzinski, sind Wohnheime gefährlich für Menschen mit | |
Behinderung? | |
Claudia Chodzinski: Ja. Unsere Erfahrung ist, dass Menschen in Wohnheimen | |
häufig nicht sicher sind. Es gibt dort unterschiedliche Formen von | |
Grenzverletzungen und Gewalt, physische und emotionale. | |
Durch wen? | |
Zum Beispiel durch Mitbewohner oder das Personal. Es gibt Menschen, die | |
sich ganz gezielt in bestimmten Arbeitsbereichen bewerben, weil sie dort | |
potenzielle Opfer haben. Hinzu kommt aber auch strukturelle Gewalt. | |
Menschen, die in Einrichtungen leben, unterliegen vielen äußeren, | |
autoritären Regelwerken. Wann gibt es Essen, was ist mit meiner | |
Intimsphäre? Oftmals haben sie kein Einzelzimmer. Wichtig ist auch | |
strukturelle Gewalt in Form von Psychopharmaka. | |
Und sexuelle Gewalt? | |
Frauen mit Behinderung sind zwei bis drei Mal so stark von sexueller Gewalt | |
betroffen wie der Bevölkerungsdurchschnitt. Behinderte Menschen sind häufig | |
von anderen Menschen abhängig, zum Beispiel durch Pflegebeziehungen oder | |
auch von den Eltern. Es gibt dadurch immer eine große Nähe und häufig auch | |
Grenzverletzungen, die erst einmal gar nicht so bewusst wahrgenommen werden | |
Inwiefern? | |
Etwa bei der Körperpflege. Für viele Menschen mit Behinderung ist es | |
normal, dass man sie ohne Vorwarnung an die Genitalien fasst, weil sie das | |
häufig gewöhnt sind, wenn sie pflegebedürftig sind. Oder aber sie sitzen | |
auf der Toilette und die Tür ist auf. Der Umgang mit Intimsphäre ist sehr | |
Laisser-faire. | |
Werden eher Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen zu | |
Opfern? | |
Alle. Ganz besonders gefährdet sind seelisch behinderte und gehörlose | |
Frauen. | |
Warum? | |
Seelisch behinderte Frauen haben keine Lobby. Wenn eine schizophrene Frau | |
zu ihrem Arzt geht und sagt: „Ich wurde unsittlich berührt“, dann denkt der | |
häufig, sie habe sich das eingebildet. Hinzu kommt, dass sich diese Frauen | |
oft selbst in Gefahr bringen, weil sie den Kontakt suchen und erst spät | |
merken, dass sie missachtet oder missbraucht werden. Das Bedürfnis nach | |
Bindung hält die Frauen häufig in gewaltvollen Beziehungen. Das gilt auch | |
für gehörlose Frauen. Hinzu kommt die Sprachbarriere. Sie müssen | |
beschreiben können, was ihnen passiert ist. | |
Haben soziale Einrichtungen Kontrollmechanismen gegen sexuelle Übergriffe? | |
Im sozialen Bereich sind mittlerweile erweiterte Führungszeugnisse üblich. | |
Darin stehen natürlich nur Sachen, für die jemand juristisch belangt wurde. | |
Leider gibt es keine echten Kontrollmechanismen. Man kann die psychische | |
Gesundheit von Menschen in sozialen Berufen nicht testen. Was es in der | |
Behindertenhilfe häufiger gibt, sind interne Selbstverpflichtungen. Darin | |
steht etwa, dass man sich an Nähe- und Distanzregelungen hält. Es wirkt auf | |
potenzielle Täter abschreckend, wenn sie merken, die Einrichtung hat das | |
Thema auf dem Schirm. | |
In diesem Bereich arbeiten vor allem Frauen. Sind die Täter eher weiblich | |
oder männlich? | |
Gerade sexualisierte Gewalt geht mehr von Männern an Frauen aus. Aber | |
natürlich gibt es auch Mittäterschaft von Frauen, wenn sie etwas wissen und | |
nicht handeln. | |
Gibt es auch Frauen, die übergriffig werden? | |
Das gelangt noch weniger an die Öffentlichkeit, weil es für die Betroffenen | |
noch beschämender ist. Grenzverletzende Berührungen kommen häufig vor. | |
Wird so wenig über das Thema gesprochen, weil immer noch der Glaube | |
vorherrscht, Behinderte hätten keine Sexualität? | |
Ja, das sind dann diese üblichen Mythen von wegen: Die sind ja in | |
Einrichtungen und da sind sie sicher. Oder auch: Die sind eh hässlich, die | |
fasst keiner an. Es besteht aber auch schlicht kein Interesse. | |
Hatten Sie beim Frauennotruf Hannover einen Fall auf dem Tisch, als Sie das | |
Präventionsprojekt „Behindert sexuelle Gewalt“ gestartet haben? | |
Wir beraten schon seit fast 15 Jahren Frauen mit Behinderung. Fälle gibt es | |
zuhauf. Ich denke etwa an eine schwer geistig behinderte Frau, die mit | |
ihrer Betreuerin kam. Die hatte festgestellt, dass sich die Frau nicht mehr | |
waschen wollte. | |
Wie haben Sie reagiert? | |
Wir haben einfach zusammen mit Figuren gespielt. Die Frau war sprachlich | |
sehr eingeschränkt. Sie hat immer ihre Figur im Sand eingebuddelt, wollte | |
sich verstecken. Und sie hat eine männliche Puppe an ihrer Puppe gerieben. | |
Da war klar, sie fühlte sich durch einen Mann bedroht. Die Details waren | |
nicht wichtig. Durch dieses Nichtwaschen hat sie versucht, ihn sich vom | |
Hals zu halten. | |
Müssen Sie nicht herauskriegen, was passiert ist, um weitere Übergriffe zu | |
verhindern? | |
Das ist das Ziel, aber es geht nicht um die Details. Es geht nicht darum, | |
hat er sie vergewaltigt, hat er sie angefasst … | |
Aber das Detail, wer es war, ist doch wichtig. | |
In dem Fall erst einmal nicht. Es ging erst einmal darum, wahrzunehmen, was | |
da los ist. Andere Einrichtungen hätten gesagt: Die wäscht sich nicht? Dann | |
wird sie eben mit Gewalt gewaschen. Punkt. Sie hatte zum Glück eine | |
sensible Betreuerin, die mit ihr eine Beratungsstelle aufgesucht hat. Die | |
hat dann herausgefunden, dass es ein Mitbewohner war. | |
Wie kommen Sie denn sonst mit den Betroffenen in Kontakt, wenn eben die | |
Betreuer, die eigentlich vermitteln müssten, selbst oft die Täter sind? | |
Das ist das Dilemma. Wir haben einen Arbeitskreis aus Fachleuten, | |
Betroffenen und pflegenden Angehörigen. Darüber sind wir sehr gut vernetzt. | |
Wen wir aber nur schwer bekommen, sind Frauen, die im häuslichen Umfeld | |
leben und etwa Grenzverletzungen durch ihre Eltern erfahren. Ich hatte | |
einen Fall, in dem die Mitarbeiter in der Werkstatt, in der eine Frau | |
gearbeitet hat, aufmerksam geworden sind. Der Täter war der Vater. | |
Und was machen Sie dann? | |
Die Frau hätte niemals gegen ihn ausgesagt. Wir müssen das aushalten. Die | |
Frau wird an ihrer Lebenssituation nichts verändern. Sie will im häuslichen | |
Umfeld weiterleben und sie erduldet das. Wir können nicht über ihren Kopf | |
hinweg entscheiden. Wenn die Frau sagt, dass sie keinen Betreuerwechsel | |
will, ist das so. Auch eine Form von Selbstbestimmung. | |
Wie können sich die Frauen selbst gegen Gewalt schützen? | |
Das wichtigste ist, dass sie informiert sind. Dazu gehört auch eine | |
ordentliche Sexualaufklärung. Fortschrittliche Einrichtungen haben einen | |
Aufklärungskoffer oder es kommt jemand von Pro Familia. Wir bieten vom | |
Frauennotruf aber auch Selbstbehauptungstraining an. Unsere | |
Wen-Do-Trainerin kann Gebärden. Da geht es auch darum, wie stelle ich mich | |
hin, wie ist meine Körpersprache. | |
Das holt die Frauen aus der Opferrolle? | |
Ja, aber nur bedingt. Nicht jede Frau kann das. Wenn eine Frau nicht nur | |
kognitiv beeinträchtigt ist, sondern auch noch im Rollstuhl sitzt, ist es | |
für sie einfach schwierig, sich zu wehren. Ich habe auch eine blinde Frau | |
in der Beratung, die nicht mit einem Blindenstock vor die Tür geht, weil | |
sie darüber als Opfer zu identifizieren ist. Die quält sich durch die Welt. | |
So geht es vielen Frauen. Die versuchen zu verstecken, dass sie behindert | |
sind, weil es sie zu leichteren Opfern macht. | |
6 Dec 2017 | |
## AUTOREN | |
Andrea Scharpen | |
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