| # taz.de -- Sexuelle Gewalt gegen Männer: Nicht gegeneinander ausspielen | |
| > Auch Männer werden Opfer – und auch Frauen werden Täterinnen. Gender und | |
| > Macht spielen trotzdem eine Rolle. Das kann man anerkennen. | |
| Bild: #MeToo: Auch Männer werden Opfer von sexualisierter Gewalt | |
| Es war das Jahr 1995, da gründete ich mit drei anderen Männern Tauwetter, | |
| eine Anlaufstelle für Männer*, die in ihrer Kindheit oder Jugend | |
| sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren. Währenddessen wurden feministische | |
| Beratungseinrichtungen für betroffene Frauen und Kinder massiv angegriffen: | |
| Sie würden männerfeindlich agieren, hieß es, und alle Männer als Täter | |
| verleumden. | |
| Fakt ist aber, wir vier Gründer von Tauwetter haben zu dieser Zeit in der | |
| einen oder anderen Form Unterstützung und Beratung von Wildwasser bekommen, | |
| einer Beratungsstelle für betroffene Frauen. So ganz können diese Vorwürfe | |
| also wohl nicht stimmen. Auch in den folgenden Jahren waren es immer wieder | |
| Frauen, die dafür eingetreten sind, dass unser Verein finanziert werden | |
| muss. | |
| Unsere Geschlechtsgenossen hingegen haben uns meist im Stich gelassen. | |
| „Mann-sein“ und „Opfer-sein“ ist für viele ein offensichtlich so groß… | |
| Widerspruch, dass sie sich nicht näher damit beschäftigen können. Bis heute | |
| ist es konsequenterweise auch so, dass Männer eher mit Tätern arbeiten, als | |
| mit Betroffenen sexualisierter Gewalt. Eine Gruppe von Männern allerdings | |
| hat bedauerlicherweise immer wieder unsere Nähe gesucht: Antifeministen und | |
| Maskulinisten, die uns vor ihren Karren spannen wollten – Zuspruch, auf den | |
| wir gerne verzichtet hätten. | |
| An dieser Situation hat sich nur wenig geändert: Es gibt inzwischen eine | |
| Finanzierung von Tauwetter – übrigens maßgeblich dank einer Frau, der | |
| ehemaligen Staatssekretärin Emine Demirbüken-Wegner. Es gibt auch eine | |
| kleine Szene von solidarischen Männern. In Schleswig-Holstein waren es | |
| Frauen vom Frauennotruf, die die erste Beratung für männliche Betroffene | |
| ins Leben gerufen haben. | |
| Lautstark in der Öffentlichkeit werden nicht selten aber immer noch | |
| männliche Betroffene sexualisierter Gewalt gegen weibliche ausgespielt. Es | |
| geht dabei immer wieder darum, sexualisierte Gewalt gegen Frauen zu | |
| relativierten und herunterzuspielen – nach dem Motto: Das passiert Männern | |
| doch genauso, das hat nichts mit dem Machtverhältnis zwischen den | |
| Geschlechtern zu tun. | |
| Zum Teil geschieht dies durch Personen, [1][die sich im AfD-Umfeld unter | |
| dem Stichwort „Anti-Genderismus“ versammeln], zum Teil sind es aber auch | |
| von sexualisierter Gewalt betroffene Männer, die sich in der Öffentlichkeit | |
| nicht gesehen fühlen und hoffen, auf diese Weise Aufmerksamkeit zu | |
| bekommen. | |
| ## Zu wenig Unterstützungsangebote | |
| Fakt ist, die Mehrheit der Täter bei sexualisierter Gewalt ist männlich. | |
| Das gilt auch bei sexualisierter Gewalt gegen Jungen – und | |
| höchstwahrscheinlich auch bei sexualisierter Gewalt gegen Männer. Die | |
| Mehrheit der Betroffenen wiederum ist weiblich. Das ist allerdings nichts | |
| biologisches, sondern ein Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse und | |
| Geschlechtskonstruktionen. | |
| Ja, es gibt sexualisierte Gewalt durch Frauen, gegen Jungen und auch gegen | |
| Mädchen, 20 bis 25 Prozent der Männer, die zu Tauwetter kommen, berichten | |
| neben männlichen Tätern auch von einer weiblichen Täterin. Und es gibt | |
| übrigens auch – bisher wenig thematisiert – sexualisierte Gewalt von Frauen | |
| gegen andere Frauen, etwa als Partnergewalt in lesbischen Beziehungen oder | |
| gegen erwachsene Männer. | |
| Wenn wir über den Berliner Tellerrand gucken, müssen wir feststellen: Es | |
| gibt für all diese Betroffenen zu wenig Unterstützungsangebote. Unter | |
| anderem um dies zu ändern, haben Menschen aller Geschlechter aus | |
| spezialisierten Fachberatungsstellen eine [2][deutschlandweite | |
| Koordinierungsstelle] aufgebaut. Ich selbst bin dort als Vertreter einer | |
| Einrichtung, die mit männlichen Betroffenen arbeitet, im Fachstellenrat | |
| aktiv. Wir arbeiten genderübergreifend zusammen und ich musste bisher | |
| keinmal „Männeranliegen“ gegen „die Frauen“ verteidigen. | |
| Unter den spezialisierten Fachberatungsstellen ist nämlich schon lange | |
| klar: [3][Sexualisierte Gewalt ist nicht vom patriarchalen | |
| Geschlechterverhältnis zu trennen]. Ohne die Kategorie „Gender“ kann man | |
| sie schlicht nicht verstehen, denn sie trägt zur Aufrechterhaltung der | |
| bestehenden Machtverhältnisse bei. | |
| ## Maske der scheinbaren Selbstsicherheit | |
| Das bedeutet nicht, dass jeder einzelne Mann in allen Konstellationen jeder | |
| einzelnen Frau überlegen ist. Schließlich ist Sexismus nur eins von | |
| mehreren gesellschaftlichen Machtverhältnissen wie Rassismus, Adultismus, | |
| Ableismus oder Klassismus. Dieser Gedanke der Intersektionalität kommt | |
| übrigens auch aus feministischen Diskussionen. | |
| Sexualisierte Gewalt ist auch kein Ausdruck einer fehlgeleiteten | |
| Sexualität, wie uns die Vertreter des „Pädophilie“-Modells glauben machen | |
| wollen. Sie ist kein Ergebnis einer unkontrollierbaren männlichen | |
| Triebkraft. | |
| Untersuchungen haben immer wieder gezeigt: Täter(*innen) haben ein | |
| niedriges Selbstwertgefühl und eine geringe Selbstwirksamkeitserwartung. | |
| Das verstecken einige sehr gut hinter einer Maske der scheinbaren | |
| Selbstsicherheit und der vorgespielten Souveränität. Zu den konkreten | |
| Auslösern für sexualisierte Gewalt gehört das subjektive Gefühl | |
| herabgesetzt, enttäuscht, frustriert worden zu sein. | |
| Vereinfacht ausgedrückt soll dies dann ausgeglichen werden, indem andere | |
| erniedrigt werden – und dazu werden auch sexuelle Handlungen benutzt. Für | |
| manche Täter(*innen) entsteht aus der Sexualisierung der Gewalt ein | |
| besonders Lustgefühl, andere erleben ähnliche emotionale Qualitäten ohne | |
| überhaupt sexuell erregt zu werden. | |
| Nicht umsonst wird immer wieder darauf hingewiesen, dass es im Kern um | |
| Macht geht. Sexualisierte Gewalt ist eine Form von Gewalt, die dadurch | |
| gekennzeichnet ist, dass sie als Sexualität verkleidet wird und Sexualität | |
| für sie benutzt wird. Sie hat deshalb so eine massive Auswirkung, weil seit | |
| der bürgerlichen Revolution das Geschlecht und darin die eigene Sexualität | |
| ein zentraler Baustein der Selbstdefinition geworden ist. | |
| ## Gegenseitiges Vertrauen | |
| Das betrifft alle Geschlechter. Es schlägt sich etwa nieder in dem | |
| grundlegenden Gefühl „falsch“ oder „fremd“ zu sein, oder „nicht | |
| dazuzugehören“, bei männlichen Betroffenen kommt es zudem oft zu Zweifeln | |
| an ihrer Männlichkeit oder ihrer sexuellen Orientierung. | |
| In Auseinandersetzungen zwischen männlichen, weiblichen sowie trans* und | |
| inter* Betroffenen sexualisierter Gewalt stellen wir immer wieder fest: Es | |
| gibt Bereiche wo wir mehr gemeinsam haben als uns trennt – so wie das | |
| Erleben von Verletzung, von Stigmatisierung oder fehlender Unterstützung. | |
| Andererseits gibt es genderspezifisches Erleben, genderspezifische | |
| Zuschreibungen und Ressourcen, da unterscheiden sich unsere Erfahrungen. | |
| In einem Bündnis ist es normal, dass es Gemeinsamkeiten und Unterschiede | |
| gibt. Es kommt auf gegenseitiges Vertrauen an – und es erleichtert die | |
| Zusammenarbeit ungemein, wenn nicht jedes Mal beim Thematisieren einer Form | |
| sexualisierter Gewalt gebetsmühlenartig erwähnt werden muss, dass es auch | |
| andere gibt. | |
| Ein Gegeneinanderausspielen von männlichen und weiblichen Betroffenen | |
| sexualisierter Gewalt schadet letztlich allen. Es kann deshalb nicht in | |
| unserem Interesse sein. Stattdessen gilt: Solidarität gegen sexualisierte | |
| Gewalt – egal wer sie ausübt oder wem sie angetan wird. | |
| 24 Nov 2017 | |
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| Thomas Schlingmann | |
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