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# taz.de -- Sexuelle Gewalt in Nigeria: „Wir Mütter wissen, was passiert ist…
> In Nigeria ist es ein Tabu, über sexuelle Gewalt zu sprechen. Stattdessen
> werden Täter gedeckt. Die kaufen sich oft bei der Polizei frei.
Bild: Das „Zentrum für Frauenstudien und Einmischung“ betreut Vergewaltigu…
Echialike taz | Mary Odumeke kennt jedes Mädchen mit Namen,
Familiensituation und Geschichte. „Das ist Blessing. Sie geht nicht mehr
zur Schule, weil sie ein Baby bekommen hat. Und dort steht Faith. Sie kann
weder hören noch sprechen. Als sie vergewaltigt wurde, hat niemand ihre
Schreie gehört.“ Die 52-Jährige Odumeke stellt ihre glitzernde Handtasche
vor dem Hintereingang des Dorfzentrums ab. Der Ort Echialike im
nigerianischen Bundesstaat Ebonyi ist nur über eine unebene Sandpiste zu
erreichen. Odumeke winkt dem Mädchen zu. Faith strahlt sie an, zeigt auf
die Kamera und posiert für ein paar Fotos.
Im Konferenzraum findet eine Versammlung statt. Männerstimmen dringen bis
in den hinteren Teil des Gebäudes herüber, wo das kleine Gesundheitszentrum
untergebracht ist. An den Wänden hängen Poster, auf denen verschiedene
Methoden der Familienplanung zu sehen sind. Einige weisen auf die Risiken
von Teenagerschwangerschaften hin. Das sei ein großes Thema, bestätigen die
Krankenschwestern. Vor allem dann, wenn die jungen Mütter vergewaltigt
wurden. Wie Mary Odumeke kennen auch sie zahlreiche solcher Fälle.
Odumeke, Lehrerin für Sozialwissenschaften an einer weiterführenden Schule,
wirkt im ersten Moment indiskret und wenig einfühlsam, wenn sie über die
Mädchen spricht, die sie nach und nach begrüßen. Manchmal sagt sie: „Du
kannst ruhig darüber reden, was dir passiert ist. Hier wird dir nichts
passieren.“ Einige der Mädchen schauen verschämt auf den Boden oder grinsen
verlegen. Dennoch sind sie alle wegen der Lehrerin gekommen. Mary Odumeke
gehört zu den wenigen Menschen, die in Nigeria offen über Vergewaltigungen
und Missbrauch sprechen.
Normalerweise ist das in Afrikas einwohnerreichstem Staat ein Tabu. Und
das, obwohl das Kinderhilfswerk Unicef bereits vor zwei Jahren [1][erhoben
hat], dass dort jedes vierte Mädchen und jeder zehnte Junge bis zur
Volljährigkeit von sexualisierter Gewalt betroffen ist.
Der Bundesstaat Lagos hat Mitte Oktober bekannt gegeben, dass sich die Zahl
der angezeigten Fälle von sexueller und häuslicher Gewalt in den ersten
neun Monaten 2017 im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt hat. In
einem Bundesstaat, in dem mehr als 18 Millionen Menschen leben, waren das
950. Allerdings: Eine 2014 veröffentlichte Studie der Europäischen Union
geht davon aus, dass selbst in der EU nur 14 Prozent aller Übergriffe
innerhalb einer Beziehung angezeigt werden.
## Aufschrei und Debatte bleiben aus
Mittlerweile ist die #MeToo-Debatte auch in Nigeria angekommen. Einige
Nollywood-Schauspielerinnen haben im Internet beschrieben, wie sie sexuell
belästigt wurden. „Epidemisch“ nennen sie die Häufigkeit. Doch Aufschrei
und Debatte bleiben aus – besonders in ländlichen Regionen. Genau dort will
Mary Odumeke als ehrenamtliche Helferin für das „Zentrum für Frauenstudien
und Einmischung“ über Missbrauch, Vergewaltigung, Rechte und
Hilfsmöglichkeiten aufklären. Die nichtstaatliche Organisation arbeitet mit
Rechtsanwälten zusammen und unterstützt – wenn sie die Möglichkeiten dazu
hat – auch finanziell durch Stipendien. Die wichtigste Aufgabe ist aber,
die Mädchen und jungen Frauen ernst zu nehmen und ihnen zuzuhören.
Die 19-jährige Ifeoma sitzt neben Mary Odumeke. Sie ist die einzige, die
bereits die Schule abgeschlossen hat und eine Ausbildung macht, als
Krankenschwester, im dritten Lehrjahr. „Ich kümmere mich einfach gerne um
Menschen“, sagt sie leise auf Englisch, starrt auf sandigen Boden und
spielt mit ihren Fingern hin und her. Ifeoma bittet darum, dass weder ihr
voller Name noch ein Foto in der Zeitung erscheinen. „Ich möchte nicht,
dass das irgendwann mal meiner Karriere schadet“, sagt sie. Dann beginnt
sie zu erzählen.
Es war kurz nach Neujahr, als sie zu Besuch in ihrem Heimatdorf war, das
wie Echialike im Landkreis Ikwo liegt. „Dort gibt es einen Jungen, der
unbedingt mein Freund werden wollte. Ich wollte das aber nicht und habe ihm
das gesagt.“ Eines Tages sei sie gemeinsam mit einer Freundin auf dem
Heimweg gewesen. Es war später Nachmittag. „Er stand vor der Grundschule
und sagte, er wolle etwas mit uns diskutieren.“ Irgendwann willigten die
jungen Frauen ein und folgten ihm in eins der Klassenzimmer.
Je mehr Ifeoma erzählt, desto lauter wird ihre Stimme und desto schneller
spricht sie. In dem Klassenzimmer lauerte eine ganze Gruppe junger Männer
den Frauen auf. Wie viele es waren, das weiß die 19-Jährige nicht mehr.
Auch an ihre Gesichter erinnert sie sich nicht. „Über meine Freundin sind
sie zuerst hergefallen.“ Einen Moment schweigt Ifeoma und starrt in die
Ferne, wenn sie an den Raum mit den Holzbänken und der großen Tafel denkt,
in dem an normalen Tagen viel zu viele Schüler sitzen. Sie atmet durch und
sagt: „Ich weiß nicht mehr wie, aber mir ist die Flucht gelungen.“ Das
bedeutet aber: Sie hat ihre Freundin zurückgelassen. Bis heute plagen sie
Gewissensbisse.
Mary Odumeke hört meist schweigend zu. Nur ab und zu nickt sie fast
unmerklich und presst ihre Lippen zusammen. Im Laufe der Jahre ist sie
immer wieder über Fälle von Gruppenvergewaltigungen informiert worden. Auch
wenn sie sich die einzelnen Taten nicht notiert hat, so kann sie sich doch
an jede erinnern.
## Schwierig, überhaupt Anzeige zu erstatten
Meistens führen die Ermittlungen zu nichts, niemand wird zur Rechenschaft
gezogen. Auch Ifeoma winkt ab: „Ich habe es meinen Eltern gesagt, und ein
paar Männer aus dem Dorf haben nach ihnen gesucht.“ Auf die Frage, ob sie
auch zur Polizei gegangen sei, antwortet sie so, als ob sie sich
verteidigen muss. „Ich kannte sie doch gar nicht wirklich.“ Auch einen Arzt
hat sie nie aufgesucht. „Sie haben mich ja bloß festgehalten.“ Etwas
abseits sprechen die übrigen Mädchen leise miteinander und schenken Ifeomas
Erzählung keine Aufmerksamkeit. Ihre eigenen Geschichten sind oft ähnlich
verlaufen.
Wie lange ihre Freundin von wie vielen Männern vergewaltigt wurde, weiß
Ifeoma nicht. „Sie hat stark geblutet, so schwer geblutet“, sagt Mary
Odumeke und erinnert sich genau an den Moment, in dem sie gerufen wurde.
Sie sollte sich um die junge Frau kümmern. Anfangs wollte diese aber nicht
einmal in eine Klinik, aus Scham. Eine Abwehrreaktion, die die Lehrerin
häufig erlebt. Sie versucht, ein Lächeln aufzusetzen. „Aber wir Mütter
wissen schließlich, was passiert ist.“
Die massiven Verletzungen am ganzen Körper waren für die Dorfgemeinschaft
der Auslöser, ein zweites Mal nach den Tätern zu suchen. Mindestens sieben
waren es. Zwei wurden letztlich gefasst. Einer sitzt bis heute im
Gefängnis. Allerdings ist unklar, wie es mit dem Fall weitergehen wird.
Rechtsanwälte, die für das Zentrum für Frauenstudien und Einmischung
Vergewaltigungs- und Missbrauchsopfer vor Gericht vertreten, bestätigen,
dass es schwierig ist, überhaupt Anzeige zu erstatten.
In Nigeria gilt die Polizei als korrupt. Anzeigen nehme sie gegen Zahlung
von Bestechungsgeldern zurück, so die Anwälte. Polizistinnen, die Empathie
für Opfer von sexualisierter Gewalt haben, gebe es auf dem Land nicht, sagt
Mary Odumeke. Dafür komme es manchmal zu anderen Deals wie etwa im Fall der
gehörlosen Faith. „Der Täter wurde dazu verpflichtet, für das Mädchen zu
sorgen“, erklärt die Lehrerin. Niemand weiß, ob und wie lange er dem
nachkommt. Dafür bleibt er frei und ist nicht einmal vorbestraft.
„Ich will, dass Täter wirklich bestraft werden. Es gibt ja so viele Fälle�…
sagt Ifeoma. Sie streicht sich über den Rock und starrt in die Ferne. Ob
das in Zukunft gelingen wird? Sie zuckt mit den Schultern. „Vertrauen habe
ich längst nicht mehr.“
22 Nov 2017
## LINKS
[1] https://www.unicef.org/nigeria/resources_11012.html
## AUTOREN
Katrin Gänsler
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