# taz.de -- taz.mit Behinderung: Ende einer Nachbarschaft | |
> Nebenan wohnt ein behindertes Mädchen, das laut schreit. Die Mutter ist | |
> offenbar überfordert. Soll man einschreiten? Und wer könnte das tun? | |
Bild: Es kommen Schreie vom anderen Ende. Was tun? | |
Am Anfang hörte ich nur ein Wimmern. Dann ein Stöhnen und Rufen. Was war | |
das? Hatte da jemand Sex? Nach Spaß hörte sich das nicht an. Eher nach | |
Schmerzen. Oder Gewalt. Dann war es wieder still. Oder war es ein Kind? | |
Von da an hörte ich ab und zu ein Schreien, ein Klagen; dann war es wieder | |
vorbei. Wenn das Schreien kam, rollte ich ins Treppenhaus, doch dort hörte | |
ich es nicht. Auch nicht auf dem Balkon. Ich hatte keine Ahnung, woher die | |
Laute kamen. Ich fragte meine Nachbarin. Die wusste von nichts. | |
Dann hatte ich Freund*innen zu Besuch. Wir saßen auf dem Sofa, als es los | |
ging. Diesmal war es sehr laut. Gemeinsam rätselten wir, was es sein | |
könnte. Alarmstimmung kam auf. Das kommt von nebenan, aus dem anderen | |
Hausteil, mutmaßten die Freund*innen. Und das klingt nach Gewalt. Das ist | |
eine Frau. Und die braucht Hilfe. | |
Wir rannten aufgeregt hinüber zum anderen Eingang. Es war nicht schwer, die | |
Wohnung zu finden – im dritten Stock, genau auf der Höhe meiner Wohnung. | |
Hussein (Name geändert) stand auf dem Klingelschild. | |
## Was tun? Einschreiten? Polizei rufen? | |
Drinnen war die Hölle los. Jemand schrie unablässig, es klang nach roher | |
Gewalt, nach Misshandlung. Wir klingelten Sturm, riefen: „Machen Sie auf. | |
Wir hören die Schreie.“ Irgendwann kam eine knarzige Stimme aus der | |
Wohnung: „Wir brauchen Ihre Hilfe nicht. Gehen Sie.“ Wir drohten mit der | |
Polizei. Keine Reaktion. Wir riefen die Polizei. | |
Zu viert fuhren sie vor, mit Schutzwesten und Knarre im Halfter. „Bleiben | |
Se ma besser unten, det könnte jefährlich werden“, sagte ein Polizist zu | |
mir. Zwei meiner Freund*innen gingen mit hoch, durften aber nicht mit in | |
die Wohnung. Nach einigen Minuten kamen die Beamten wieder runter. „Allet | |
in Ordnung“, sagte einer von ihnen. „Dit is ne Mutter mit ihrer Tochter. | |
Die is 18 und schwer behindert. Auch geistig. Die is bettlägerich, en | |
Pflejefall. Die schreit ebend machmal.“ Wir waren fassungslos. | |
„Aber der geht es nicht gut! Das hört man doch! Können wir da nicht was | |
machen?“, fragten wir. „Nee, da könnse nüscht machen. Kollejen von uns | |
waren da schon öfter jewesen bei der Familie. Da sind keene äußerlichen | |
Anzeichen von Jewalt, keene blauen Flecken oder sowatt. Die Mutta is total | |
übafordert mit der Situation, die is Tach und Nacht für die Tochter | |
zuständich. Aber die müssen sich selbst Hilfe holen. Wissense, viele von | |
unsern ausländischen Mitbürjern, die wollen keene Hilfe, die jehen nicht | |
zum Amt. Rufen Se doch bein Vermieter an und beschwern Se sich.“ | |
Na, was für ein toller Ratschlag, dachte ich. Das mache ich auf keinen | |
Fall, dann bekommen die beiden ja noch mehr Probleme. Die Einordnung des | |
Beamten klang rassistisch. Die brauchen dringend Unterstützung, Tochter und | |
Mutter, dachte ich. Es gibt doch einiges: Tagespflege, | |
Einzelfallhelfer*innen, Pädagogische Dienste, Assistenz. Förderstätten in | |
Werkstätten. Entlastende Dienste für die Mutter. | |
## Helfen – aber wie? | |
Vielleicht wissen sie nichts davon? Vielleicht ist es auch viel zu | |
schwierig, all das zu beantragen? Vielleicht scheuen sie den Gang zu den | |
Ämtern, weil es Probleme mit dem Aufenthaltsstatus gibt? Mir gingen | |
aktuelle Zahlen zum Thema Gewalt gegen behinderte Frauen und Mädchen durch | |
den Kopf – jede zweite bis dritte von ihnen erfährt in ihrem Leben Gewalt. | |
Oft in Pflege- und Betreuungssituationen, oft von nahen Angehörigen. | |
Aber wie kommt es bei der Mutter an, wenn ich als deutsches Weißbrot vor | |
ihre Tür rolle und verkünde: „Hallo, ich habe hier einige Broschüren für | |
Sie, vom Bezirksamt. Da können Sie hingehen und Einzelfallhilfe | |
beantragen.“ Wenn die gar nicht erst aufmachen, könnte ich das sogar | |
verstehen. Vielleicht sollte ich eine Person mitbringen, die auch | |
Migrant*in ist, allein schon wegen der Sprache? Woher weiß ich aber, welche | |
Sprache die Husseins genau sprechen? | |
Versuche, einige Tage später in der Nachbarschaft Unterstützung zu finden, | |
verliefen schnell im Sande. „Ach, die vom Haus nebenan – ja, denen ist | |
nicht zu helfen. Das haben schon einige probiert“, bekam ich zu hören. Ich | |
hörte lange Zeit nichts mehr, keine Schreie. Dann kamen wieder Laute. Es | |
ging unter in meinem vollgepackten Alltag. | |
Irgendwann bemerkte ich Männer auf dem Nachbarbalkon. Das musste der Balkon | |
der beiden Frauen sein – ich hatte dort bisher nie jemanden gesehen. Ich | |
fragte die Männer, ob sie hier wohnen. Er sagte: „Nee, wir sind Handwerker, | |
wir sollen die Wohnung hier hübsch machen. Für neue Mieter.“ | |
## Angst, dass die geliebte Person weggenommen wird | |
Sie waren ausgezogen. Jetzt machte ich mir Vorwürfe, dass ich nicht früher | |
etwas unternommen hatte. Die Sache beschäftigte mich. Ich fand den Verein | |
„Mina – Leben in Vielfalt“ und rief an. Yildiz Akgün, Leiterin der | |
Beratungsstelle, sagte, auch bei bester Versorgung könne es vorkommen, dass | |
Angehörige schreien und laut sind – und Nachbarn dann an der Tür klingeln. | |
Dennoch fand sie es schade, dass ich mich nicht früher an sie gewandt habe. | |
Genau für „solche Fälle“ seien sie da. Es könne immer auch Gewalt im Spi… | |
sein oder totale Überforderung mit der Pflege. | |
Bei Mina können sich Familien austauschen und Beratung in der Landessprache | |
bekommen. Wenn die Familien nicht von selbst kommen, kann Mina anrufen, | |
einen Brief schreiben oder einen Hausbesuch machen. Ob Familien mit | |
Migrationsgeschichte sich seltener Hilfe holen, darüber gebe es keine | |
Zahlen, so Akgün. Oft aber trauen sich Familien mit Migrationshintergrund | |
nicht, nach Hilfe zu fragen: „Es gibt Ängste, dass ihnen die geliebte | |
Person weggenommen wird, dass sie ihr Gesicht verlieren, dass sie zeigen, | |
dass sie die Pflege nicht schaffen.“ | |
„Es gibt Misstrauen gegenüber dem Hilfesystem und viele Sprachbarrieren. | |
Wenn sie schlechte Erfahrungen mit der Nachbarschaft gemacht haben, scheuen | |
sie auch erst mal jeden, der an der Tür klingelt.“ Mina hilft durch das | |
Dickicht der deutschen Behindertenhilfe, begleitet zu Behörden, versucht, | |
Vertrauen zu schaffen. Aufklärung brauchen laut Akgün aber nicht nur die | |
Familien, sondern auch die Behörden – denn die errichten oft selbst zu | |
große Barrieren, damit die Familien an Hilfe kommen. | |
2 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Rebecca Maskos | |
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