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# taz.de -- Totale Institutionen: Die Wunden bleiben
> Wer in Behindertenheimen als Kind misshandelt wurde, wird nun
> entschädigt. Am Montag haben Opfer aus der Einrichtung in Alsterdorf
> berichtet.
Bild: Das Foto, wohl der 1950er Jahren, zeigt Bewohnerinnen bei der Arbeit
HAMBURG taz | Renate Voss lebt seit 62 Jahren in der Behinderteneinrichtung
Alsterdorf. Mit zehn Jahren kam sie hier her. „Ich wurde festgegurtet und
meine Hände an der Heizung festgemacht“, berichtet sie über die ersten
Jahre. Dass BewohnerInnen gegen ihren Willen fixiert und zur Strafe etwa an
Heizkörpern gefesselt wurden, war in Alsterdorf in den 1970er-Jahren
Alltag.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden behinderte und psychisch kranke Menschen
auch in anderen Einrichtungen noch bis in die 1970er-Jahre misshandelt,
gedemütigt und durften nur selten arbeiten. Ab April können Betroffene nun
Entschädigung beantragen – durch die bundesweite Stiftung „Anerkennung und
Hilfe“.
Die diakonische Einrichtung in Alsterdorf bemüht sich seit Jahren, ihre
eigene Geschichte aufzuarbeiten. Am Montag wurde hier nun das Hamburger
Beratungsangebot für Betroffene vorgestellt. Dabei kamen auch Opfer zu
Wort.
Voss berichtete, dass sie und andere auch zum Essen gezwungen wurden. „Ich
durfte nur Haferschleim essen. Wenn ich es nicht essen wollte, dann haben
sie es mir reingeschaufelt.“ Werner Boyens erzählte, dass man ihn in seiner
Jugend mehrmals zur Strafe bandagierte. „Die ‚Packung‘ habe ich zwei Woch…
getragen und konnte mich nicht bewegen“, sagte er. Über 20-mal sei er so
bestraft worden.
Die Historikerin Ulrike Winkler hat zur Geschichte großer diakonischer
Träger der Behindertenhilfe geforscht. „Von unseren 120 Gesprächspartnern,
haben alle gesagt, dass sie in Alsterdorf Gewalt erlebt haben“, sagte
Winkler. „Früher wurden Menschen mit geistiger Behinderung wie Kinder
behandelt.“
Die BewohnerInnen seien nicht nur misshandelt worden, sondern auch in den
Heimen eingesperrt gewesen – isoliert von der restlichen Gesellschaft,
sagte Winkler. Das Gelände und die Häuser durften nur selten, und wenn,
dann in Gruppen, verlassen werden. „Das beeinträchtigt sie auch heute noch
im Leben nach der Anstalt.“
Die tägliche psychische und körperliche Gewalt hat bei den Opfern Spuren
hinterlassen. Doch auch finanziell haben viele heute Probleme: Für die
Arbeit, die sie in den Einrichtungen wie in Alsterdorf verrichtet haben,
bekamen sie oft nur ein Taschengeld. Sozialversicherungs- und
Rentenbeiträge wurden bis Mitte der 1970er-Jahre nicht gezahlt. Das macht
sich jetzt bemerkbar: Viele der damals minderjährigen Bewohner haben
mittlerweile das Rentenalter erreicht.
Seit Januar 2017 werden 288 Millionen Euro von Bund, Länder und den Kirchen
nicht nur zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der Missstände in
Behindertenheimen, sondern auch für die finanzielle Entschädigungen der
Betroffenen bereitgestellt. Die Stiftung schätzt, dass bundesweit 250.000
Menschen Anspruch auf die Leistungen haben.
Am Montag gab es an dieser Praxis auch Kritik: Warum etwa ihr Bruder keine
Ansprüche auf Entschädigung habe, wollte eine Frau wissen. Er war zu der
Zeit schon in einer Behinderteneinrichtung, damals aber schon nicht mehr
minderjährig. Von der Stiftung bekommt er daher keine Geld.
Ebenso war Thema, dass Fixierungen nicht mit den 1970er-Jahren aufhörten.
Hanns-Stephan Haas, Vorsitzender der Stiftung Alsterdorf, betonte, dass die
finanzielle Hilfe nicht als Wiedergutmachung gedacht sei: „Die Aufarbeitung
und Anerkennung des Leids geht über Geld hinaus.“ Die historische
Aufarbeitung werde auch in Zukunft weitergeführt.
21 Mar 2017
## AUTOREN
Antonia Wegener
## TAGS
Entschädigung
Behinderte
Menschen mit Behinderung
Misshandlung
Leben mit Behinderung
Leben mit Behinderung
Schwerpunkt #metoo
Kinderschutz
Heimkinder
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