# taz.de -- Behinderte in Russland: Heraus aus dem Versteck | |
> Putin will die Paralympics nutzen, um den Umgang mit Behinderten in der | |
> Gesellschaft neu zu regeln. Laut Human Rights Watch ist das bitter nötig. | |
Bild: In der russischen Gesellschaft wenig sichtbar: Sportler im Rollstuhl. | |
Die Paralympics werden in mehr als fünfzig Länder übertragen. Millionen | |
Fernsehzuschauer nehmen die Spiele als Sportpropaganda wahr, veranstaltet | |
von einem Aggressor. In Russland sieht das anders aus: Die Weltspiele des | |
Behindertensports wurden hier im Fernsehen noch nie gezeigt, nun übertragen | |
gleich drei Stationen 180 Stunden. Präsident Wladimir Putin möchte diese | |
Steigerung als Wandel verstanden wissen. „Das Eis brechen“, so lautete der | |
Slogan der Eröffnungsfeier. | |
Die Stimmung in Sotschi ist gut. Der Ticketverkauf läuft besser, als die | |
Organisatoren erwartet haben. Viele Sportler und Funktionäre sind | |
zufrieden, sie haben kurze Wege, werden freundlich empfangen. Mängel bei | |
den Bauten haben die Russen zügig behoben. Organisatorisch sind die | |
Paralympics ein Erfolg. Aber kann ein zehntägiges Sportereignis in einem | |
weiträumig abgesperrten Gebiet am Schwarzen Meer auf Russland insgesamt | |
ausstrahlen? | |
Nach Angaben des Gesundheitsministeriums leben dreizehn Millionen Russen | |
mit einer Behinderung, neun Prozent der Bevölkerung. Die Regierung hat 2011 | |
ein milliardenschweres Programm aufgelegt, um Gesundheitsversorgung und | |
Förderung zu verbessern. Im ganzen Land sollen 26 Informationszentren | |
entstehen. Die Bürgermeister von Moskau oder St. Petersburg haben die | |
Modernisierung von U-Bahnen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen in | |
Aussicht gestellt. | |
Human Rights Watch lobt diese Bemühungen, doch die | |
Menschenrechtsorganisation weist in einer Studie auf die unterschiedliche | |
Umsetzung in den Regionen hin. Der Titel des Berichts: Barriers Everywhere, | |
Hindernisse sind überall. Noch immer sind die meisten Menschen mit | |
Behinderung in Russland von der Gesellschaft ausgeschlossen. Durch fehlende | |
Infrastruktur wie Rampen, Fahrstühle, Orientierungshilfen – und durch | |
Jahrzehnte andauernde Diskriminierung. Eine Behinderung wird oft als | |
Krankheit wahrgenommen. | |
## Behinderte gab es in der Sowjetunion offiziell nicht | |
Drei Millionen Versehrte waren nach dem Zweiten Weltkrieg in die | |
Sowjetunion zurückgekehrt, in der kommunistischen Propaganda war für sie | |
kein Platz. 1980 fanden die Olympischen Sommerspiele in Moskau statt. Die | |
Sowjetunion weigerte sich, auch die Paralympics zu organisieren. Laut | |
Parteichef Leonid Breschnew gab es keine Behinderten, die Spiele wurden ins | |
niederländische Arnheim verlegt. Erst unter Michail Gorbatschow durften | |
Behinderte 1987 im Fernsehen gezeigt werden. Doch die russischen Behörden | |
verstecken behinderte Kinder oder Erwachsene immer noch in schlecht | |
ausgestatteten Heimen. | |
Human Rights Watch hat dutzende Fälle von Diskriminierung recherchiert. | |
Menschen mit Behinderung wurde der Zugang verwehrt zu Bussen, Flugzeugen, | |
Restaurants. Ärzte haben Frauen zu Abtreibungen gedrängt. Nur zwanzig | |
Prozent der Behinderten im berufsfähigen Alter haben eine Anstellung | |
gefunden. Bislang gibt es kein landesweites Gesetz, das sich gegen die | |
Diskriminierung von behinderten Menschen richtet. | |
Philip Craven, der Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees | |
(IPC), glaubt nicht daran, dass Gesetze gegen Diskriminierung die | |
Wahrnehmung verändern können. Was er sich wünscht, sind positive | |
Erfahrungen bei den Paralympics in Sotschi. Die Zuschauer erleben nun, wie | |
russische Athleten mit einer Behinderung eine Goldmedaille nach der anderen | |
gewinnen und die Nationenwertung souverän anführen. | |
## Auf Werbeplakat ist die Amputation verdeckt | |
Human Rights Watch versucht über den bloßen Partycharakter hinauszublicken. | |
Die Organisation hat ihre Recherchen auch dem IPC vorgestellt, von der | |
Resonanz der Funktionäre waren die Menschenrechtler enttäuscht. Das Komitee | |
habe sich lange gesträubt, Druck auf die russischen Behörden auszuüben. Im | |
Organisationskomitee und in der Stadtverwaltung von Sotschi sind kaum | |
Menschen mit einer Behinderung beschäftigt. | |
In den Monaten vor den Paralympics waren kaum Berichte über behinderte | |
Sportler zu sehen. Auf einem Werbeplakat reckt die Schwimmerin Olesja | |
Wladykina ihren rechten Arm jubelnd in die Höhe. Sie ist so positioniert, | |
dass man ihre Amputation auf der linken Seite nicht erkennen kann. | |
14 Mar 2014 | |
## AUTOREN | |
Ronny Blaschke | |
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