| # taz.de -- Leben mit doppelter Behinderung: Der stille Kämpfer | |
| > „Taubblinde müssen sich mehr zutrauen“, sagt Georg Cloerkes. Viel | |
| > selbstmachen, sich nicht nur helfen lassen. Doch sind sie im Alltag auf | |
| > Hilfe angewiesen. | |
| Bild: Georg Cloerkes und seine Assistentin praktizieren das Lorm-Alphabet | |
| Köln taz | Wie verhält man sich da? Er sieht einen ja nicht. Und er hört | |
| nichts. Noch nie, sagt die Fotografin, habe sie jemanden vor der Linse | |
| gehabt, dem sie nachher die Bilder nicht wird zeigen können oder wenigstens | |
| von ihnen erzählen. | |
| Was sagt man? Wie macht man sich verständlich? | |
| Nach längerem Klingeln öffnet Georg Cloerkes die Tür. Der 58-Jährige ist | |
| blind. Und er ist taub, von Geburt an. Und wer nie hörte, kann auch nicht | |
| gut sprechen. Zum Glück ist die Assistentin, die ihn stundenweise betreut, | |
| pünktlich gekommen. Sie kann ihm das Guten Tag in die Hand lormen. Lormen | |
| ist eine Art Berührungssprache, jedem Buchstaben ist eine andere Stelle in | |
| der Hand zugeordnet – das Lorm-Alphabet. Rasend schnell, wie auf einer | |
| Schreibmaschine, sausen ihre Finger über seine Hand. Cloerkes sagt | |
| Pe-ter-sen, den Namen der Fotografin, und zeigt an seiner Hand, wie man den | |
| Namen lormt. | |
| Alle Kommunikation wird immer erst zur Assistentin gehen, die in seine | |
| Hände übersetzt – und umgekehrt. Frage an sie, weiterleiten, Antwort an | |
| sie, auch mit der taktilen Gebärdensprache, dann weiterleiten an uns. | |
| ## Das Parfüm einer Frau | |
| Was hört man, wenn man nichts hört und auch Geräuschquellen nicht sieht? | |
| Vibrationen kann man spüren, erklärt Cloerkes, Trommeln oder das | |
| Vorbeifahren eines Zugs am Bahnsteig. Ob er besser rieche, schmecke, fühle | |
| als andere? Hände, lässt er übersetzen, könne er gut auseinanderhalten. | |
| Auch aus dem Händedruck auf die Größe eines Menschen schließen. „Es geht | |
| ganz viel über Fühlen. Und ich rieche sehr gut. Papier, den Bäcker, | |
| Schweiß, das Parfüm einer Frau.“ Er scherzt: „Ich höre von so vielen vom | |
| Krach überall, wie stressig die Welt ist. Das Problem habe ich nicht.“ | |
| Das Sehen ließ bei Georg Cloerkes seit der Pubertät nach. Diagnose: | |
| Usher-Syndrom, ein Gendefekt; die Folge ist schleichende Erblindung. Bis | |
| 1997 arbeitete er als technischer Zeichner. Dann ging es wirklich nicht | |
| mehr. Weniger als fünf Prozent Restsehkraft, das heißt „gesetzlich blind“. | |
| Seitdem bekommt er Berufsunfähigkeitsrente. | |
| „Bei richtigem Licht“, sagt Cloerkes, „kann ich Kontraste wahrnehmen. Das | |
| erhält mir einen Rest Kreativität.“ Ausgerechnet die Lichtquelle Sonne kann | |
| fatal stören. „Beim Schwimmen im Meer hat sie mich mal sehr geblendet. | |
| Alles war wie Nebel. Da hab ich die Orientierung verloren und hatte richtig | |
| Angst.“ | |
| Georg Cloerkes wohnt mit seinen Eltern in einem Vorort von Köln. Hier kennt | |
| er jede Ecke, kommt im Alltag gut allein zurecht und hilft im Haushalt. Der | |
| Vater, der draußen gerade Laub fegt, ist 89 und sagt: „Wir leben halt immer | |
| zusammen. Als es mit Georgs Augen immer schlimmer wurde, haben wir auch das | |
| Lormen gelernt. Das selbst zu machen, geht ganz gut. Sehr schwierig war es | |
| lange andersherum, ihn damit zu verstehen. Über die Handflächen etwas | |
| gesagt zu bekommen, ist schon sehr ungewohnt.“ | |
| Niemand weiß, wie viele Taubblinde es in Deutschland gibt. Die Schätzungen | |
| schwanken zwischen 1.500 und 10.000. Schon diese Unwissenheit zeigt die | |
| geringe Wertschätzung. | |
| ## Ein guter Schauspieler | |
| Taubblindheit ist mehr als die Summe aus Gehörlosigkeit und Nichtsehen. Es | |
| fehlt an Beratungsstellen, sagen Verbände, es fehlt die Anerkennung von | |
| Taubblindheit als außergewöhnliche Behinderung und vor allem mangelt es an | |
| der gesetzlichen Finanzierung von Assistenten. So zahlt, wie sich im | |
| Nachhinein herausstellt, Georg Cloerkes die Assistentin beim Interview aus | |
| eigener Tasche. Zwar übernehmen in NRW und Baden-Württemberg die | |
| Landschaftsverbände einkommensabhängig die Assistenzkosten, aber, sagt | |
| Cloerkes, „für Freizeit muss ich selbst bezahlen.“ | |
| Seit 2012 schon arbeitet das Bundessozialministerium an einem | |
| Gesetzespaket, im Jahr 2016 nun soll es ein Taubblindenkennzeichen „TB1“ | |
| geben, aber „ohne Anspruch auf Assistenzstunden“, wie Claudia Preißner vom | |
| Taubblindenassistenz-Projekt in Recklinghausen sagt. „Ein unhaltbarer | |
| Zustand für die Betroffenen.“ Preißners Projekt bildet solche Assistenten | |
| aus. Ganze 150 gibt es bundesweit, allein in NRW bräuchten sie mindestens | |
| tausend. „Taubblinde dürfen nicht isoliert sein“, sagt Georg Cloerkes. „… | |
| brauchen nicht Mitleid, sondern Assistenz zum Leben.“ | |
| Manchmal hampelt er plötzlich los, tippt im Stakkato in die Handflächen, | |
| das Gesicht spricht mit, bühnenreif. Ein bisschen wirkt er wie Mr. Bean. Er | |
| sei ein großartiger Pantomime, wollen wir ihm sagen. „Das muss ich anders | |
| erklären“, sagt die Assistentin. Und schreibt sehr länglich in seine Hände. | |
| Plötzlich strahlt Georg Cloerkes. „Pan-to-mi-me – ja.“ Die Assistentin | |
| ahnte nicht, dass er das Wort kennt und sich so freuen würde. | |
| „Als Kind waren in der Schule Gebärden für Taube verboten“, erinnert sich | |
| Cloerkes mit empörtem Gesichtsausdruck. „Umso lieber hab ich das dann zu | |
| Hause gemacht. Ich bin gern Schauspieler, habe eine gute Vorstellungskraft. | |
| Viele Menschen haben so eine starre Gesichtshaltung, nicht nur Blinde“, | |
| sagt er. Man schreibt den Satz beeindruckt auf und fragt sich später, woher | |
| weiß er das? | |
| ## Extrem reduzierte Welt | |
| Das gelormte Gespräch klappt mittlerweile gut. Es übersteigt aber die | |
| Vorstellungskraft, wie sich ein Taubblinder fühlt. Man kann das | |
| nachstellen: Augen verbinden, Ohren zuhalten. Schon das fühlt sich | |
| scheußlich an. Nur, man hat ja eben noch gesehen, gehört, wo man ist. | |
| Taubblinde leben oft seit Jahrzehnten in ihrer extrem reduzierten Welt. Und | |
| Cloerkes hat noch Glück: Er hat verblasste Erinnerungen an die Umwelt aus | |
| seiner Kindheit. | |
| Die Kommunikation geht manchmal ins Leere. Etwa die Frage, ob er die WM | |
| 2014 verfolgt habe ähnlich dem taubblinden Fan in Brasilien, der sich das | |
| Geschehen im Stadion live lormen ließ. Nein, Fußball „ist nicht meins“, | |
| lässt Cloerkes wissen. Frage an die Assistentin, was ihn sonst begeistert. | |
| Sie bleibt strikt professionell: „Das müssen Sie ihn schon selbst fragen.“ | |
| Sie will auch nicht namentlich genannt werden. „Es geht doch um ihn.“ | |
| Cloerkes kommuniziert am Rechner mit Blindenschrift und mit Buchstaben in | |
| der Größe von Streichholzschachteln, die er erkennen kann. Er nutzt das | |
| Internet, liest und schreibt Mails. Und er ist ein bisschen der Erfinder | |
| der Szene, ihr Freizeitgestalter und Sozialarbeiter: „Taubblinde müssen | |
| sich mehr zutrauen.“ Cloerkes organisiert Sportveranstaltungen für | |
| Taubblinde, etwa ein spezielles Basketballspiel mit dem Langstock, aber | |
| ohne Ball. | |
| Dabei müssen die taubblinden Spieler wie bei einer Staffel einen Parcours | |
| auf einer Wiese ertasten, dann Gegenspieler umlaufen, sodann mit der | |
| Stockspitze von unten den Basketballkorb finden und treffen. „Ein | |
| Riesenspaß“, sagt Cloerkes. Das Spiel hilft dem Orientierungssinn und dient | |
| auch der Mobilisierung, die bei taubblinden Menschen immer wieder trainiert | |
| werden muss: „Man kann seine Steifheit verlieren und sich locker machen.“ | |
| ## „Mein Leben ist schön“ | |
| Plötzlich steht Georg Cloerkes auf. Er führt die Besucher auf den Dachboden | |
| über eine bedrohlich wackelnde Klappleiter und sagt über seine Assistentin: | |
| „Vorsicht, nicht den Kopf stoßen.“ Behände ist er oben. Dort hat er aus | |
| gelben Legosteinen 14 Labyrinthe groß wie Schuhkartons gebaut. Für ein | |
| Wettspiel zum Thema Orientierung. Er zeigt, wie man mit einem Stock den Weg | |
| im Labyrinth sucht. Vor ein paar Jahren hatte er das ganze Dachgeschoss in | |
| eine Legowelt verwandelt: Kathedralen, Burgen und Schlösser bis unter die | |
| Decke. | |
| Lebenslange Isolationshaft in geräuschloser Dunkelheit – was für eine | |
| Horrorvorstellung. Georg Cloerkes sagt: „Bloß nicht klagen, jammern, | |
| heulen. Nicht nur helfen lassen. Ich will selbst was machen. Ich habe keine | |
| Angst. Ich bin mutig. Nur nie fahrig werden.“ Sätze wie ein Manifest. Und: | |
| „Mein Leben ist schön, trotz aller Behinderung.“ | |
| Die Frage, ob ihn Unwissende oft für geistig behindert halten, fällt nicht | |
| leicht. „Keine Ahnung, was die Leute denken und quatschen.“ Er berichtet | |
| von Zwischenfällen, die Leidensgenossen zugestoßen sind: von den beiden | |
| lormenden Taubblinden, die Passanten für öffentlich fummelnde Tunten | |
| hielten. Es kam zu Rangeleien, die erst die Polizei beendete. Eine andere | |
| Polizeistreife wollte mal einen Taubblinden überprüfen, der nicht | |
| kooperierte – wie auch? Jedenfalls endete der Zwischenfall mit Abtransport | |
| auf die Wache. | |
| ## Bloß nicht hektisch werden | |
| Solche Erzählungen, berichtet Cloerkes, bescherten ihm Albträume. „Egal was | |
| passiert, man darf nie hektisch werden oder panisch.“ Man könne eine | |
| Situation ja nicht einschätzen, „wenn plötzlich jemand an einem | |
| herumfummelt oder zerrt.“ Für den Notfall hat Cloerkes ein Smartphone mit | |
| Braille-Blindenschrift in der Tasche „und das hier“. Er holt ein weißes | |
| Papier hervor, sorgfältig laminiert. Darauf steht, dass er taubblind ist. | |
| Es ist beidseitig identisch beschrieben. Sonst könnte es ja passieren, dass | |
| dieser sprachlose, seltsam wirkende Mensch jemandem ein weißes Stück Papier | |
| vor die Nase hält und alles noch merkwürdiger macht. | |
| Notfalls kann man einem Taubblinden mit Blockbuchstaben in die Hand | |
| schreiben. Aber das muss man erst mal wissen in einer Alltagssituation. | |
| Cloerkes ist durchaus mobil. Er wandert gern und fährt sogar in die Kölner | |
| Innenstadt: erst zu Fuß mit seinem Langstock mit der Rollspitze zur S-Bahn, | |
| dann weiter zum Hauptbahnhof. Einmal, in der überfüllten Bahn, verlor er | |
| die Orientierung. Er ging auf dem Bahnsteig in die falsche Richtung und | |
| stieß unerwartet an eine Barriere. „Da war ich fast panisch. Ein Passant | |
| hat mir dann geholfen.“ Er fand den Weg wieder. „Ich bin ein guter | |
| Kämpfer“, sagt er. | |
| Abschied. Händedruck. Dankbares Lächeln. Vielleicht spürt er es. Dann | |
| klappt Georg Cloerkes das Glas seiner Armbanduhr hoch. An den Zeigern kann | |
| er fühlen, wie spät es ist. | |
| 21 Nov 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Bernd Müllender | |
| ## TAGS | |
| Behinderung | |
| Leben mit Behinderung | |
| Behinderung | |
| Behinderung | |
| Braille | |
| Wintersport | |
| Behinderung | |
| Inklusion | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Erstes Taubblindenhaus Deutschlands: „Es begann mit einem Kind“ | |
| Seit 130 Jahren ist das Oberlinhaus in Potsdam eine Institution in der | |
| Taubblindenarbeit. Tina Mäueler über Anfänge und Herausforderungen. | |
| Taubblindheit: Raus aus der großen Isolation | |
| Wie lässt sich ein selbstbestimmtes Leben führen, wenn man nicht oder kaum | |
| sieht und hört? Die Inklusion taubblinder Menschen ist noch ganz am Anfang. | |
| Entwicklungen bei der Blindenschrift: Punkte statt Striche | |
| Blinde lesen mit der Brailleschrift Schachzüge, Noten und auch | |
| Strickmuster. Dabei spielen Smartphone und Tablet eine immer größere Rolle. | |
| Hambugrer erfindet Super-Rodel: Der Mann mit dem geilen Schlitten | |
| Der Hamburger Sven Wagner baut oft selbst, was er so braucht. jetzt erfand | |
| er einen Schlitten, der 140 Stundenkilometer schafft. | |
| Social Design in Deutschland: Von Hand zu Hand | |
| In Deutschland leben 9.000 taubblinde Menschen. Der Lormhandschuh | |
| erleichtert ihre Kommunikation. | |
| taz-Serie Inklusion (6): Füttern? Kriegen wir hin! | |
| Jedes Kind darf laut Gesetz eine Kita besuchen. Eine Familie suchte | |
| monatelang einen Platz für ihre behinderte Tochter. Am Ende hatte sie | |
| Glück. | |
| Helfer für Taubblinde: Die Hände sind das Tor zur Welt | |
| Taubblinde demonstrieren in Berlin für mehr staatlich finanzierte Begleit- | |
| und Übersetzerdienste. Ihre Gespräche laufen über die Berührung anderer | |
| Menschen. |