# taz.de -- Taubblindheit: Raus aus der großen Isolation | |
> Wie lässt sich ein selbstbestimmtes Leben führen, wenn man nicht oder | |
> kaum sieht und hört? Die Inklusion taubblinder Menschen ist noch ganz am | |
> Anfang. | |
Bild: Katrin Dinges (links) und ihre Assistentin kommunizieren über das Lormen | |
Es beginnt mit einem Händeschütteln. Am Eingang zu ihrer Wohnung greift | |
Katrin Dinges nach der Hand ihres Gastes, um einen ersten Eindruck zu | |
gewinnen: groß oder klein, warm oder kalt, die Form, der Druck. Die Person | |
dazu kann sie nicht sehen und oft auch nicht verstehen. „Manchmal geben mir | |
die Leute gar keine Hand, dann steh ich da mit meiner ausgestreckten Hand | |
und es entsteht ein seltsames Vakuum.“ | |
Katrin Dinges ist 33, Künstlerin, Lyrikerin, vor einem Jahr hat sie ihr | |
Studium der Literaturwissenschaft und europäischen Ethnologie an der HU | |
abgeschlossen. In ihrem Schwerbehindertenausweis steht „TBL“ für taubblind. | |
Aufgrund einer genetischen Abweichung, dem Alström-Syndrom, ist Dinges als | |
Jugendliche erblindet, seit ihrem 16. Lebensjahr trägt sie Hörgeräte. Nach | |
einem Hörsturz vor 10 Jahren ist sie außerdem auf dem linken Ohr ertaubt. | |
„Ich kann zwar hören, wenn jemand spricht, aber ich weiß nicht, aus welcher | |
Richtung es kommt und kann es auch meistens nicht verstehen. Das ist das, | |
womit ich leben muss.“ | |
Katrin Dinges ist typisch und untypisch zugleich für die Lebenswirklichkeit | |
der Taubblinden in Deutschland: Wie die meisten als taubblind eingestuften | |
Menschen verfügt sie noch über einen Sinnesrest, die Kommunikation auf | |
diesen Kanälen ist aber stark eingeschränkt. Weil Dinges lange nach der | |
Geburt erblindet und schwerhörig geworden ist, stehen ihr aber Wege offen, | |
die anderen Taubblinden verschlossen sind. „Aber selbst ich, die ich für | |
eine taubblinde Person echt privilegiert bin, stoße an so viele Grenzen, | |
drohe so oft die Kraft zu verlieren. Wie muss es da anderen gehen?“ | |
Bis zu 10.000 taubblinde Menschen gibt es in Deutschland, die Dunkelziffer | |
soll hoch sein, weil viele ohne genaue Diagnosen in Wohnstätten, | |
Altersheimen oder zuhause isoliert leben. „Taubblind leben in Deutschland, | |
das ist ein Leben am äußersten Rand der Gesellschaft, vielfach ein Leben in | |
menschenunwürdigen Verhältnissen, eine Lebenswelt, die von der | |
Öffentlichkeit nicht wahrgenommen wird“, schrieb Ursula Benard im November | |
2016 in ihrem Buch „Wenn einem Hören und Sehen vergehen“. Die Autorin hat | |
in Nordrhein-Westfalen jahrelang mit Taubblinden gearbeitet und mit ihnen | |
zusammen um eine Anerkennung als eigenständige Behinderung mit besonderen | |
Bedürfnissen gekämpft. | |
## Demonstration der Taubblinden | |
2013 gingen in der weltweit ersten Demonstration hör- und | |
sehbeeinträchtiger Menschen Hunderte in Berlin auf die Straße. Es war ein | |
stiller Zug mit Plakataufschriften wie „Taubblinde in Isolationshaft“ und | |
der Forderung nach der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Seit | |
Dezember 2016 gibt es nun das Merkzeichen TBL – erstmals ist Taubblindheit | |
als eigenständige Behinderung anerkannt. Als taubblind gelten demnach alle | |
Menschen mit einem Grad der Behinderung von 100 wegen einer Störung des | |
Sehvermögens und mindestens 70 wegen einer Störung der Hörfunktion. | |
Interessenvertretungen wie dem Deutschen Taubblindenwerk ist das zu eng | |
gefasst: Bei allen Menschen, deren Fähigkeit zur visuellen und akustischen | |
Kommunikation so stark eingeschränkt ist, dass sie weder Gebärdensprache | |
klar sehen noch Lautsprache gut hören können, ergäben sich schließlich die | |
besonderen Bedürfnisse von taubblinden Menschen. | |
So oder so kann auch ein Merkzeichen nur ein Anfang sein. Nur in wenigen | |
Bundesländern folgen aus der Anerkennung als taubblind auch direkte | |
Leistungen. Berlin gehört seit diesem Jahr dazu. Mit dem zum 1. Januar | |
geänderten Landespflegegeldgesetz stehen BerlinerInnen mit dem Merkzeichen | |
TBL 1.189 Euro Pflegegeld im Monat zu – unabhängig von Einkommen und | |
Vermögen. Auch Katrin Dinges profitiert von dieser Neuregelung, hat nach | |
Bewilligung mehrere Hundert Euro mehr im Monat zur Verfügung. Doch warum | |
dies im Leben vieler Taubblinder nur ein Schritt auf dem Weg hin zu einem | |
selbstbestimmteren Leben sein kann, wird verstehen, wer den Alltag Katrin | |
Dinges genauer betrachtet. | |
Katrin Dinges ist ein geselliger Mensch, „ich kenne viele Leute und | |
vernetze mich gern“. Sie begeistert sich für Musik, tanzt seit sie drei | |
ist, macht Kunst, die man fühlen kann, gibt Workshops. Solange sie „nur | |
blind“ war, aber noch recht gut hören konnte, konnte sie sich sehr | |
eigenständig bewegen, sich an Seminaren und Vorlesungen beteiligen. „Der | |
Hörsturz war ein Riesenschock.“ Danach saß sie in Vorlesungen nur noch wie | |
ein Theatergast, der zeitverzögert das Drehbuch liest. Eine Beteiligung war | |
unmöglich. Es brauchte Zeit, um mit der neuen Situation zurechtzukommen – | |
und besondere Unterstützung und Fertigkeiten. | |
Wenn Katrin Dinges heute mit anderen kommunizieren möchte, hat sie drei | |
Möglichkeiten. Erstens: Die Person spricht sehr laut in ihr rechtes Ohr, am | |
besten in einer mittleren Stimmlage und in einem ruhigen Raum. Weil das nur | |
selten so klappt, bevorzugt Dinges den zweiten Weg: Eine Assistentin oder | |
der Gesprächspartner selbst tippt in einen Laptop, der mit Dinges’ | |
Braillezeile per Bluetooth verbunden ist und das getippte in Blindenschrift | |
übersetzt. Kleine Metallstifte schnellen dann auf der Braillezeile in die | |
Höhe und ergeben Buchstaben und Worte, die Dinges mit ihren Fingern | |
erfühlt. So kann sie leicht zeitverzögert auch Fragen stellen und antworten | |
– bei Veranstaltungen, früher in Vorlesungen oder jetzt beim Interview mit | |
einer Zeitungsjournalistin. | |
Und drittens: das Lormen. Dinges’ Assistentin streicht ihr über den kleinen | |
Finger, tippt dann an die Daumenspitze, streicht zweimal vom Mittelfinger | |
in die Handfläche, tippt an die Spitze des Ringfingers: H – A – L – L �… | |
Das Lorm-Alphabet wurde im 19. Jahrhundert von dem österreichischen | |
Schriftsteller Hieronymus Lorm für den Eigengebrauch entwickelt. Katrin | |
Dinges nutzt es mit ihren Assistentinnen, anderen Taubblinden und einzelnen | |
Freundinnen, wenn sie an lauten Orten unterwegs und der Laptop nicht | |
verfügbar ist. | |
## Assistenz als einzige Option | |
Für nahezu jeden Einkauf, jeden Besuch, jede Veranstaltung braucht Dinges | |
inzwischen Assistenz. „Manchmal gehe ich auch noch allein nach draußen, an | |
Orte, die ich sehr gut kenne, aber das ist sehr anstrengend für mich.“ Der | |
Rest Hören, der ihr noch bleibt, reicht oft nicht zur Orientierung, in | |
lauter Umgebung ist sie schnell erschöpft. Ohne Assistenz hat Dinges nur | |
den Taststock. Wenn sie am falschen Ort landet, wie vor ein paar Monaten, | |
als sie verabredet war und nicht am richtigen S-Bahn-Gleis stand, hilft nur | |
fragen. „Ich bin zum Glück nicht schüchtern.“ Aber auch das geht nur, weil | |
Dinges sprechen kann und mit dem rechten Ohr noch ein wenig hört. Was | |
passiert, wenn sie auch ihren Hörrest noch verliert? „Horror, darüber will | |
ich nicht nachdenken“, sagt Dinges. Für viele Taubblinde ist Assistenz die | |
einzige Möglichkeit, die Wohnung zu verlassen. So wird die Wohnung zum | |
sicheren Ort und Gefängnis zugleich. | |
Tatsächlich gibt es speziell geschulte TaubblindenassistentInnen, die das | |
Lormen, Führtechniken und die deutsche Gebärdensprache beherrschen. | |
Taubblinde müssen diese Assistenz beim Sozialamt beantragen, das ihnen dann | |
nach eingehender Prüfung des Bedarfs ein Stundenkontingent bewilligt. Dabei | |
werden Einkommens- und Vermögensverhältnisse einbezogen. Sprich: Wer geerbt | |
hat, eine Rente bekommt oder vor dem Sinnesverlust gut verdient und gespart | |
hat, soll bei der Bezahlung in die eigene Tasche greifen. Bei 49 Euro pro | |
Assistenzstunde schmelzen auch die 1.189 Euro, die es in Berlin jetzt als | |
Pflegegeld für taubblinde Menschen gibt, schnell dahin. | |
Dinges hat vom Sozialamt nach monatelanger Auseinandersetzung wöchentlich | |
15 Stunden Taubblinden-assistenz bewilligt bekommen. „Ich habe ein | |
dreiviertel Jahr gebraucht, um dem Amt zu vermitteln, dass ich diese | |
Assistenz wirklich benötige und dass das nicht jeder machen kann.“ Zusammen | |
mit der Einzelfallhilfe und dem Pflegedienst, der sie wegen ihrer | |
Gesamterkrankung betreut, sei das schon ganz gut. Aber: Es gibt zu wenig | |
AssistentInnen, und wenn sie Pech hat, dann kann an ihrem Wunschtermin | |
keine von denen, mit denen sie zum Teil seit Jahren zusammenarbeitet. | |
„Meist kann ich dann auf eine Veranstaltung, die ich gern besuchen möchte, | |
nicht gehen.“ | |
Nur zwei Handvoll TaubblindenassistentInnen kenne sie in Berlin, nur rund | |
200 gibt es in ganz Deutschland, und viele von ihnen arbeiten nicht | |
hauptberuflich. Die Qualifizierung ist nicht einheitlich geregelt und es | |
gibt nur wenige Qualifizierungsstellen – etwa in Bayern, Niedersachsen und | |
Nordrhein-Westfalen, in Berlin gibt es keine einzige. | |
Um die Situation für beide Seiten – die Taubblinden und die Assistenten – | |
zu verbessern, stellen TaubblindenvertreterInnen zwei Forderungen. Zum | |
einen: Für alle mit dem Merkzeichen TBL soll automatisch eine bestimmte | |
Zahl von Assistenzstunden gewährt werden, unabhängig von Einkommen und | |
Vermögen. Zum anderen: eine Professionalisierung der Ausbildung und | |
Anerkennung der Taubblindenassistenz als Beruf. Nur so könne auf Dauer | |
sichergestellt werden, dass genug und ausreichend qualifizierte | |
AssistentInnen zur Verfügung stehen – auch für die, die den Kampf um | |
Assistenz nicht allein kämpfen können. „Wenn man Teilhabe ernst nimmt, dann | |
muss man akzeptieren, dass taubblinde Menschen auf die Hilfe speziell | |
ausgebildeter Dritter angewiesen sind und dass das Geld kostet“, sagt | |
Manfred Scharbach vom Berliner Blinden- und Sehbehindertenverein. | |
## Jobcenter: „Nicht vermittelbar“ | |
Katrin Dinges hat zwar Taubblindenassistenzstunden für ihre Freizeit | |
erkämpft. Für ihre Honorartätigkeiten, ihren Traum von der | |
Selbstständigkeit als Kunstvermittlerin, darf sie die aber nicht verwenden. | |
Für den Job bekommt sie erst dann Assistenz bewilligt, wenn sie dem | |
Integrationsamt einen Businessplan vorgelegt hat. „Ich brauche doch aber | |
auch für die Erstellung des Businessplans Assistenz“, sagt Dinges. „Das ist | |
wie eine Mauer, gegen die ich da laufe.“ Neben diesen bürokratischen Hürden | |
zeigt der Kontakt zum Jobcenter aber auch noch eine ganz andere, vielleicht | |
viel größere Barriere für ein selbstbestimmteres Leben taubblinder | |
Menschen. | |
„Schon im ersten Gespräch hieß es: „Sie sind nicht vermittelbar, nicht | |
konkurrenzfähig“, erzählt Dinges. „Ich musste mich dagegen wehren, in die | |
Grundsicherung oder eine Werkstatt geschickt zu werden. Dass das so | |
abweisend, so demoralisierend ist, das hätte ich nicht erwartet.“ Es sind | |
Erfahrungen, von denen man auch im Deutschen Taubblindenwerk zu berichten | |
weiß. Die meisten Taubblinden könnten nie eine Ausbildung machen, für sie | |
bleibe nur die Arbeit in der Behindertenwerkstatt oder keine Arbeit, | |
berichtet Geschäftsführer Volker Biewald. Wer erst im Laufe seines Lebens | |
taubblind werde, verliere oft seinen Job. Und wer nicht einen Partner oder | |
eine Familie an der Seite hat, müsse nicht selten auch die eigene Wohnung | |
aufgeben und in eine spezielle Wohnstätte ziehen. „Wir stehen bei der | |
Inklusion taubblinder Menschen erst ganz am Anfang“, sagt Biewald, der auf | |
Bundesebene zusammen mit anderen Institutionen für rechtliche | |
Verbesserungen kämpft. Die große Isolation bleibe das Hauptthema, und es | |
brauche noch viele Anstrengungen für mehr Teilhabe. | |
Katrin Dinges ist vielleicht weniger isoliert als andere Taubblinde, aber | |
inkludiert fühlt auch sie sich nicht. „Ich wünschte, ich könnte überall | |
dabei sein, ohne das Gefühl zu haben, ich störe oder nerve, weil ich die | |
Anderen nicht verstehe“, sagt Dinges. Da würde es manchmal schon reichen, | |
jemand würde sich einfach den Laptop schnappen, um mit ihr ganz direkt zu | |
kommunizieren. In der Künstlergruppe, in der sie sich aktuell bewegt, ist | |
das so. „Das gibt mir das Gefühl: Ich bin willkommen.“ | |
25 Aug 2019 | |
## AUTOREN | |
Manuela Heim | |
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