# taz.de -- Interview zum Thema Kleinwuchs: „Bis die Leute nicht mehr starren… | |
> Patricia Carl-Innig ist Vorsitzende im Bundesverband Kleinwüchsiger | |
> Menschen. Ein Gespräch über DDR-Zeiten, über Inklusion, Ehrenamt und | |
> Nachwuchs. | |
Bild: Patricia Carl-Innig ist Vorsitzende im Bundesverband Kleinwüchsiger Mens… | |
taz: Frau Carl-Innig, es gibt schon ein paar Artikel über Sie. Da steht | |
immer drin, dass Sie so hübsch und so fröhlich sind. | |
Patricia Carl-Innig: Ja, putzig. | |
Ahnen Sie, worauf ich hinaus will? | |
Klar. Ich betrachte es auch mit Unbehagen, dass immer die hübschen, | |
vorzeigbaren Behinderten bevorzugt und genutzt werden, um gewisse Dinge zu | |
erreichen. | |
Gilt die Inklusion am Ende vor allem den Hübschen und Kompetenten? | |
Das würde ich mir nicht trauen zu sagen. Aber es ist doch schon so, dass | |
die Bereitschaft der Menschen für Inklusion dort aufhört, wo es um geistige | |
Behinderungen geht. Nach dem Motto: „Körperlich geht ja noch gerade so, | |
aber jetzt auch noch geistig … Nee, wir können hier nicht den Fortschritt | |
der anderen riskieren.“ Da sage ich: So ein Schwachsinn! Wem bringt es | |
etwas, eine Aufgabe als Erster zu lösen, wenn das, was die Gesellschaft | |
gerade viel mehr braucht, Empathie ist?! Und dann regen sich alle auf, dass | |
die Gesellschaft immer kälter wird und sich keiner mehr um den anderen | |
kümmert! | |
In welchem Umfeld sind Sie aufgewachsen? | |
Ich bin 1984 in der DDR geboren, nahe Wandlitz, in einem kleinen Dorf. Als | |
ich vier Monate alt war, kam die Diagnose: Achondroplasie, die häufigste | |
Kleinwuchsform. Ganz DDR-Style hat man meinen Eltern dann nahegelegt, ihr | |
Kind doch in die staatliche Obhut zu geben … | |
Also ins Heim? | |
Genau. Da könne man sich doch viel besser um solche Spezialfälle kümmern. | |
Meine Eltern haben das glücklicherweise nicht gemacht, sie hatten eh nicht | |
den allergrößten Respekt vor den herrschenden Institutionen. Aber viele | |
sind damals ins Heim gekommen. In der DDR wurde ja alles systematisiert, so | |
eben auch die Kinder. Es gab auch kaum Experten und Informationen zu | |
Kleinwuchs, schon gar nicht in unserer Poliklinik da draußen. Wir hatten | |
aber Freunde, die früher im Dorf und dann in Hannover wohnten. Die hatten | |
mitbekommen, dass 1988 in Bremen der Bundesverband Kleinwüchsige Menschen | |
und ihre Familien, der BKMF, gegründet wurde. Sie sind dann für meine | |
Eltern eingetreten, um die Informationen zu bekommen. Im Mai 1990 sind wir | |
zu unserem ersten Treffen gefahren, in die Nähe von Frankfurt am Main. | |
Ihr Nachwendeglück … | |
So ist es. Das war das Jahr, in dem ich eingeschult wurde. Auf dem Schulhof | |
wurde ich auch das erste Mal gehänselt. Im Kindergarten war alles noch so | |
normal, da kannten mich ja alle von Anfang an so. Dort hatte ich meinen | |
Hocker und wenn wir aus dem Fenster geschaut haben, habe ich den Platz mit | |
der Stufe bekommen. Erst ab der Schule wurde mir bewusst, dass ich anders | |
bin. Da war es dann sehr wichtig, zu sehen, dass ich damit nicht alleine | |
bin. In unserem Dorf gab es zwar eine sehr kleine Frau, die war bestimmt | |
auch kleinwüchsig, aber ganz alt. Das war jetzt nicht meine Peer Group. | |
Die hatten Sie im BKMF? | |
Vor allem als Jugendliche waren die regelmäßigen Treffen ganz wichtig für | |
mich, das hat mir sehr viel Selbstbewusstsein gegeben. Es macht einfach | |
etwas mit dir, wenn du ein paar Tage auf Augenhöhe im Stehen mit | |
Gleichaltrigen kommunizieren kannst. Für mich war das ohnehin eine | |
schwierige Zeit, mit 16, nach der zehnten Klasse, habe ich, wie viele | |
Kleinwüchsige, eine Begradigung der Beine machen lassen. Meine Eltern haben | |
gesagt: Das muss sein, du kannst aber selbst entscheiden, ob du dich auch | |
verlängern lassen willst. Ich habe mich dann informiert und dagegen | |
entschieden. | |
Das hätten die in einem Abwasch gemacht? | |
Ja, mit, einem sogenannten Fixateur, da hätte ich mindestens ein halbes | |
Jahr im Rollstuhl sitzen müssen. Bei uns auf dem Dorf, wo eh nix | |
barrierefrei war und ich schon mit meinem Fahrrad immer Probleme hatte. Da | |
hätte ich auch gleich sagen können, tschüss Freunde, ich geh ins Kloster. | |
Heute gibt es andere Methoden, da weiß ich gar nicht, wie ich entscheiden | |
würde. | |
Was bringt so eine Verlängerung? | |
8 bis 12 Zentimeter pro Eingriff. Das nächste Fach im Supermarkt, manche | |
Geldautomaten. Ob es das wert ist? Darauf bekommt man keine richtigen | |
Antworten. Die, die das machen lassen haben, bereuen es natürlich nicht. | |
Aber die, die es nicht machen lassen, bereuen es auch nicht. Wir hatten | |
lange Debatten im Verein, als die Verlängerung im Kindesalter vor zehn | |
Jahren neu aufkam und jetzt wieder, wo es um die medikamentöse | |
Wachstumsbehandlung der Kinder geht. Das ist schwierig, weil sich einige | |
erwachsene Kleinwüchsige diskriminiert fühlen. Nach dem Motto: Hey, wir | |
erzählen euch immer, dass man ein gutes Leben haben kann und sobald ihr | |
eure Kinder behandeln lassen könnt, macht ihr das sofort ohne Nachdenken … | |
Dieses Gefühl kenne ich auch, aber ich versuche das so zu sehen: Eltern | |
wollen halt immer das Beste herausholen für ihr Kind. Das ist keine | |
Ablehnung von uns Erwachsenen, sondern für sich zu betrachten. Das verstehe | |
ich noch mehr, seit ich selber Mutter bin. | |
Inwiefern? | |
Im ersten Jahr dreht sich alles ums Wachstum, du kannst zuschauen, wie das | |
Kind wächst. Es ist auch total krass, wie man diesen Normen unterworfen | |
ist. Man wird als Eltern ja auch ständig darauf hingewiesen, dass das Kind | |
gewissen Tabellen und Kurven entsprechen sollte. Wenn ich allein an die | |
Diskussionen über die Gewichtskurve meiner Tochter denke. Es ist gar nicht | |
so leicht, sich diesem Druck zu entziehen. Und für Eltern kleinwüchsiger | |
Kinder ist das noch mal schwieriger, da versuchen wir als Verein, zum | |
Beispiel mit unserem Elternseminar, Unterstützung zu geben. | |
Wie läuft das Seminar ab? | |
Das geht eine Woche und ist echt intensiv. Die meisten Eltern haben gerade | |
erst die Diagnose bekommen, werden häufig ohne Unterstützung und Erklärung | |
aus der Klinik entlassen, kennen keinen einzigen Kleinwüchsigen. Das | |
Seminar will sie auffangen, über medizinische Themen informieren, ihnen | |
aber auch zeigen, dass sie gelassen in die Zukunft schauen können. Es gibt | |
psychologische Unterstützung, gemeinsame Gespräche, Zeit für Schuldfragen | |
und Zeit, sich von einem „gesunden Kind“ zu verabschieden. Es ist wichtig | |
für die Verarbeitung, auch negative Gedanken rauszulassen. Man muss auch | |
sagen dürfen, dass man das jetzt echt scheiße findet, dass das eigene Kind | |
kleinwüchsig ist. Da sind dann auch keine Kleinwüchsigen dabei. Da achten | |
wir darauf, weil wir befürchten, dass die Leute sonst gehemmt wären. Erst | |
gegen Ende des Seminars, nach der medizinischen und physiotherapeutischen | |
Beratung und den Erfahrungsberichten anderer Eltern, kommen ich und ein bis | |
zwei andere kleinwüchsige Erwachsene und wir erzählen von unserem Leben. Zu | |
diesem Zeitpunkt ist die Gruppe schon richtig zusammengewachsen und gelöst, | |
da kommen viele Fragen. | |
Welche zum Beispiel? | |
Ob wir Auto fahren können, das ist für einige ganz wichtig. Manche gehen | |
auch richtig in die Tiefe: Was wir uns von unseren Eltern anders gewünscht | |
hätten zum Beispiel. Es werden prägende Erinnerungen geschaffen und ein | |
Stück Normalität, viele bleiben über Jahre in Kontakt. Da denke ich jedes | |
Mal: Das ist so sinnvoll. Diese Eltern sind gestärkt und können viel besser | |
auf Einflüsse von außen reagieren, für das Kind stark sein, ihm Stärke | |
vermitteln. Das ist die Essenz des Ganzen. | |
Die meisten Eltern Kleinwüchsiger sind ja nicht kleinwüchsig. | |
Richtig. Aber im letzten Jahr haben wir das erste Seminar für kleinwüchsige | |
Eltern gemacht. Für viele stand das vorher nicht auf dem Plan | |
beziehungsweise wurde eher erwartet, dass man keine Kinder bekommt. Diese | |
Prägungen aus der Nachkriegszeit gibt es bis heute. Erst in den vergangenen | |
Jahren ist es selbstverständlicher geworden, dass Kinder zur Lebensplanung | |
gehören. Vor drei Jahren haben wir gemeinsam mit Medizinern und Mitgliedern | |
ein Projekt zu Kleinwuchs und Schwangerschaft gestartet. Das ist total | |
eingeschlagen und im letzten Jahr habe ich dann auch meinen eigenen Beitrag | |
geleistet (lacht). | |
Mit Ihren eigenen Erfahrungen und denen aus dem Projekt: Ist es etwas | |
Besonderes, als Kleinwüchsige ein Kind zu bekommen? | |
Ich würde sagen, es wird zu etwas Besonderem gemacht. Es kamen Reaktionen | |
aus meinem Umfeld, da war ich richtig erschrocken. Mein Gott, die kennen | |
mich so lange, da dachte ich echt, wir wären weiter. | |
Zum Beispiel? | |
Im sechsten Monat: „Wie das wohl wird, wenn der Bauch noch größer wird. | |
Meinst du wirklich, du schaffst das?“ Ja Leute, was denkt Ihr denn, soll | |
ich das jetzt hier abbrechen, oder was? Wäre es bei einer | |
durchschnittsgroßen Frau denn anders? Das muss halt gehen! Da haben Leute | |
ihren Eimer Sorgen über mich ausgeleert, den sie echt lieber für sich | |
behalten hätten. Ich finde das so defizitorientiert. Medizinisch war das | |
nicht so problematisch. Ich habe in der Charité per Kaiserschnitt | |
entbunden, die machen das auch nicht zum ersten Mal. | |
Kam auch die Frage, ob das Kind kleinwüchsig wird? | |
Klar. Wir wussten ja früh, dass es nicht so ist, aber ich habe das bis zum | |
Schluss offen gehalten, weil ich keine Lust hatte, das die Leute dann mir | |
gegenüber so was sagen wie: „Na Gott sei Dank.“ Das kommt natürlich jetzt | |
auch noch. Ich sage dann meistens: „Wir hätten uns über jedes Kind | |
gefreut.“ Häufig lohnt sich da keine Debatte, und ich erzähle denen nicht, | |
dass wir beim nächsten Kind vor der gleichen Wahrscheinlichkeit stehen, ein | |
kleinwüchsiges Kind zu bekommen. Es gab aber auch jemanden, der gesagt hat: | |
„Ich hätte mir gewünscht, dass es auch kleinwüchsig ist. Das wäre bestimmt | |
leichter für dich.“ | |
Es gibt eine Reportage aus den 1980ern über eine der Mitbegründerinnen | |
Ihres Vereins. „Verspottet“ heißt sie, und zentral darin ist wohl die | |
Aussage, dass sich die Leute bei kaum einer Behinderung trauen, so | |
unverhohlen zu spotten wie bei Kleinwuchs. Ist das heute noch so? | |
Die Angst davor ist da, und das passiert auch. Wir erzählen den Eltern | |
kleinwüchsiger Kinder, dass es immer wieder schwierige Situationen für ihr | |
Kind geben wird. Dass ihr Kind vielleicht aus Scham darüber nicht sprechen | |
wollen wird. Deshalb haben wir bei unseren Seminaren Experten dabei, die | |
den Eltern und Kindern Handwerkszeug mitgeben. | |
Passiert es Ihnen auch noch, dass über Sie gespottet wird? | |
Ich hab da neulich so was Krasses erlebt. Mein Kind wird gerade eingewöhnt | |
in der Kita, und die Zeit verbummle ich immer beim nahe gelegenen Bäcker. | |
Und da kommt einer und sagt: „Das freut mich ja so, dass Sie sich hierher | |
gesetzt haben. Ich habe so lange keinen Liliputaner mehr gesehen. Dass war | |
früher meine Spezialität.“ Das hat der wirklich gesagt: Spezialität! Und | |
dass er sich das ja früher immer im Zirkus angesehen hat, aber das gebe es | |
ja heute leider nicht mehr. | |
Was haben Sie gesagt? | |
Der war an die 80. Ich weiß inzwischen auch, welche Debatten sich lohnen | |
und welche nicht. Aber ich dachte, es kann doch nicht sein, dass in einer | |
Stadt wie Berlin offenbar Menschen so selten einen kleinwüchsigen Menschen | |
sehen, dass sie so krass auf mich reagieren! Es passiert mir hier auch | |
noch, dass die Leute einfach über mich lachen. | |
Aber warum trauen die sich das? | |
Das ist immer noch dieses Zirkusding, kleine Menschen zur Belustigung. Ein | |
Kleinwüchsiger erregt erst einmal nicht unbedingt Mitleid, und es denkt | |
auch keiner, oh Gott, das könnte mir auch passieren, wie vielleicht bei | |
einem Menschen im Rollstuhl. Es ist jedenfalls nicht schön, das Objekt des | |
Spottes zu werden, und es braucht lange, um damit klarzukommen. Ich | |
wiederhole mir dann immer im Stillen: Ich bin nicht für eure Unsicherheit | |
verantwortlich. | |
Beim diesjährigen Jahrestreffen Ihres Vereins war „Kleinwuchs in den | |
Medien“ Thema einer Diskussionsrunde … | |
Das ist immer wieder Thema. Einige haben kein Problem damit, ihren | |
Kleinwuchs in der Öffentlichkeit zu präsentieren, sich der Lächerlichkeit | |
preiszugeben. Das wird dann zum Teil als Freiheit des Einzelnen | |
interpretiert, inzwischen sogar als Inklusion. Ich bin mir gar nicht so | |
sicher, ob zum Beispiel Zwergenwerfen heute noch verboten werden würde! | |
Was ist daran so problematisch? | |
Wir sind einfach zu wenige, als dass das öffentlichkeitswirksame Handeln | |
eines Einzelnen nicht auf die ganze Gruppe übertragen wird. Klar soll jeder | |
machen können, was er will. Aber nimm doch bitte auch wahr, dass du | |
Verantwortung hast! Ich denke dann an Jugendliche, die in der Findung sind | |
oder Eltern, die gerade ein kleinwüchsiges Kind bekommen haben und denken: | |
„Okay, das ist jetzt die Perspektive.“ Natürlich sind viele Menschen | |
reflektiert genug zu wissen, dass das nur Einzelfälle sind. Aber da dürfen | |
wir auch nicht nur in unserer Berliner Blase denken, in der der Diskurs um | |
Inklusion vielleicht schon etwas weiter ist. Und selbst hier brauche ich | |
nur in einen anderen Bezirk zu ziehen, wie ich es gerade vorhabe. Und schon | |
ist da wieder diese große Irritation. | |
Und wie gehen Sie damit um? | |
Ich gewöhne die Leute an mich. Solange, bis sie nicht mehr starren. | |
14 Jul 2019 | |
## AUTOREN | |
Manuela Heim | |
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