# taz.de -- Autor über sein Leben mit Rollstuhl: „Ich bin ein Cyborg“ | |
> Maximilian Dorner sitzt seit zehn Jahren im Rollstuhl. Seitdem hat er | |
> sechs Bücher geschrieben – und die sind schonungslos ehrlich. | |
Bild: Sein Rollstuhl ist mittlerweile ein Teil von Autor Maximilian Dorner | |
Ende 2017 lebten in Deutschland 7,8 Millionen Menschen mit einer schweren | |
Behinderung, das ist fast ein Zehntel der Gesamtbevölkerung. Die meisten | |
der Behinderungen sind altersbedingt und treten nach dem 55. Lebensjahr | |
auf. Man könnte sagen: Es ist für uns alle nur eine Frage der Zeit, bis wir | |
auf das Problem Kopfsteinpflaster stoßen. | |
Über Kopfsteinpflaster kann sich Maximilian Dorner trefflich aufregen. Denn | |
dieser schmucke Straßenbelag ist für jeden Menschen, bei dem es nicht so | |
perfekt läuft, eine Tortur. Den Stadtplanern hat er in seinem neuen Buch | |
„Steht auf, auch wenn ihr nicht könnt“ einige Verwünschungen gewidmet, | |
genauso wie den Denkmalschützern, die regelmäßig verhindern, das an | |
historische Gebäude Rampen angebaut werden. | |
Maximilian Dorner ist Autor, Regisseur und Schauspieler und lebt in | |
München. Seit zehn Jahren ist er auf einen Rollstuhl angewiesen. Nun hat er | |
ein Buch geschrieben, darüber, wie er zu einer „autonomen Diva“ wurde, zu | |
einem „Gesamtkunstwerk“. Die Anekdoten, Beschreibungen, Thesen sind lose um | |
ein Dutzend Schlagworte angeordnet, wie „Außenansichten“, „Widersprüche… | |
„Umleitungen“ und „Hilfe“. | |
Dorners Buch ist zuallererst ein Bericht darüber, wie er zu leben gelernt | |
hat, mit der Behinderung natürlich, aber vor allem mit sich selbst. | |
Deswegen schreibt er auch in seinem Werk nichts dazu, wie seine eigene | |
Behinderung zustande kam: Diagnosen helfen nur bedingt bei der Bewältigung. | |
„Ich bin nicht krank, ich bin behindert“, schreibt Maximilian Dorner. | |
## Eine wache Solidarität | |
Und wenn er was sagt, wenn man ihn was fragt, am Telefon, dann klingt das | |
so: „Herr Dorner, wie weit sind wir hierzulande mit der Inklusion?“ | |
Maximilian Dorner: „Vor zehn Jahren trat die Behindertenrechtskonvention in | |
Deutschland in Kraft, ein toller, ein inspirierender Text. Eine | |
Expertenkommission hat sieben Jahre später [1][die Situation in Deutschland | |
analysiert]. Was seither gut lief, füllt fünf Zeilen. Die restlichen | |
sechzehn Seiten heißt es: ‚Wir sind besorgt.‘“ | |
„Ist die Inklusion also gescheitert?“ Maxmilian Dorner antwortet: „Die Id… | |
der Inklusion ist genial: Niemand muss sich verbiegen, um irgendwo | |
teilzuhaben. So müssen wir miteinander umgehen. Aber das Wort hat sich | |
doppelt verheddert, inzwischen wird es enggeführt auf Behinderung, und | |
obendrein auch noch auf den schulischen Bereich reduziert. | |
Eigentlich müsste es bei dem Bereich der Inklusion um Ermöglichung gehen, | |
stattdessen wird es nur noch mit ‚Scheitern‘ assoziiert. Dabei kann | |
Inklusion gar nicht scheitern, weil es kein Ende des Prozesses gibt. Ich | |
spreche inzwischen lieber von Solidarität. Das ist, was wir brauchen: eine | |
wache, um gegenseitiges Verstehen bemühte Solidarität.“ | |
Maximilian Dorner hat viel über sein Leben, seinen Alltag und seine Kämpfe | |
geschrieben. Das begann 2008 mit einem Tagebuch nach seiner Diagnose, „Mein | |
Dämon ist ein Stubenhocker“. Dann folgten Bücher über Scham, Trost und | |
Einsamkeit; ein Reisebericht, wie es ist, als „lahme Ente“ durch New York | |
zu kommen. Liest man Dorners Bücher hintereinander, ergibt sich eine Schule | |
der Gelassenheit. | |
## Mit dem Rollstuhl ins KitKat | |
Im „Dämon“ erzählt er von einem Opernbesuch, den er im Kapuzenpullover | |
absolvierte. Darüber war seine Begleitung sehr beschämt, bis sie erfuhr, | |
dass Dorners taube Finger nicht mehr in der Lage waren, Hemdknöpfe durch | |
die Löcher zu fummeln. Jetzt schreibt er über seinen Willen, den legendären | |
KitKatClub aufzusuchen. Er trägt, als er ankommt, Jeans und T-Shirt; der | |
Türsteher mustert ihn und lässt ihn wissen, dass er etwas Bizarres, | |
Außergewöhnliches tragen müsse, um eingelassen zu werden. | |
Dorner nickt eifrig. Aber Jeans sei gar nicht bizarr, sagt der Türsteher. | |
Dorner deutet auf seinen Rollstuhl. Der Türsteher überlegt kurz und tritt | |
dann zur Seite. | |
„Wie gewöhnt man sich an einen Rollstuhl?“ Maximilian Dorner: „Ich habe | |
etwas gebraucht, um ihn zu akzeptieren. Ich bin, als ich noch lief, oft bis | |
an die Grenze gegangen, und darüber hinaus, das ist mein Naturell. Und | |
Behinderungen verstärken charakterliche Anlagen noch: Wer ängstlich war, | |
wird ängstlicher, wer wagemutig ist, wird tollkühn. Wenn ich gesagt bekam: | |
50 Meter kannst du noch laufen, dann wollte ich die hundert Meter schaffen, | |
um dann bei 50 Metern natürlich trotzdem zusammenzuklappen. | |
Inzwischen frage ich mich: Warum habe ich mir das so lange angetan? Mit dem | |
Laufen verbinde ich nur noch die Erinnerung an diese große, große | |
Anstrengung; der Rollstuhl war deshalb eine enorme Erleichterung für mich. | |
## Der Rollstuhl als Teil des Selbst | |
Das gilt natürlich auch deswegen, weil die Einschränkungen schleichend | |
kamen; für jemanden, der nach einem Unfall mit einer Querschnittslähmung | |
lebt, ist die Situation natürlich eine ganz andere. Es mag esoterisch | |
klingen, aber dieser Rollstuhl ist ein Teil von mir. Ich spüre, wenn etwas | |
nicht richtig sitzt, wenn sich eine Schraube lockert oder sonst was | |
wackelt. | |
Ganz früher, als ich den Rollstuhl noch frisch hatte, habe ich einige Male | |
Menschen gebeten, ihn aus dem Schlafzimmer zu schieben, weil ich ihn nicht | |
sehen wollte. Das mache ich nicht mehr. Der Rollstuhl ist fortwährend um | |
mich herum, es ist eine Verschmelzung. Ich bin schon auch ein Cyborg.“ | |
Niemals, das betont Dorner häufig, möchte er Experte für die eigene | |
Behinderung werden; das ist ein Segen für den Leser, denn wo Experten | |
Statistiken zur Hand haben, hat Maximilian Dorner ein Herz. Und so gelingt | |
es ihm, über Behinderung so zu sprechen, dass sie eben nicht als alles | |
bestimmendes Schicksal erscheint. | |
Ja, Leid gibt es auch, aber es ist nicht der Generalbass. Dass kaum jemand | |
einem Menschen mit Behinderung einmal ein oberflächliches Kompliment macht, | |
weil man Behinderung immer mit Grabesschwere zu kommentieren hat – das | |
empfindet Dorner als Frechheit. | |
## Es gibt auch kleine Siege | |
„Behinderung ist auch eine Schule der Geduld. Die Entschleunigung, nach der | |
in all den vielen Ratgebern gesucht wird, ist bei mir mit eingebaut. Meine | |
Funktionierzone ist kleiner als bei Nichtbehinderten, zum Beispiel kann ich | |
nur schlecht mehrere Dinge gleichzeitig machen. Für einen Rollstuhlfahrer | |
funktioniert coffee to go nicht, ich kann mich auch nicht gleichzeitig | |
fortbewegen und dabei aufs Handy starren. Ich bin gezwungen, mich auf eine | |
Sache konzentrieren. | |
Wenn ich zu spät dran bin, komme ich zu spät: Ich kann mich nicht schneller | |
anziehen, als ich mich anziehen kann, kurz ein T-Shirt überwerfen geht | |
nicht. Jede Hose ist mit gelähmten Beinen eine Zumutung. Morgens brauche | |
ich immer mindestens eine halbe Stunde, da gibt es keinen Spielraum. Und | |
wenn ich alles rechtzeitig schaffe, ist garantiert irgendwo ein Lift | |
kaputt.“ | |
Dorner erzählt auch von den kleinen Siegen. Bisweilen gelingt es ihm, seine | |
Umwelt an seinen Rollstuhl zu gewöhnen; auch wenn das heißt, Regeln zu | |
übertreten. Bei einer Begegnung vor drei Jahren in Berlin fuhr er | |
grundsätzlich mitten auf der Straße. Meine besorgten Blicke nahm er | |
belustigt zur Kenntnis. „Keine Sorge, kein Autofahrer wird sich trauen, | |
mich zu überfahren“, sagte er. Maximilian Dorner schaute dabei ganz sanft, | |
fast melancholisch; wie er überhaupt von äußerst zuvorkommender Art ist. | |
Und es ist auch mehr als reine Renitenz, dass er – schwarzer Pullover, | |
dunkle Hose – sich mitten auf der Fahrbahn fortbewegt; die Bürgersteige in | |
Berlin sind leicht zur Straßenmitte hin geneigt, damit das Regenwasser | |
abläuft; und häufig ist auch Kopfsteinpflaster verbaut. Beides macht das | |
Fahren im Rollstuhl zur Tortur. „Ich sollte mir für die Abende etwas | |
helleres anziehen, neon am besten.“ Kurze Pause. „Aber das ist so | |
fürchterlich hässlich.“ | |
## Behinderung behindert | |
„Wie soll man mit Menschen mit Behinderung umgehen, wenn man sich nicht | |
sicher ist?“ Maximilian Dorner: „Ich bin selbst nicht sicher im Umgang mit | |
bestimmten Behinderungen. Ich habe mich lange [2][mit blinden Menschen | |
schwergetan], gerade im Gespräch: Wo schaue ich hin? In die Augen, ins | |
Gesicht, zur Seite? | |
Dauernd beschäftigt man sich damit, wie man spricht, statt zu sprechen. Das | |
sind Widerstände, gegen die man anarbeiten muss; und dann wird es besser | |
mit der Zeit, man wird sicherer, ungehemmter. Was sicherlich bei einer | |
Behinderung mitbehindert, das ist Sprachlosigkeit, die mit ihr einhergeht. | |
Das muss auch so sein. Denn das Stocken der Sprache gehört unbedingt mit | |
zur Behinderung. Da zeigt sich ja auch, was Behinderung macht: sie | |
behindert. Auch im Reden darüber. Aber wie vieles, das schwerfällt, geht es | |
immer einfacher, je mehr man sich dem aussetzt.“ | |
„Steht auf, auch wenn ihr nicht könnt“ ist kein heroischer Text. Es ist | |
auch kein Ratgeber, dafür ist Dorner zu aufmerksam, dafür hat er ein zu | |
gutes Gespür für Widersprüche, die mal komisch, mal ärgerlich, mal | |
frustrierend sind. Maximilian Dorner liebt das Flirrende, Uneindeutige; am | |
Ende ist es genau das, was ein Leben erzählenswert macht. Und lebenswert, | |
lebenswert sowieso. | |
8 Jun 2019 | |
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## AUTOREN | |
Frédéric Valin | |
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