# taz.de -- Entwicklungen bei der Blindenschrift: Punkte statt Striche | |
> Blinde lesen mit der Brailleschrift Schachzüge, Noten und auch | |
> Strickmuster. Dabei spielen Smartphone und Tablet eine immer größere | |
> Rolle. | |
Bild: Es gibt 64 Möglichkeiten, die sechs Braillepunkte zu kombinieren | |
„Nichts als die Wahrheit“ liest André Rabe gerade, von Dudley W. Buffa. Er | |
liest gern Krimis wie diesen. Nicht seine Augen, sondern seine Finger | |
fahren dabei über die Seiten – erklärt er am Telefon. Denn der 48-jährige | |
Telefonist aus Hamburg ist von Geburt an blind und liest in Brailleschrift. | |
Statt Buchstaben in Schwarzschrift, so nennt man die gedruckte Schrift der | |
Sehenden, ziehen sich bei der Brailleschrift Linien aus kleinen, | |
punktförmigen Erhöhungen über die Seiten. Aus zwei schweren Bänden bestehe | |
sein Krimi, erklärt er, je 30 mal 27 Zentimeter groß, das Papier ist sehr | |
dick. | |
Mehr als 350.000 Menschen, die blind sind oder weniger als 30 Prozent der | |
„normalen“ Sehkraft besitzen, leben in Deutschland. Viele lernen | |
Blindenschrift in der Schule. Die meisten erblinden erst im Laufe ihres | |
Lebens. Genaue Zahlen gibt es nicht, aber laut Schätzungen beherrschen nur | |
20 Prozent der Blinden hierzulande die Brailleschrift. | |
Eine ziemlich geniale Schrift übrigens, mit der sich nicht nur das | |
Alphabet, sondern auch Noten, mathematische Symbole, Sonderzeichen für den | |
PC und sogar Strickmuster, elektronische Schaltkreise oder Züge im Schach | |
darstellen lassen. | |
Erfunden wurde die Brailleschrift von Louis Braille, als er sechzehn Jahre | |
alt war. Als Dreijähriger hatte sich der Franzose bei einem Unfall in der | |
Sattlerwerkstatt seines Vaters am Auge verletzt. Es entzündete sich, und | |
nach zwei Jahren war Braille blind. An einer Blindenschule in Paris lernte | |
er die „Nachtschrift“ von Charles Barbier kennen. Der ehemalige | |
Artilleriehauptmann hatte diese als Geheimcode fürs Militär entwickelt, um | |
auch im Dunkeln Befehle zu übermitteln. Davon inspiriert erarbeitete | |
Braille sein Sechs-Punkte-System, das er im Jahr 1825 vorstellte. | |
## Marburg gilt als „Blindenstadt“ | |
Doch die Schrift setzte sich lange nicht durch. Obwohl sie von Blinden | |
schnell erlernt werden kann, wurde sie erst 1850 offiziell an französischen | |
Blindenschulen unterrichtet. 1878 wurde Brailles Erfindung auch | |
international zur verbindlichen Blindenschrift erklärt – ein Moment, den | |
der Erfinder selbst nicht mehr erlebte. Er starb 1852 an Tuberkulose. | |
Ob Russisch, Niederländisch, Spanisch, heute gibt es für fast jede oft | |
geschriebene Sprache auf der Welt auch eine Brailleschrift. Wichtig: | |
Braille selbst ist keine eigene Sprache, sondern ein Code. Er dient | |
lediglich der Übersetzung verschiedener Sprachen und Symbole. Jede Sprache | |
hat ihre eigenen Zeichen, und Braille kann sogar auf nicht-alphabetische | |
Schriften angewendet werden, wie Chinesisch, Japanisch oder Koreanisch. Da | |
es zu viele chinesische Schriftzeichen gibt, werden die Laute in | |
komprimierter Form, nicht aber die Bedeutung der einzelnen Schriftzeichen, | |
dargestellt. | |
Marburg gilt als „Blindenstadt“. Dort sind Infos in Brailleschrift im | |
öffentlichen Raum weit verbreitet: Braille-Preisschilder im Supermarkt, | |
ertastbare Orientierungspläne im Bahnhof und Blindenschrift-Speisekarten im | |
Restaurant. Langsam ziehen andere Städte nach. | |
Gleisangaben an Treppengeländern in Bahnhöfen, Braillezeichen an | |
Bankautomaten und auf Medikamentenpackungen sind schon weit verbreitet. | |
Auch amtliche Schreiben können in Blindenschrift angefordert werden. Blinde | |
Menschen wünschen sich aber noch mehr: etwa mehr Brailleschrift auf | |
Verpackungen, zum Beispiel auf Pizzakartons. | |
## Der erste Smartwatch in Braille | |
Im Alltag würde er die Brailletafel benutzen, erklärt André Rabe, eine | |
Schablone, in die er mit einer Nadel die Punkte der Brailleschrift stanze, | |
um so auf Produktpackungen im Haushalt zu schreiben, was drin ist. Für | |
längere Texte nehme er den Perkins-Brailler – eine Schreibmaschine für | |
Blindenschrift – mit der sich Seiten in A4 beschreiben ließen. Auch | |
Computer, Smartphone und E-Book würden immer wichtiger für ihn. Um | |
Computertexte oder E-Mails zu lesen und zu schreiben, arbeite Rabe dabei | |
mit einem Screenreader, einer Vorlesesoftware. | |
Ein weiteres Hilfsmittel sind Sprachsteuerungen wie das „Alexa, wann fährt | |
mein Bus?“. Es ist ein internetbasierter Assistent, der auf Sprache | |
reagiert. Damit haben blinde Menschen die Möglichkeit, sich ohne Braille im | |
Alltag zurechtzufinden. | |
„Das ist oft praktisch“, sagt André Rabe, „manchmal sind Sprachausgaben | |
aber ungenau. Hier nutze ich die Braillezeile – ein kleines elektronisches | |
Gerät, das Text in Braillezeichen anzeigen kann – um Texte am PC | |
nachzulesen und auch selbst zu tippen.“ | |
Es gab in letzter Zeit einige andere technische Innovationen, die mit der | |
Brailleschrift arbeiten. So etwa die Dot-Watch. Sie kommt aus Südkorea und | |
ist die erste Smartwatch mit Braillezeichen. Mit 24 Stiften, die sich aus | |
der Oberfläche drücken können, kann man maximal vier Braillebuchstaben | |
darstellen. Sie wandern von links nach rechts wie in einer | |
dreidimensionalen Laufschrift. Die Uhr lässt sich per Bluetooth mit dem | |
Smartphone verbinden und kann Textinfomationen übersetzen – oder auch | |
einfach die Uhrzeit anzeigen. | |
## Werden Finger so müde wie Augen? | |
Seit einem Jahr ist auch das erste interaktive Hyperbraille-Display auf dem | |
Markt. Die grafikfähige, taktile Oberfläche besteht aus mehreren tausend | |
Stiften und lässt sich ebenfalls per Bluetooth mit Tablets, Smartphones & | |
Co verbinden. Mit beiden Händen lassen sich nicht nur Texte in der | |
Blindenschrift ertasten, sondern auch Tabellen, Bilder und Diagramme. Mit | |
15.000 Euro ist Hyperbraille allerdings nicht gerade erschwinglich. | |
Weitere Gadgets, die Blindenschrift flächig darstellen und weniger kosten, | |
sind in der Entwicklungsphase. Solche Erfindungen können für Blinde einen | |
echten Mehrwert bringen, findet André Rabe: „Ganzflächiges Lesen ist viel | |
angenehmer.“ Denn in eine Braillezeile passen nur bis zu 80 Zeichen, das | |
ist in etwa so, als stünde auf jeder Seite eines Buchs in Schwarzschrift | |
nur ein einziger Satz. | |
Deshalb bestellt sich André Rabe lieber Krimis auf Papier in einer der | |
sechs Punktschriftbibliotheken im deutschsprachigen Raum. Der Postversand | |
ist hier kostenlos. Etwa 500 neue Titel kommen jährlich heraus. Das sind | |
viel weniger als in Schwarzschrift, da erschienen 2016 über 85.000 neue | |
Bücher. Thomas Kahlisch, der Direktor der Deutschen Zentralbücherei für | |
Blinde (DZB) in Leipzig, träumt davon, mehr Bücher schneller | |
bereitzustellen: „Toll wäre, wenn der Nutzer am Montag sagt, er möchte | |
etwas lesen, und ich kann ihm am Montag drauf den Lesewunsch in Braille | |
erfüllen.“ | |
Mehr Bücher in Braille – das wünscht sich auch André Rabe. Er liest viel. | |
Ob seine Finger manchmal müde werden wie bei anderen die Augen? „Nein, ich | |
muss aber trotzdem aufpassen, dass ich nicht beim Lesen einschlafe, unter | |
so einem dicken Brailleband schläft es sich nicht so gut.“ | |
*** | |
## | |
## Strick-, Computer- und Musikbraille: Wie funktioniert das? | |
## Braille fürs Stricken | |
Strickmuster zu lesen ist gar nicht so einfach – auch in Braille nicht | |
Für Sehende gibt es Strickanleitungen. Und für Blinde auch. Wie liest man | |
die? | |
Strickanleitungen für Sehende arbeiten meist mit grafischen Zeichen. Eine | |
rechte Masche ist dann etwa ein schwarzes Kästchen, eine linke ein weißes. | |
Sollen zwei Maschen rechts zusammengestrickt werden, ist es ein diagonal | |
geteiltes Kästchen von unten links nach oben rechts. Sollen sie links | |
zusammengestrickt werden, ist die Diagonale andersherum. | |
Ist das immer so? | |
Nein, man muss im Glossar gucken, wofür welches Zeichen steht. Und | |
natürlich kann man das leicht in Brailleschrift übertragen: Die linke | |
Masche ist zum Beispiel ein „l“ in Brailleschrift, die rechte Masche ein | |
„r“ in Braille. | |
Rechte und linke Maschen, das ist noch einfach. Wie ist es bei | |
schwierigeren Mustern? | |
Die kann man genauso benennen. Ein Umschlag ist dann ein „u“, eine | |
Randmasche ein „k“ wie Kante. Zusätzlich gibt es Erläuterungen in normaler | |
Brailleschrift. Sie erklären, welche Maschen wie gestrickt werden: Zum | |
Beispiel, ob man, wenn man einen Umschlag abstrickt, von rechts oder von | |
links einstechen soll. Klingt kompliziert, deshalb ist es am besten, man | |
lässt es sich von jemanden zeigen, dann ist es ganz einfach. | |
Okay, aber wie wählt man die Muster und die Farben aus? | |
Das ist natürlich sehr individuell, aber selbst gestrickte Pullover sind | |
fast immer etwas, das erst mal in der Fantasie entsteht. Blinde können Garn | |
und Muster an fertigen Kleidungsstücken erfühlen und sich vorstellen, wie | |
es an ihrem Modell aussehen könnte. Für die Farben gibt es | |
Farberkennungsgeräte, die einem sagen, welche Farbe man vor sich hat. Sie | |
sehen ein bisschen aus wie Diktiergeräte und erkennen dank eines | |
Farbsensors mehrere 100, einige sogar bis zu 1.700 Farbnuancen. | |
*** | |
Braille am Computer | |
Mit einem Trick wird die Brailleschrift mit der Computertastatur | |
kompatibel. Man erweitert die sechs Punkte, die für jeden Buchstaben zur | |
Verfügung stehen, einfach um zwei weitere | |
Auf einer Computertastatur hat man 255 Zeichen. Wie geht das in | |
Brailleschrift? | |
Indem man die sechs Punkte, mit der jedes Brailleschriftzeichen dargestellt | |
wird, um zwei Punkte erweitert, die man darunter setzt. So erhält man zwei | |
senkrechte Viererreihen, die ermöglichen statt 64 nun 256 verschiedene | |
Zeichen. Damit können auch alle Sonderzeichen wie () oder / dargestellt | |
werden. Dazu braucht man allerdings die Braillezeile. | |
Braillezeile, was ist das? | |
Sie ist ein Computer-Ausgabegerät für blinde Menschen. Die schmale | |
Braillezeile sieht ein bisschen aus wie ein Minikeybord und wird per | |
Bluetooth mit Computer, Tablet, E-Book oder Smartphone verbunden. Ein | |
Screenreader, eine Vorlesesoftware, liest die digitalen Texte aus und | |
sendet die Informationen weiter an die Braillezeile. Eine elektrische | |
Spannung sorgt dann dafür, dass die richtigen Plastikstifte als Punkt aus | |
einer Fläche herausragen und die Computerbrailleschrift bilden. Eine | |
Braillezeile kann bis zu 80 Zeichen in einer Reihe darstellen, dann wird | |
die Zeile aktualisiert, und die Finger fahren von Neuem darüber. Leider | |
sind Braillezeilen für viele Blinde bisher unerschwinglich. Die bis zu | |
6.000 Euro können oft nur mit Hilfe des Arbeitsamts, der Krankenkasse oder | |
anderer Leistungsträger finanziert werden. | |
Kann ich auch auf meinem Smartphone direkt mit Computerbraille schreiben? | |
Ja. Einige Smartphones können auf einen Braille-Eingabemodus umgestellt | |
werden, dann erscheint eine Touchtastatur, die die acht | |
Computerbraillepunkte links und rechts des Bildschirms simuliert – sie | |
können mit acht Fingern angesteuert werden. Legt man einen Finger oben | |
links auf das Display, sagt einem die Sprachsteuerung, dass dort das „a“ zu | |
finden ist. Je nachdem, welche Punkte gleichzeitig gedrückt werden, ergibt | |
sich ein neuer Buchstabe in Braille. Mit Brailletouch können bis zu 32 | |
Wörter pro Minute mit 92-prozentiger Genauigkeit eingegeben werden. | |
*** | |
## Braille für Musik | |
Erst ertasten Musizierende die Notationen, die in die Braillenotenschrift | |
übertragen wurden, merken sie sich und spielen sie dann – klingt einfach, | |
erfordert aber hohe Konzentration | |
Wie werden Noten in Musikbraille übertragen? | |
Geschrieben wird Musikbraille auch mit dem Sechs-Punkte-System. Ein | |
spezielles Ankündigungszeichen sagt: „Stopp, ab jetzt beginnt die | |
Musikschrift.“ Danach geht es weiter mit den bekannten sechs Punkten, die | |
aufgrund der andersartigen Informationen der Musik nun teils eine andere | |
Bedeutung annehmen – ein „a“ in Braille ist also kein „a“ in Musikbra… | |
Für die Wiedergabe der Noten werden zwei Werte in einem Braillezeichen | |
codiert: die Tonhöhe der Note (C, D, E, F, G, A, H) in den oberen vier | |
Punkten und die Tondauer der Note (1/1, 1/2, 1/4, 1/8) in den zwei unteren | |
Punkten. Neben der Codierung der Tonhöhe und Tondauer der einzelnen Noten, | |
beinhaltet das komplexe System auch viele Zusatzsymbole für Pausen, | |
Akkorde, Oktaven oder Harmonien – so dass sich alles von Bach bis Beyoncé | |
spielen lässt. | |
Wie werden Noten übersetzt? | |
„Früher wurden die Musiknoten von Hand in Blindenschrift übersetzt. Sie | |
können sich vorstellen, wie lange das gedauert hat.“ Thomas Kahlisch ist | |
Leiter der Deutschen Zentralbücherei für Blinde (DZB). Weil das so | |
aufwendig und teuer war, wurden von 1995 bis 2002 in Deutschland überhaupt | |
keine Braillenoten produziert. Dann kam Thomas Kahlisch mit dem | |
DaCapo-Projekt: „Wir wollten das technisch vereinfachen.“ Heute schreiben | |
uns Musiker, welche Musikstücke sie brauchen. Die DZB scannt diese ein, und | |
ein Programm übersetzt sie fast automatisch in Braille-Notenschrift. Die | |
Musiker erhalten ihre Braillenoten als Papierdruck oder in Computerbraille | |
– und das innerhalb einer Woche. | |
Ist das schwer zu lernen? | |
Nicht wenn man Brailleschrift schon kann, aber so einfach ist es auch | |
nicht: „Bei einem Instrument fängt man ja auch nicht mit der Partitur an, | |
sondern mit den einfachen Dingen, und das unterscheidet sich dann | |
eigentlich nicht mehr davon, wie das ein sehender Mensch erlernt“, sagt | |
Kahlisch. | |
22 Jan 2018 | |
## AUTOREN | |
Christine Stöckel | |
Stefanie Mnich | |
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