# taz.de -- Social Design in Deutschland: Von Hand zu Hand | |
> In Deutschland leben 9.000 taubblinde Menschen. Der Lormhandschuh | |
> erleichtert ihre Kommunikation. | |
Bild: Tom Bieling, UdK-Doktorand, stellt den Lorm-Handschuh in den Räumen der … | |
Wenn Rosemarie Klapötke sich mit ihrer Bekannten Monika Arndt unterhält, | |
geht alles ganz schnell: Die beiden Seniorinnen sitzen einander zugewandt | |
und nah beieinander. Es kann laut sein, wie an diesem Samstagnachmittag in | |
der vollen Berliner Gaststätte, wo sie sich treffen, die Akustik im Raum | |
kann scheppernd und hallig sein – die beiden Frauen stört das in diesem | |
Augenblick nicht. Monika Arndt nimmt Rosemarie Klapötkes Hand und beginnt, | |
mit ihren Fingerspitzen in deren Handfläche zu tippen. Sie klopft auf die | |
Fingerkuppen von Arndt, macht Kreise in die Handflächen, streicht über das | |
Handgelenk von ihr. | |
Die beiden Frauen lormen, sie unterhalten sich über das Tastalphabet, mit | |
dem sich Menschen, die sowohl seh- als auch hörbehindert sind, verständigen | |
können. Ein Strich entlang des kleinen Fingers für das „H“, ein Tippen auf | |
der Daumenspitze für ein „A“. Noch zwei lange Striche den Mittelfinger | |
entlang, hinunter bis zum Handballen und ein Tipper auf der | |
Ringfingerspitze: „Hallo!“ Ihre Tastsprache ist nicht so schnell wie das | |
gesprochene Wort, aber fokussiert aufs Wesentliche. | |
Wenn die beiden Frauen lormen, lächeln sie viel, wirken aktiviert und | |
gleichzeitig entspannt. Rosemarie Klapötkes Hand liegt auf Monika Arndts | |
Unterarm. Hat sie ein Satzteil verstanden, tätschelt sie zwei Mal. Weiter. | |
Rosemarie Klapötke will sich ihre Selbständigkeit nicht nehmen lassen. Wie | |
viele hörsehbehinderte Erwachsene hat sie das Lormen erst spät in ihrem | |
Leben gelernt. 1949 gehörlos geboren, machte sie zuerst eine | |
Schneiderlehre, arbeitete und zog vier Kinder groß, die heute | |
Gebärdensprache ihre Muttersprache nennen. Aufgrund der Augenerkrankung | |
Retinitis pigmentosa verlor Klapötke zunehmend die Sehkraft: Schon früh | |
machte sich Nachtblindheit bemerkbar, später kam der graue Star dazu, seit | |
bald zehn Jahren reicht die Sehkraft für die Gehörlose nicht mehr aus, um | |
sich auf der Straße alleine zu orientieren. Sie kann noch gebärden, aber | |
die Gebärden der anderen erkennt sie nicht mehr. | |
## Enger werdender Radius | |
Bei sich zu Hause hat Rosemarie Klapötke gelernt, sich mit allerlei | |
Hilfsmitteln wieder zurecht zu finden: vibrierende Wohnungsklingel, | |
vibrierender Wecker, Sockenhalter beim Anziehen, Messbecher mit | |
Einkerbungen und Eitrenner zum Kochen und Backen. Sie kann den Computer | |
hochfahren und mit einem eigenen Programm mit der noch verbliebenen | |
Sehkraft stark, stark vergrößert E-Mails lesen und Zeile für Zeile sogar | |
einen Roman. | |
Rosemarie Klapötke stemmt sich gegen den immer enger werdenden Radius. Sie | |
ist neugierig und wünscht sich – was für hörsehbehinderte Menschen eine | |
Riesenhürde ist – Kontakt nach draußen. Da kam ihr die Anfrage des Design | |
Research Labs, das mit taubblinden Menschen zusammenarbeiten wollte, gerade | |
recht. „Ich habe mich gefreut, dass die jungen Leute gekommen sind“, lormt | |
sie jetzt. | |
Vor drei Jahren wurden die beiden Seniorinnen von Tom Bieling kontaktiert. | |
Der Designforscher ist am Design Research Lab der Universität der Künste in | |
Berlin, wo Designer, Grafiker und Programmierer interdisziplinär daran | |
arbeiten, Design und gesellschaftliche Bedürfnisse zusammenzurücken. In der | |
Forschungseinrichtung sind viele junge Leute, die in Steckbriefen ihre | |
besonderen Fähigkeiten mit „Knitting Textile Sensors“, „Arduino Hardware… | |
oder „Icons and Pictograms“ vorstellen, die also Stricken und elektronische | |
Sensoren zusammenbringen, mit kleinstteiligen Elektromotoren arbeiten und | |
sich mit Bildsprache in der digitalen Kommunikation beschäftigen. | |
## Mit allen reden können | |
Häufig suchen sie die Kommunikation mit Menschen und Gruppen, die in der | |
technischen und digitalen Welt als Außenseiter gelten wie Klapötke und | |
Arndt – taubblinde Menschen. Für sie haben sie eine | |
Mensch-Maschine-Schnittstelle entwickelt: die Lormhand. Denn so schnell und | |
effizient die Kommunikation mit geübten Lormenden läuft, so isoliert sind | |
hörsehbehinderte Menschen im Austausch mit allen anderen, online und | |
offline. Die klassischen Nachrichtenkanäle und erst recht neuere soziale | |
Netzwerke wie Twitter & Co. sind nicht erfassbar. Das Lesen der E-Mails | |
geht auch nur zu Hause mit dem Monitor, nicht unterwegs. Das Hochfahren | |
dauert dann lange und die Menüführung der meisten anderen Programme und | |
Seiten der digitalen Welt sind für Rosemarie Klapötke sehr unübersichtlich. | |
Im Austausch mit Dritten wiederum sind die beiden meist auf Übersetzung | |
angewiesen. Denn selbst in den Blindeneinrichtungen, in die Monika Arndt | |
mit ihrem Mann manchmal verreist, können nur wenige lormen. Von Rosemarie | |
Klapötkes vier Kindern sind es zwei. Der Ehemann, die Tochter – sie sind im | |
Alltag fast die einzigen Ansprechpersonen für sie. Die Tochter übersetzt | |
auch mal nach einer Nachtschicht in ihrem Vollzeitjob und mit ihrem kleinen | |
Sohn dabei. | |
Und wenn ihre Tochter nach einer Stunde des Übersetzens mal kurz nicht | |
hinguckt – etwa weil ihrem Sohn etwas unter den Tisch gefallen ist –, dann | |
spricht Rosemarie Klapötke ins Leere. Und wenn es um Kontakt zu anderen | |
geht, laufen Terminvereinbarungen und andere Absprachen sowieso nur über | |
den Mann und die Tochter. „Ich würde gerne reden, mit wem ich möchte“, | |
meint Rosemarie Klapötke. | |
## Sprachlos sprechen | |
Ähnlich ergeht es Monika Arndt. Im halligen Hinterzimmer der Berliner | |
Gaststätte steht an diesem Samstagnachmittag ihr Ehemann mitunter auf, | |
schreitet um den Tisch herum, legt seiner Frau liebevoll die Hände auf die | |
Schultern, bückt sich hinunter zu ihr und wiederholt ihr eine in | |
Lautsprache gestellte Frage sehr laut ins Ohr. Die Frequenz ihres Mannes | |
kann Monika Arndt nämlich auch unter widrigen Umständen noch verstehen. | |
Eine Maschine, die also das Tastalphabet in geschriebene Sprache und | |
umgekehrt geschriebene Sprache ins Tastalphabet übertragen kann, wäre für | |
Frauen wie Klapötke und Arndt eine große Erleichterung. | |
Tom Bieling hat mit seinem Team am Design Research Lab genau so etwas | |
entwickelt: den Lormhandschuh. Sensoren übersetzen die Berührung in | |
digitalen Text – etwa für E-Mail, SMS oder einen Tweet. Umgekehrt liest er | |
mit kleinen Vibratoren Nachrichten und Texte der digitalen Welt aus und | |
bringt sie als Tastimpulse in die Hand des Trägers. Wie beim analogen | |
Lormen macht man den Strich entlang des kleinen Fingers für das „H“, nur in | |
den Handschuh. Setzt man das A, zweimal das L und das O hinzu, dann steht | |
„Hallo“ auf dem Bildschirm oder dem Handydisplay. | |
Rosemarie Klapötke und Monika Arndt waren gleich offen für das Projekt, | |
denn sie verstanden sofort: Der Lormhandschuh könnte ihnen Unabhängigkeit | |
im Alltag zurückgeben. Zu Hause könnten sie in ihrem normalen Lormtempo SMS | |
schreiben und E-Mails-Versenden. Und sie könnten untereinander | |
kommunizieren auch ohne in Greifweite zu sein. „Von Hand zu Hand | |
telefonieren“, sagt Monika Arndt, „das wäre eine Sensation.“ Im Austausch | |
mit Dritten, die nicht lormen können, bräuchten sie keine Übersetzung mehr. | |
Und auch der Körperkontakt unter Menschen, die sich nicht so gut kennen – | |
eine weitere Hemmschwelle beim Lormen –, würde wegfallen. | |
## Gehörlos hören | |
Geht es nach Entwickler Tom Bieling, soll der Lormhandschuh – am besten | |
einmal im Hosentaschenformat – nicht nur die Kommunikation zwischen | |
Einzelpersonen erleichtern, sondern auch hörsehbehinderte Menschen stärker | |
in die Öffentlichkeit bringen: Ein Taubblinder könnte einen Vortrag vor | |
Hundert Leuten halten, die den gelormten Text über Lautsprecher ausgelesen | |
bekommen. Nachrichten über soziale Netzwerke zu verschicken, wäre eine | |
Selbstverständlichkeit. | |
Dreimal haben sich Rosemarie Klapötke und Monika Arndt in den letzten | |
Jahren mit dem Design Research Lab getroffen, den Lormhandschuh getestet | |
und geholfen, ihn zu verbessern. Sie haben gezeigt, bei welchen Buchstaben | |
Verwechslungsgefahr besteht, weil sie sehr ähnlich geschrieben werden, F | |
und SCH zum Beispiel, und dass man Abstände zwischen den Buchstaben | |
braucht. Es hat den beiden Frauen Spaß gemacht. Ein erster Prototyp hatte | |
die Vibratoren auf dem Handrücken angebracht, für die Lormenden war das | |
sehr ungewohnt. Nun funktioniert alles über die Handinnenflächen. | |
„Mittlerweile kommen sie ganz gut ohne uns zurecht“, meint Monika Arndt. | |
Dass sie in absehbarer Zeit aber selbst einen Lormhandschuh zu Hause haben, | |
damit rechnen die beiden Frauen nicht. Noch sei eine Menge zu tun. Das Team | |
habe ihnen von Anfang an keine falschen Hoffnungen gemacht, denn für die | |
Umsetzung und Produktion eines serienfähigen Modells braucht es | |
finanzkräftige Partner. Der Markt der Hörsehbehinderten in Deutschland ist | |
jedoch klein. Zwei Mitarbeiter des Teams mussten kurzzeitig sogar die | |
Arbeit am Lormhandschuh einstellen, weil die Finanzierung fehlte. „Wir sind | |
noch klar in der Forschungsphase“, sagt Tom Bieling. | |
„Man muss geduldig sein“, lormt Rosemarie Klapötke. Und fasst gemeinsam mit | |
Monika Arndt wenig später den Entschluss, nicht zu warten. Sie wollen sich | |
bei den jungen Leuten mal wieder melden. | |
7 Jun 2015 | |
## AUTOREN | |
Mareice Kaiser | |
Katharina Ludwig | |
Karsten Thielker | |
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