# taz.de -- Buchautor über sexuelle Gebärden: „Mein Vorbild ist Beate Uhse�… | |
> Wolfgang Schinmeyer hat ein Gebärden-Wörterbuch über die Reeperbahn | |
> herausgegeben. Mit Zeichen für „Kondom“ oder „Prostituierte“ will er | |
> Sexualität normalisieren. | |
Bild: Wolfgang Schinmeyer zeigt die Gebärde für „Herbertstraße“. | |
taz: Herr Schinmeyer, ist es für Gehörlose schwierig, Sex zu kaufen? | |
Wolfgang Schinmeyer: Damit habe ich selbst keine Erfahrung, aber ich glaube | |
nicht. Es ist ja möglich, Augenkontakt herzustellen und die Gebärde für | |
„was kostet es?“ verstehen auch Hörende. (Er reibt Daumen und Zeigefinger | |
aneinander.) Schwieriger wird es bei den Preisverhandlungen. | |
Gibt es auf der Reeperbahn Prostituierte, die Gebärden beherrschen? | |
Der Mythos, dass es vor 20 oder 30 Jahren mal eine Prostituierte gab, die | |
das konnte, hält sich hartnäckig. Ich habe sie aber nie kennengelernt. | |
Abgesehen von der reinen deutschen Gebärdensprache können aber sicherlich | |
die meisten Prostituierten ihre Hände und Mimik benutzen, um sich | |
verständlich zu machen. | |
Unterscheiden sich Gebärden für Worte wie Ficken, Wichsen oder Blasen von | |
obszönen Gesten, die Hörende benutzen? | |
Nein, nicht wesentlich. Bei der Gebärde für Porno und einen Blasen bildet | |
man mit den Fingern und dem Daumen einen Kreis und führt den zum Mund. Bei | |
der Gebärde für Ficken kann man einen Finger in einen Kreis aus Fingern der | |
anderen Hand einführen. Ich denke, das versteht jeder. | |
Warum haben Sie dann ein spezielles Gebärdenbuch über St. Pauli gemacht? | |
Es ging mir darum, sexuelle Gebärden und das gesellschaftliche Tabu, das | |
damit einhergeht, öffentlich zu machen. In Hamburg bietet es sich an, | |
dieses Thema mit dem „sündigen“ Stadtteil St. Pauli zu verbinden. | |
Ist die Gebärdensprache denn so verklemmt? | |
Nein, verklemmt trifft es nicht. Aber genau wie bei Hörenden sprechen | |
manche Menschen über Sexualität und andere nicht. Bisher wurden diese | |
sexuellen Vokabeln aber nie in einem Buch gebündelt. Mein Vorbild dabei ist | |
Beate Uhse. Sie hat Sexualität und Erotik in unserer Gesellschaft | |
öffentlich gemacht. | |
Gab es Kritik von Gehörlosen an Ihrer Arbeit? | |
Nein, keine Kritik, aber Diskussionen. In Deutschland wird keine | |
einheitliche Gebärdensprache gesprochen, sondern viele Dialekte. Da kann | |
man gut darüber streiten, ob eine Gebärde die richtige ist oder eine andere | |
noch richtiger. Aber auch wenn sich die Dialekte in Berlin oder dem | |
Ruhrpott unterscheiden, verstehen wir uns. | |
Veröffentlichen Sie Ihre Broschüren für Hörende oder Gehörlose? | |
Eher für Hörende. Gehörlose kennen diese Gebärden ja. Meine Zielgruppe sind | |
Studierende, die lernen, Gebärden zu dolmetschen, Lehrkräfte, | |
Sozialarbeiter oder Polizisten. | |
Trotzdem sind Ihre [1][“Gebärden auf St. Pauli“] ein Abbild der netten | |
Seiten der Reeperbahn. Sie zeigen Worte wie Kneipentour, Riesentitten oder | |
Herbertstraße. Warum kommen Zwangsprostitution oder Menschenhandel nicht | |
vor? | |
Das ist eine gute Frage. Man hätte die Gebärden sicherlich erweitern | |
können, aber ich musste eine Auswahl treffen. | |
Wo haben Sie die vielen schlüpfrigen Gebärden gelernt? | |
Ich bin gehörlos aufgewachsen, bin auf eine Gehörlosenschule gegangen. Da | |
spricht man mit Leuten und kriegt das mit. | |
Warum sind Sie gehörlos? | |
Als ich zwei Jahre alt war, bekam ich eine Hirnhautentzündung. | |
Hadern Sie manchmal damit? | |
Nein. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie es war, als ich noch hören | |
konnte. Deshalb fehlt mir der Vergleich. Schlimmer ist es für Menschen, die | |
zu einem späteren Zeitpunkt ihr Gehör verlieren. Das trifft besonders auf | |
Berufsmusiker zu – Beethoven war so ein tragischer Fall. | |
Was verbindet Sie mit St. Pauli? | |
Als ich zehn Jahre alt war, bin ich mit meiner Tante im Auto an der | |
Reeperbahn vorbeigefahren. Ich saß am Fenster und habe diese | |
Wahnsinnsbilder von Frauen an den Wänden gesehen. Die waren vom Künstler | |
Erwin Ross. Heute sind die Pin-up-Malereien fast alle verschwunden. Mich | |
hat die Offenheit fasziniert, mit der diese Bilder auf dem Kiez gezeigt | |
wurden. Mit 16 Jahren bin ich selbst zum ersten Mal über die Reeperbahn | |
gegangen. Ich war baff und neugierig, hatte aber kein Geld. Den Kiez habe | |
ich trotzdem als großen Männertraum wahrgenommen. Später habe ich dort viel | |
fotografiert und auch Führungen für gehörlose Touristen aus Japan, Israel | |
oder Schweden angeboten. | |
Wo treffen sich Gehörlose auf St. Pauli? | |
Früher im Mary-Lou’s – einer Kneipe am Hans-Albers-Platz. Das war ein | |
Geheimtipp. Sehen und gesehen werden. Heute trifft man sich mal hier und | |
mal dort. | |
Gibt es viele Gehörlose in Hamburg? | |
Ja. Hier und im Umland leben rund 2.000 Gehörlose. In ganz Deutschland sind | |
es rund 80.000 Menschen. | |
Wie kommunizieren Sie mit Hörenden? | |
Ich habe immer Stift und Zettel dabei, weil es selten ist, dass jemand | |
Gebärdensprache kann. Meistens muss man sich einen abkaspern: ganz starke | |
Mimik, viel zeigen, denn das Lippenlesen allein bringt einem in | |
Alltagssituationen mit Gesprächspartnern, die man nicht kennt, wenig. Meine | |
nächste Broschüre möchte ich zum Thema Alltag herausbringen – mit einfachen | |
Begriffen, wie Schlafen, Essen oder Trinken. Damit die Verständigung besser | |
klappt. | |
Wem ist die Figur in Ihrem Buch nachempfunden, die die Gebärden macht? Sie | |
sieht aus wie ein Klischee-Lude. | |
Mir. Ein Freund hat mich fotografiert und ich habe die Grafiken dann mit | |
Photoshop verändert. Aber es ist gewollt, dass er ein bisschen wie ein | |
Rocker oder Zuhälter aussieht. | |
Aus reiner Neugier: Stimmt es, dass die Gebärde für Guido Westerwelle die | |
gleiche ist wie die für Akne? | |
Nein, sie bedeutet Pockennarbe. Interessant ist auch Angela Merkel. Klar, | |
kann man die Hände zur Raute formen, aber die Gebärde für hängende | |
Mundwinkel versteht gleich jeder. | |
2 Jul 2015 | |
## LINKS | |
[1] http://www.gebaerdenbuch.de/ | |
## AUTOREN | |
Andrea Scharpen | |
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