# taz.de -- Fluch des Tourismus: Kodex für Kiez-Führer | |
> Anwohner und Prostituierte sind von den zunehmenden Führungen auf der | |
> Reeperbahn genervt. Nun wird über Regeln diskutiert. | |
Bild: Will bei ihrer Führung die Geschichte der Prostitution ins rechte Licht … | |
HAMBURG taz | Ein Kneipenstopp in der großen Freiheit, ein Blick in die | |
Schaufenster der Sex-Shops und dazu den „Duft der weiten Welt“ einatmen – | |
wenn Touristenführer auf St. Pauli um Kundschaft buhlen, greifen sie gern | |
auf Klischees zurück. Mit Erfolg: Die Branche boomt. Täglich führen selbst | |
ernannte Kiez-Experten wie „Titten-Tina“, „Inkasso-Henry“ oder | |
Travestie-Star Olivia Jones über die Reeperbahn und unterhalten Touristen | |
mit Anekdoten über „Hamburgs sündige Meile“. | |
Doch während die Einen vom Mythos St. Pauli profitieren, regt sich im | |
Stadtteil Kritik an den Kieztouren. Es geht um Lärmbelästigung und | |
„mangelnden Respekt“, wie Julia Staron, Quartiersmanagerin des Business | |
Improvement Districts (BID) Reeperbahn, sagt. „Touristengruppen versperren | |
Wege und Hauseingänge, während Tourguides mit Megafonen selbst kleine | |
Wohnstraßen beschallen.“ Dabei trügen die Anbieter einen „Konkurrenzkampf | |
auf offener Straße“ aus und bepöbelten einander lautstark. | |
Wie viele Stadtführer es auf St. Pauli gibt, ist nicht bekannt – viele | |
Guides arbeiten als Einzelpersonen und sind nirgends registriert. Während | |
die „Historische Hurentour“ oder der „Nachtwächter auf St. Pauli“ seit | |
Jahren im Stadtteil unterwegs sind, habe sich erst in den letzten zehn | |
Jahren ein „regelrechter Hype“ um die Kieztouren entwickelt, sagt Staron, | |
„seit Olivia Jones ins Geschäft eingestiegen ist.“ Das BID Reeperbahn geht | |
von mehr als 180 Tourangeboten aus. | |
Die Anbieter werben mit dem Einblick ins Rotlichtmilieu, doch für die | |
Sexarbeiterinnen sind die Touristengruppen offenbar ein Ärgernis. „Die | |
Frauen fühlen sich wie im Zoo“, sagt Staron. Im Minutentakt werde vor dem | |
Eingang zur Herbertstraße referiert, dann strömten die Männer durch die | |
Straße. | |
„Einige Guides wollten den Prostituierten schon untersagen, einen Stuhl am | |
Gehweg aufzustellen, damit die Gruppen mehr Platz haben“, erzählt Staron. | |
Inzwischen werde der Bereich um die Herbertstraße in vielen Führungen | |
ausgespart. Ob späte Einsicht dahinter steckt, ist fraglich: Es soll | |
mehrfach Drohungen aus dem Rotlichtmilieu gegeben haben, weil die | |
Touristengruppen Freier abgeschreckt hätten. | |
Auch einzelne Touranbieter beschweren sich über die „schwarzen Schafe“ in | |
der Branche. Elke Groenewold bietet seit 30 Jahren ehrenamtlich | |
Stadtteilrundgänge für das St.-Pauli-Archiv an. Die Geschichtswerkstatt hat | |
ihre eigene Konsequenz aus dem Kieztour-Boom gezogen – um Rücksicht auf die | |
Anwohner zu nehmen, wurden viele Rundgänge gestrichen. | |
„Viele Menschen wohnen seit Jahrzehnten hier und sollen nun Lärm und blöde | |
Sprüche ertragen, weil St. Pauli eine Vergnügungsmeile ist? Das Argument | |
ist an Arroganz nicht zu überbieten“, sagt Groenewold. Sie stellt auch die | |
Qualität vieler Führungen infrage. „Einige Tourguides tischen den Touristen | |
falsche Fakten auf oder vermitteln Wissen, dass man schnell im Internet | |
zusammensuchen kann.“ | |
Auch die Kurverwaltung St. Pauli hat auf den Ansturm reagiert. Der Verein | |
bietet am Wochenende keine Kieztouren mehr an und verzichtet damit auf | |
Erlöse, die in soziale Projekte im Stadtteil fließen. | |
Die Randerscheinungen der Gästeführungen auf St. Pauli lassen sich | |
allerdings kaum regulieren. Der Beruf des Fremdenführers ist nicht | |
geschützt, Qualitätskontrollen gibt es keine. Ein Lösungsansatz könnte ein | |
Wertsiegel sein, dass der Tourismusverband derzeit entwickelt. Wer als | |
Tourguide bestimmte Qualifikationen und Empfehlungen vorweist, soll sich um | |
das Gütesiegel bewerben können, das für ganz Hamburg gelten soll. | |
Bei vielen Touranbietern stößt diese Idee einer bürokratischen Verordnung | |
jedoch auf Kritik. Sie befürworten freiwillige Richtlinien, wie bei einer | |
Diskussionsrunde des BID Reeperbahn im April deutlich wurde. Wiederkehrende | |
Forderungen waren: Geführte Gruppen sollten nicht mehr als 25 Personen | |
umfassen, Lautsprecher-Ansagen abseits der Reeperbahn ganz unterlassen | |
werden. Auch eine zentrale Anlaufstelle für Beschwerden wurde gefordert. | |
Damit ein freiwilliger „Kiez-Kodex“ entwickelt werden kann, setzt das BID | |
jetzt auf den Dialog im Stadtteil: „Wir wollen erst einmal auf den | |
kleinsten gemeinsamen Nenner kommen“, sagt Quartiersmanagerin Staron. | |
Derzeit sammelt das BID Reeperbahn Beschwerden von Anwohnern. Bald soll es | |
wieder eine Diskussionsrunde geben. | |
Von der Stadt wünscht sich Staron „mehr Nachhaltigkeit“: Tourismus sei ein | |
wichtiger Wirtschaftsfaktor. „Trotzdem sollten wir uns fragen, welche Art | |
von Tourismus wir in St. Pauli haben wollen – eine, die sich in die | |
Stadtteilkultur integrieren lässt oder die das Leben vor Ort massiv stört“, | |
findet sie. | |
8 May 2015 | |
## AUTOREN | |
Annika Lasarzik | |
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