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# taz.de -- Kino für Blinde: Der Film entsteht im Kopf
> Auch Blinde gehen ins Kino. In Hörfilme. Diese stellen die Idee der
> Inklusion, aber auch das Medium selbst infrage. Wie wichtig ist das Bild
> für Filme?
Bild: Kino ohne Bilder. Wie erleben Blinde einen Film?
Ein Raum. In der Mitte des Raums eine Leinwand. Vor ihr Stühle aufgereiht.
Etwa zwölf Personen sitzen in den Reihen verteilt. Vor manchen von ihnen
liegen Hunde. Wir befinden uns in einer Hörfilmvorstellung des Bayerischen
Blinden- und Sehbehindertenverbundes. Ein etwa 40-jähriger Mann versucht
den Beamer mit dem Lautsprecher zu verbinden. Er zieht die Augenbrauen
zusammen. Dann verlässt er den Raum.
So könnte sie sich in einem Hörfilm anhören, die Szene, die sich an einem
Freitagabend im Hörfilmkino in München abspielte. Ein Stakkato aus
Eindrücken, die Übersetzung von Bildern in wertfreie Sprache. Hörfilme sind
Filme für blinde und sehbehinderte Menschen. Damit sie der Handlung folgen
können, wird das Gesehene in einem Text beschrieben und dem Film
hinzugefügt. Es entsteht ein Geräuschteppich aus Musik, Dialog, Atmosphäre
und Bildbeschreibung.
Die Bildbeschreibung passt sich in die Lücken zwischen den Dialogen ein. So
präzise und objektiv wie möglich versucht sie das einzufangen, was der Ton
nicht vermitteln kann. Im Hörfilmkino können Blinde mit ihren sehenden
Freunden einen Film … anschauen? … anhören?
Gegenüber dem Münchner Hauptbahnhof. Ein Blindenstock tastet um eine Ecke.
Erst einen Moment später wird der sichtbar, der ihn hält. Neben dem Mann
ein Labrador.
Sascha Schulze ist seit seiner Geburt blind. Seit über zehn Jahren arbeitet
der 36-Jährige als Filmbeschreiber. Das heißt, er erstellt in Absprache mit
zwei Sehenden den Text, der die Bilder eines Films sprechen lassen soll.
Die Sehenden einigen sich darauf, was zu sehen ist. Schulze übernimmt
daraus die Information, die er für das Verständnis des Films braucht. Der
Text, den er verfasst, wird eingesprochen und mit der Originaltonspur des
Films abgemischt.
Seit auch Blinde und Sehbehinderte den Rundfunkbeitrag bezahlen, muss das
Programm der öffentlich-rechtlichen Sender zwischen 20.15 Uhr und 22.15 Uhr
eine Hörfilmversion bieten. Blinde sehen Filme, sagt Schulze. Das sei der
normale Sprachgebrauch, die Sprache der realen Welt. Ist seine Welt denn
nicht real? „Es ist die mit einer Sinnesbehinderung.“
Schulze kennt keine andere Welt, seine Wahrnehmung ist nicht besser und
nicht schlechter, nur anders. Wieso definiert er sie dann über etwas, das
er nicht kann?
## Als könnten sie sehen
Der Grund liegt im Gedanken der Inklusion, denn sie geht nur in eine
Richtung: von unnormal zu normal oder zu natürlich, wie Schulze es nennt.
Blinde und Sehbehinderte müssen sich anpassen, nicht andersherum. So ist es
auch beim Hörfilm. Blinde setzten sich in Stuhlreihen vor eine Leinwand. So
als könnten sie sehen. Ihre sehenden Freunde ändern nichts. „Warum sollte
ich wollen, dass ein Sehender auf sein Augenlicht verzichtet?“, fragt
Schulze. Dabei müsste niemand verzichten, wenn man sich auf eine reine
Audioversion des Films einigen würde – und damit auf eine Wahrnehmung, die
Blinde mit ihren sehenden Freunden wirklich teilen: das Hören. „Das würden
sie nicht tun“, sagt Schulze. Außerdem wolle er das gar nicht. Ein Film ist
ein Film. Auch für ihn.
Andererseits: Bilder lassen sich nicht in Text übersetzen und ein Film
besteht nicht nur aus Handlung. Das Medium ist doch die Botschaft. Bilder
auf der Leinwand zeigen nicht immer direkt etwas, sie werden auch
ästhetisch wahrgenommen: Formen, Farben, Licht. Farbe etwa kann ein Zeichen
sein – grau für Melancholie oder rot für Leidenschaft – vor allem aber ist
sie durch sich selbst präsent. Außerdem hat nicht jedes Bild, nicht jede
Einstellung eines Films eine Bedeutung. Wie aber soll man etwas
beschreiben, das nichts Konkretes erzählen soll?
Ein Bild ist sperrig und rätselhaft. Es verweigert sich Beschreibungen,
lässt Worte immer wieder an sich abgleiten. Was im Hörfilmkino gezeigt
wird, ist deshalb eine spezielle Version des Films.
Hinzu kommt: Für Blinde ist der Hörfilm eine Tonspur, für Sehende ein Film,
der erklärt, was offensichtlich ist. Den eigentlichen Film sieht in dieser
Version niemand. Oder etwa doch? Was ist überhaupt der eigentliche Film?
Berlin. Im historischen Atrium der Deutschen Bank. Eine Bühne, davor das
Publikum. Alle sind festlich gekleidet. Das Licht ist golden. Es ist die
Verleihung des 12. Hörfilmpreises. Ein Mann im hellen Anzug hält einen
Preis in seinen Händen.
2014 haben Sascha Schulze und sein Team den Publikumspreis für die
Audiodeskription der BR-Serie „Dahoam is dahoam“ gewonnen. Videoaufnahmen
zeigen ein fröhliches Branchentreffen mit viel Prominenz. Es gibt sogar ein
Selfie ähnlich dem der Oscarverleihung: Schulze, umringt von seinen
Kollegen. Sie strahlen in die Kamera. Ein wenig verlegen steht er in ihrer
Mitte. Sein Gesicht ist der Kamera nicht direkt zugewandt.
## Ein Film ist nicht primär visuell
Das Motto des Hörfilmpreises lautet: „Um Filme zu lieben, muss man sie
nicht sehen.“ Eine Haltung, die Regisseuren, die so viel Energie in ihre
Bilder stecken, eher fremd sein dürfte. Die Hörfilmfassung von „3096 Tage�…
ein Drama der Regisseurin Sherry Hormann, hat in Berlin den Preis in der
Kategorie Kino gewonnen.
„Ich kannte das gar nicht, aber ich war begeistert“, sagt die Regisseurin
über die Audiodeskription zu ihrem Film. Während ein Ausschnitt gezeigt
wurde, habe sie die Augen geschlossen und ihren Film ohne Bilder erlebt.
Eine sanfte Stimme beschrieb die Szenen, ohne zu interpretieren. Ja, keine
Frage, das war ihr Film. Auch ohne Bilder. Denn ein Film sei nicht primär
visuell, der Ton stehe gleichberechtigt zu den Bildern.
Ein Film ist auch für Blinde etwas anderes als ein Hörspiel, weil sein Ton
von Bildern geschaffen wurde, niemals unabhängig von ihnen ist. Vielleicht
ist es das, was Sascha Schulze meint, wenn er sagt, er könne Filme sehen.
Die Audiodeskription ist reduziert und wird das Bild nie in Worte fassen
können. Aber Blinde und Sehbehinderte ergänzen die Handlung durch Geräusche
viel stärker, als Sehende es tun. Auch Sehenden entzieht sich also eine
Wahrnehmungsebene. Letztlich sieht und hört jeder seinen eigenen Film. Er
entsteht im Kopf.
„Die Essenz eines Films ist ein Gefühl“, sagt Sherry Hormann. Manchmal
schließe sie am Set ihre Augen, um zu spüren, ob ihre Schauspieler
glaubwürdig sind. Sehen ist nicht immer besser.
## Mit den Ohren sehen
Den Film „3096 Tage“ hat sie zusammen mit ihrem Mann, Michael Ballhaus,
gedreht. Ballhaus ist einer der bedeutendsten Kameramänner der
Filmgeschichte. Er hat 16 Filme mit Regisseur Rainer Werner Fassbinder
gedreht, dann ging er nach Hollywood zu Scorsese, Coppola und vielen
anderen.
Dieses Jahr wurde bekannt, dass Ballhaus an einem Grünen Star leidet und
langsam erblindet. Im Kino sieht er heute nur die Nahaufnahmen. Trotzdem
gehe er aber immer noch hin, erzählte er im Interview mit der Zeit. Seine
Frau Sherry Hormann flüstere ihm wenn nötig zu, was auf der Leinwand zu
sehen ist.
Ballhaus hat sein Leben lang in Bildausschnitten und Brennweiten gedacht.
Heute lebe er stärker in inneren Bildern und stelle fest, wie befriedigend
es sein kann, einfach zu hören. „Das ist eine Welt, die sich mir jetzt viel
mehr erschließt als vorher. Ich sehe jetzt mit den Ohren.“
Wie Musik haben auch Filme einen Rhythmus. An dieser Stelle treffen sich
Sehende und Blinde. Das Licht geht aus, die Stimmen im Kinosaal verstummen.
Dieser magische Moment vor dem Film. Alle erleben ihn gemeinsam. Dann
lachen sie, weinen und halten den Atem an. Wenn das Licht wieder angeht,
haben alle Unterschiedliches gesehen und gehört, aber das Gleiche
durchlebt.
Ein Film ist weder Ton noch Bild allein. Er ist die Spannung in seinen
Zuschauern.
2 Sep 2014
## AUTOREN
Viktoria Morasch
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