# taz.de -- Computerspiele für Blinde: Tschkk-Tschkk, Klick, Klick, Klick | |
> Erkin Simsek und Sebastian Dellit lieben Computerspiele. Sie sehen mit | |
> den Ohren – und hoffen auf mehr Unterstützung durch die Hersteller. | |
Bild: Sieht das Nichts wie eine Bildstörung aus? | |
Zum Töten schaltet Erkin Simsek den Bildschirm aus. Er drückt drei Knöpfe: | |
runter, vorwärts, Quadrat. „Klick, Klick, Klick.“ Seine Finger rasen über | |
den Controller. | |
Es ist Freitagabend. Erkin lädt eine Pumpgun. Tschkk-Tschkk. | |
Dann drückt er auf dem Controller: runter, vorwärts, Quadrat. Seine Figur | |
ist der Joker, ein fieser Clown mit breitem Grinsen. Der Joker schießt. | |
Sein Gegner, der aufgepumpte Superheld Sinestro, verteidigt sich mit heißen | |
Elektroblitzen. Erkins Augen sind geschlossen, den Controller hält er auf | |
Brusthöhe. Er spielt mit einem Kopfhörer, um keinen Ton zu verpassen. Wenn | |
es knifflig wird, drückt Erkin seinen Kopf gegen die Rückenlehne. Als | |
Sinestro nach einer missglückten Attacke rückwärts läuft, schlägt Erkin | |
genau im richtigen Moment zu. „Boah, das war knapp“, sagt er. | |
Erkin ist 21 Jahre alt, unter der Woche ist er Auszubildender in einer | |
Bankfiliale. Am Wochenende wohnt er bei seinen Eltern in einem großen Haus | |
nahe der Münchner Innenstadt. Auf seinem Schreibtisch steht neben dem | |
Bildschirm ein Musikmischpult, im Flur spiegeln sich Halogenlampen im | |
Marmorboden. Wenn Erkin vom Zocken spricht, lacht er viel. | |
Es ist schon spät geworden in München, als Erkins Finger an der Unterkante | |
seines Bildschirms entlangkrabbeln. Er ertastet den letzten Knopf. „Ich | |
schalte mal an“, sagt er. „Sehende müssen ja immer was sehen, sonst | |
verstehen sie das nicht.“ | |
## Nicht sehen, aber hören | |
Erkin spielt „Injustice“, ein Kampfspiel, in dem bekannte Figuren wie | |
Sinestro, Catwoman und der Joker mit Waffen und Fäusten aufeinander | |
einprügeln. Die Charaktere sind detailgetreu animiert, der Joker trägt | |
Schminke in seinem gruseligen Gesicht. Das Spielfeld ist ein verlassenes | |
Fabrikgebäude mit Graffiti und zerbeulten Metalltüren, Kabel hängen von der | |
Decke, Müll liegt umher. All das kann Erkin nicht sehen, aber er würde es | |
gern hören. | |
Runter, vorwärts, Quadrat. Erkin murmelt in sich hinein. Der Joker rennt | |
mit gezücktem Messer auf Sinestro los. Ein Stöhnen ist in seinen Kopfhörern | |
zu hören. Erkins Gegner Sinestro krümmt sich – und stirbt. „Der Joker | |
gewinnt“, sagt eine Frauenstimme. Erkin legt den Controller vor sich auf | |
den Schreibtisch und grinst: „Der Computer ist gut, aber ich bin tausendmal | |
besser.“ | |
Bei Injustice wird jede Bewegung der Figuren mit einem spezifischen | |
Geräusch untermalt. Für sehende Spieler ein Bonbon, das das Spiel | |
spannender macht. Erkin orientiert sich mithilfe dieser Geräusche auf dem | |
Spielfeld. „Ich höre, wo der Gegner steht, welche Waffe er verwendet“, sagt | |
er. Erkin kann dem Spiel folgen, weil das Sounddesign so exakt ist, dass er | |
durch die Geräusche ein Bild vom Spiel bekommt. | |
Erkin sieht mit den Ohren. Er scheitert nur dann, wenn er etwas in den | |
Einstellungen ändern will. Spielmenüs haben meist kein Sounddesign. Was für | |
sehende Gamer selbstverständlich ist, wird für Erkin zum Problem: „Wie | |
wähle ich meine Gegner aus?“, fragt er. „Natürlich ist es super, Knochen | |
brechen zu hören. Was wir aber brauchen, ist eine Sprachausgabe für die | |
Spiele, damit wir überhaupt über das Menü hinauskommen“, sagt Erkin. | |
## Ein schwarzer Bildschirm | |
Im Alter von sechs Jahren begann Erkin mit dem Zocken. Damals half ihm sein | |
Bruder, Pro Evolution Soccer per Gehör zu spielen. Um ein neues Spiel zu | |
beherrschen, lässt sich Erkin von sehenden Freunden durch Menüs führen. Er | |
lernt jeden Schritt, jedes Geräusch auswendig. Erkin ist von Geburt an | |
blind. Er kann hell und dunkel und grobe Umrisse sehen, aber keine | |
Spielfiguren auf dem Bildschirm. Deshalb schaltet er ihn nicht an. | |
Erkin spielt mit dem Ton. | |
Nürnberg, fünf Tage später. Im elften Stock eines grauen Betonklotzes am | |
Stadtrand öffnet Sebastian Dellit die Wohnungstür und streckt seine rechte | |
Hand ins Ungewisse. Die Aussicht ist schön von hier oben, aber Sebastian | |
kann sie nicht sehen. Er ist 32 Jahre alt, seine Haare sind kurz rasiert. | |
Er trägt Jeans, T-Shirt, Hausschlappen. Seine Blindenhündin Abby liegt an | |
seinen Füßen. Sebastian sitzt auf einem blauen Bürostuhl und streichelt | |
sie, dann verschränkt er die Arme und sagt: „Wir wollen keine Extrawurst. | |
Wir wollen einfach nur spielen.“ | |
Von Geburt an war er stark kurzsichtig, bis sich Wasser hinter der Netzhaut | |
sammelte und sie löste. „Bis vor 13 Jahren“, erzählt Sebastian, „konnte… | |
Spiele auch noch sehen.“ Er verlor seine Sehkraft von Tag zu Tag, auch | |
zahlreiche Operationen konnten das nicht verhindern. Um weiter spielen zu | |
können, behalf er sich jahrelang mit einer Kortisoncreme. Wenn er abends | |
von einer Party nach Hause kam, fiel ihm das Spielen leichter. Alkohol | |
entzieht dem Körper Wasser. | |
„Irgendwann war dann Schluss“, sagt er und presst die Lippen zusammen. „I… | |
musste das akzeptieren.“ Sebastian akzeptierte, dass er blind wurde – aber | |
er wollte nicht akzeptieren, mit dem Spielen aufhören zu müssen. Im Jahr | |
2003 gründete er das Forum [1][gameport.blindzeln.org]. Heute zählt die | |
Plattform mehr als 100 Mitglieder, alles blinde Gamer. Über eine | |
E-Mail-Liste diskutieren sie neue Spiele, teilen Tricks und verabreden sich | |
zu gemeinsamen Spielsessions per Skype und Netzwerk. „Es könnten mehr | |
sein“, sagt Sebastian. „Es gibt viele Blinde, die gerne spielen würden, | |
aber nicht wissen, wie.“ | |
## Keine Lust, auf die Politik zu warten | |
In Deutschland vibrieren Ampeln. Ticketautomaten können sprechen, | |
Bahnsteigkanten sind geriffelt und Computertastaturen mit Blindenschrift | |
ausgestattet. Die Bundesregierung bezeichnet die Inklusion behinderter | |
Menschen als ein besonderes Anliegen. Zahlreiche Initiativen, Lobbygruppen | |
und Vereine kümmern sich um dieses besondere Anliegen. | |
Aber Erkin und Sebastian haben keine Lust, auf die Politik zu warten. Um so | |
zu leben, wie sie es sich wünschen, wollen die beiden Blinden nicht auf ihr | |
Lieblingshobby verzichten: Computer spielen. Sie wollen an den Gamepads | |
nicht ausgeschlossen werden, nur weil sie blind sind. Doch die Welt der | |
Computerspiele ist eine Welt für Sehende. Es ist eine Welt, deren Grafik | |
immer realistischer wird. Diese Welt ist eine No-go-Area für Blinde. Es ist | |
eine Welt, in der Erkin und Sebastian eigentlich keinen Platz haben. | |
Injustice, Erkins Prügelspiel, wurde nicht speziell für Blinde | |
programmiert. Es gehört zu den Spielen, die sich Blinde zu eigen gemacht | |
haben. „Einen Zufallstreffer“ nennt Sebastian, der Gameport-Gründer aus | |
Nürnberg, solche Spiele. Doch oftmals wissen die Entwickler nichts von | |
blinden Usern. | |
Dabei sind die technischen Lösungen schon lange vorhanden. Ein sprechendes | |
Menü funktioniert über ein Programm, das Schriften vorliest. Beim iPhone | |
heißt dieses Programm „VoiceOver“ und ist seit dem Jahr 2009 auf Millionen | |
von Apple-Handys installiert. Es ist der Beweis für eine technische Lösung | |
– „für die sich niemand interessiert“, sagt Sebastian resigniert auf sei… | |
blauen Schreibtischstuhl. | |
## Wo beginnt Inklusion? | |
Er hat sich oft gefragt, warum blinden Spielern keine sprechenden Menüs | |
angeboten werden. Wie ernst gemeint ist die Idee der Inklusion eigentlich? | |
Beginnt Inklusion nicht im Alltag, bei den Dingen, die das Leben lebenswert | |
machen? | |
Er stellte diese Fragen an große Softwarefirmen, er schrieb ihnen Briefe | |
und E-Mails. Die Unternehmen verkaufen Spiele wie Fifa, Super Mario oder | |
Tomb Raider, die Millionen Gamer auf der ganzen Welt begeistern. Der | |
geschätzte Jahresumsatz der Branche liegt im zweistelligen | |
Milliardenbereich. Sebastian wünscht sich von den Unternehmen sprechende | |
Menüs, mehr Stimme, mehr Ton, mehr Geräusche. „Ich würde gerne mit Sehenden | |
gemeinsam spielen.“ | |
Bis heute wartet er auf eine Antwort. | |
4 Jul 2014 | |
## LINKS | |
[1] http://gameport.blindzeln.org | |
## AUTOREN | |
Felix Hütten | |
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