# taz.de -- Kuratorin über Lebensreform-Ausstellung: „Hinaus zu Licht, Luft … | |
> Vegetarisch, naturbelassen, gesund: Eine Ausstellung in Potsdam zeigt die | |
> Anfänge einer Bewegung, die heute marktschreierische Hochkonjunktur hat. | |
Bild: Anhängerinnen der Lebensreform-Bewegung am Motzener See um 1920. | |
taz: Frau Barz, Vegetarier, Reformpädagogik, Landlust: Ihre Ausstellung | |
über die Reformbewegung von 1890 bis 1939 in Brandenburg liegt voll im | |
Bio-Trend. | |
Christiane Barz: Ja. Heute ist alles, was man isst, bedeutungsgeladen. Das | |
war lange nicht so. Ich bin vor 28 Jahren vegetarisch geworden, das war | |
damals das Allerletzte. Und jetzt muss man sich erklären, warum man nicht | |
vegan isst. Man schmeißt seine Samenbomben an die Baumscheibe und tauscht, | |
statt dass man kauft. Es gibt neue, integrative, generationenübergreifende | |
Wohnformen: wie ich esse, wie ich wohne, wie ich arbeite, mit wem ich lebe, | |
all das hat auf einmal wieder eine politische Aufladung. Aber es ist nicht | |
neu, sondern ein Revival. Vor gut hundert Jahren begann eine Bewegung von | |
der wir heute noch zehren. Schon damals machte man sich Gedanken, wie man | |
bescheidener, einfacher, bedürfnisärmer leben kann. Dieses Leben sollte | |
natürlich sein, das heißt in Verbindung zur Natur. | |
So entstand auch die Gartenstadt-Idee? | |
Ja, man überlegte, in der Gartenstadt Eden Nahrungsmittel so naturbelassen | |
wie möglich selbst herzustellen. Der Körper wird entdeckt als der | |
natürliche Organismus schlechthin, den man gestalten, pflegen, formen kann, | |
auch durch eine andere Ernährung. Der Vegetarismus wurde populär, Rohkost | |
und wenig verarbeitete Lebensmittel. Man macht sich gar nicht klar, wie | |
industriell verfremdet Brot damals schon gewesen ist, und die | |
Konservenindustrie kam auf. | |
Die erste Landlust-Bewegung? | |
Berlin war damals die Mietskasernen-Stadt Europas schlechthin. Zehn- bis | |
zwölfköpfige Familien in einem Raum. Dann gab es die Belegung mit | |
Schlafgästen. Man hatte Schlafstätten, die man umschichtig vermietete. Im | |
vierten Hinterhof: kein Licht, keine Luft, keine Sonne. Diese | |
Wohnverhältnisse nahm man als entfremdet, ungesund wahr: Man machte sich | |
Gedanken, wie Familien Zugang zu gesunden Wohnverhältnissen bekommen | |
könnten. Also baute man neue Siedlungen. Der Garten spielte eine große | |
Rolle. | |
Inwieweit ist die damalige Reformbewegung mit heutigen Land -und | |
Naturbewegungen zu vergleichen? | |
Ich glaube, dass wir die Ideen recyceln. Es gibt Traditionslinien, aber der | |
Impetus und das Ideal dahinter haben sich geändert. Das, was wir heute als | |
„Lohas“ verstehen, ist Distinktionsmerkmal, Statuserhöhung. Das ist | |
Lifestyle. Und das ganze Merchandising, das ist ja Wahnsinn. Das sehe ich | |
in der Zeit vor hundert Jahren anders: Das war Verzicht, Experiment. Und | |
man hat sich erst mal wirklich außerhalb des Konsenses gestellt. Die | |
öffentliche Wahrnehmung und Bewertung von diesem „Anderssein“ hat sich | |
verändert. | |
Es wird vereinnahmt? | |
Ja. Was nicht heißt, dass es in der Zeit vor hundert Jahren das nicht gab. | |
Leute wie der Verleger Vanselow waren auch geschäftstüchtig. Er hatte seine | |
Zeitschrift Die Schönheit. Schönheit war natürlich in erster Linie | |
Körperschönheit, auch schöne Aktaufnahmen. Auch zu allen anderen Bereichen | |
der Lebensreform gab es Anleitungen: zum Wohnen, Kleiden, zu | |
Gebrauchsgegenständen, Schmuck. Ein frühes Lifestyle-Magazin. | |
Warum wählten Sie für die Ausstellung die Zeit 1890 bis 1939? | |
Der Startschuss, 1890 als frühestes Datum, ist die Zeit, wo Berliner | |
Naturalisten nach Friedrichshagen gezogen sind, weil sie da in natürlicher | |
Umgebung in Gemeinschaft leben und künstlerisch arbeiten wollten. 1933, mit | |
der Machtergreifung der Nazis, kommt vieles ins Stocken, wird unterbunden | |
oder instrumentalisiert und in seiner Intention verkehrt. Allerdings gibt | |
es auch ein Projekt, das den Nationalsozialismus zur Voraussetzung hatte: | |
die Reformschule von Adolf Reichwein. Er hat als hochrangiger preußischer | |
Beamter die Arbeiter und Erwachsenenbildung entwickelt, hat | |
Volkshochschulen aufgebaut. Als er, der Professor, von den Nazis in die | |
Wüste geschickt wurde, nämlich in die einklassige Landschule nach Tiefensee | |
1933, hat er aus dieser Degradierung ein Erfolgsprojekt gemacht. Ein viel | |
beachtetes Projekt der Reformpädagogik und speziell der Arbeitspädagogik. | |
1939 geht er dort weg, und der Zweite Weltkrieg beginnt. Deswegen habe ich | |
hier die Klammer gesetzt. | |
Warum konzentrieren Sie sich auf Brandenburg? | |
Ich bin Berlinerin, und mir ist aufgefallen, dass hier ziemliches Brachland | |
ist, was die Bestandsaufnahmen und die ideengeschichtliche Einordnung | |
dieser Bewegung in Brandenburg angeht. Obwohl doch gerade hier die | |
Ausstrahlungskraft von Berlin, der damaligen europäischen Metropole | |
schlechthin, massiv greifbar ist. Ich habe mich gewundert, was für eine | |
Spurensuche nötig ist, damit man das wieder ausgräbt. | |
11 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
Edith Kresta | |
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