# taz.de -- Fahrradbewegung Critical Mass: Und wohin fahren wir jetzt? | |
> Das monatliche Pulkfahren ist in Deutschland zur Massenbewegung geworden. | |
> Viele fragen sich, ob sie politisch werden sollen – oder es längst sind. | |
Bild: Vielleicht mal nach links? Critical-Mass-Aktivisten diskutieren über ihr… | |
BERLIN taz | Am letzten Freitag im September 1992 trafen sich in San | |
Francisco um sechs Uhr abends ein paar Dutzend Radfahrer, um gemeinsam | |
durch die Stadt zu fahren. Einige von ihnen sahen sich danach noch Ted | |
Whites Film „Return of the Scorcheran“, eine halbstündige Dokumentation | |
über verschiedene Fahrradkulturen weltweit. | |
Darin kommt auch George Bliss zu Wort, Erbauer von Fahrzeugen, die allein | |
mit menschlicher Muskelkraft betrieben werden, und großer Rikschafreund. Er | |
erzählt von der chinesischen Methode, den Verkehr ohne Signalsysteme und | |
Verkehrszeichen zu regeln: Fußgänger und Radfahrer warten an | |
Kreuzungspunkten, bis sie zu einer bestimmten Menge, einer kritischen | |
Masse, angewachsen sind – dann setzen sie sich alle auf einmal in Bewegung. | |
Als die Zuschauer das im Film sahen, war ihnen klar, wie das Fahrradevent, | |
das ab sofort jeden letzten Freitag im Monat stattfinden sollte, heißen | |
musste: Critical Mass (CM). | |
Inzwischen ist aus der einmal im Monat stattfindenden Tour eine weltweite | |
Bewegung geworden. Und seit etwa zwei Jahren nehmen Zahl und Größe der | |
Rides stetig zu. In Deutschland fuhren 2014 in fast 100 Städten Radfahrer | |
bei einer CM mit. Das ist Rekord – auch was ihre Teilnehmerzahlen angeht. | |
Im Sommer kamen bundesweit mehr als 10.000 Teilnehmer zusammen. In Berlin | |
fuhren selbst bei kaltem Temperaturen Ende Februar fast 800 Radfahrer mit. | |
Über die Gründe für das Wachstum darf spekuliert werden. Zum einen nimmt | |
der Radverkehr generell zu, erobert das Fahrrad als Verkehrsmittel wie als | |
Statussymbol und Lifestyle-Objekt vor allem den städtischen Raum. Zum | |
anderen unterstützen soziale Netzwerke und Smartphone-Kultur Aktionsformen, | |
die unhierarchisch agieren und offen für spontane Eingebungen und | |
Anregungen sind. | |
## Party auf zwei Rädern | |
Hinzu kam, je sichtbarer das Phänomen auf den Straßen wurde, eine mediale | |
Verstärkung, nicht mehr nur auf lokaler Ebene berichtete, sondern | |
überregional, sogar international. Und die fast durchweg neutral [1][bis | |
sehr positiv] ausfiel. Das machte die Rides nicht nur bekannter, sondern | |
lud auch dazu ein, mitzufahren und die beschriebenen Qualitäten selbst zu | |
erleben: Bewegung im intelligenten Radschwarm, hippes urbanes Lebensgefühl, | |
Partyfeeling auf zwei Rädern. | |
Und dann sind da die Akteure der Bewegung. Zwar präsentiert sich die | |
Critical Mass nach außen als spontaner Zusammenschluss, der einmal im Monat | |
zwei, drei Stunden lang gemeinsam durch die Stadt fährt. Und stets wird | |
betont, dass es niemanden gibt, der sich verantwortlicher als andere fühlt. | |
Aber das stimmt natürlich nicht. | |
Fast alle CMs haben [2][Facebook]- und [3][Internetseiten] oder [4][Blogs], | |
und hinter allen steht eine Gruppe aus sich mal mehr, mal weniger | |
Engagierenden. Sie überlegen sich eine Strecke, schützen an Kreuzungen die | |
Flanken der Masse, indem sie andere Fahrzeuge blockieren, [5][szeneintern | |
Corken genannt], klären bei der Gelegenheit Fußgänger und Autofahrer | |
darüber auf, was hier gerade stattfindet und weshalb sie jetzt mal warten | |
müssen, wirken bei Konflikten deeskalierend, drucken Flyer und Aufkleber, | |
dokumentieren die Rides, ermuntern am Ende zum Bike-up, dem gemeinsamen | |
Hochheben der Fahrräder, und laden zur After-Mass-Party. | |
Unter diesen Aktiven hat in den letzten zwei Jahren eine rege | |
Vernetzungsarbeit eingesetzt: Fahrradnews werden gepostet, retweetet, es | |
kommt zu Solidarisierungsbekundungen, wenn eine CM [6][Schwierigkeiten mit | |
der Polizei] oder bei der Stadtverwaltung hat, Erfahrungen werden | |
ausgetauscht, Fotos und Videos geteilt. Seit einem knappen Jahr gibt es auf | |
dem Blog „[7][it started with a fight]“ eine [8][stetig aktualisierte Liste | |
der CMs in Deutschland] und ihrer Teilnehmerzahlen, sekundiert von einer | |
Karte von der CM Wuppertal erstellten interaktiven Karte, die nicht nur die | |
gegenseitige Wahrnehmung erhöht, sondern auch zum Mitfahren in anderen | |
Städten einlädt. Beides hat zur Verdopplung der Zahl der Critical Masses | |
binnen eines Jahres und zur Vervielfachung der Teilnehmerzahlen | |
beigetragen. Das hat die Critical Masses bekannter gemacht, in immer mehr | |
Städten werden sie nicht mehr nur toleriert, sondern von Verwaltung und | |
Polizei respektiert, zum Teil sogar beworben. | |
Aber es wirft auch die Frage auf, wie es weitergehen soll. Belässt man es | |
bei der allmonatlichen Feierabendtour und entwickeln die CM-Rides immer | |
mehr Partycharakter mit Musik, Freibier und After-Mass-Events? | |
Oder nutzt man die gewonnene kritische Masse, um durch das Agieren im | |
öffentlichen Raum den Radverkehr zu stärken, ihn – auch und gerade wenn er | |
in Masse auftritt, Straßenraum besetzt, Staus verursacht – als normalen | |
Verkehr zu betrachten und eben nicht als ein zu verfolgendes oder zu | |
bestaunendes Ereignis, als Demo oder Party? | |
## Das starke Wir-Gefühl | |
Um diese Fragen zu diskutieren, trafen sich während der [9][Bicycle Week], | |
die letzte Woche in Berlin stattfand, etwa 25 CM-Aktive aus Hamburg, | |
Berlin, Osnabrück, Oldenburg, Aachen, Stuttgart, Freiburg, Reutlingen, Wien | |
und Krakau bei einem Bar-Camp. Bei den großen Fragen wurde schnell Konsens | |
erzielt: dass ein weiteres Wachstum der CM wünschenswert ist, um mehr | |
Sichtbarkeit zu schaffen, einerseits für die eigene Community, die dadurch | |
ihr Wir-Gefühl gestärkt sieht und sich mit mehr Selbstbewusstsein und | |
Aufmerksamkeit füreinander auch im Alltag bewegt; andererseits nach außen, | |
um zu zeigen, wie groß und bunt die von anderen so oft marginalisierte | |
Gruppe der Radfahrenden tatsächlich ist, wie anmutig und freudig ihre | |
Bewegung durch die Stadt und wie sich die Städte durch die Rides ein paar | |
Stunden in lärm- und abgasfreie Räume verwandeln. | |
Klemens, ein Radaktivist aus Krakau, berichtete in seinem Vortrag von einer | |
Politisierung [10][der Bewegung in der polnischen Stadt], wie sie auch der | |
Verein [11][auto*mat in Prag] praktiziert. Beide Städte haben organisierte | |
CMs, dahinter steht jeweils ein Verein, der aktiv Verkehrspolitik | |
mitgestaltet, indem er im öffentlichen Raum agiert, demonstriert, zu | |
Sitzungen des Verkehrsausschusses und in Politikersprechstunden geht, also | |
nicht nur frei fluktuierende soziale Bewegung ist, sondern sich mit | |
Institutionen und Administration auseinandersetzt und klare Forderungen | |
stellt. | |
Doch diese Politisierung sah eine deutliche Mehrheit der TeilnehmerInnen | |
kritisch. In Deutschland haben die CMs eine andere Geschichte, eine andere | |
Tradition, ein anderes Selbstverständnis. Sie berufen sich auf die in | |
[12][Paragraf 27 der StVO geregelte sogenannte Verbandsfahrt], die das | |
Fahren in der Gruppe ab 16 Teilnehmern wie ein Fahrzeug behandelt, und sind | |
somit tatsächlich einfach nur Verkehr. Und wenn sie eine gewisse Masse | |
erreichen – eben die kritische, die allerdings bei mehr als 16, eher bei | |
100 liegt –, werden sie auch von Behörden und dem sie umgebenden | |
motorisierten Verkehr als solcher respektiert. In einer Politisierung der | |
CMs über das Fahren hinaus sehen daher die meisten innerhalb der Community | |
eine unzulässige Instrumentalisierung. | |
## Radeln als Metaprotest | |
So machte Jelte, CM-Aktivist aus Oldenburg, in der Diskussion deutlich, | |
dass die Rides „demonstratives Radfahren“ und damit schon per se politisch | |
seien, selbst wenn während der Fahrt nicht explizit politische Forderungen | |
gestellt würden. | |
Und Kevin Schön vom [13][Online-Magazin Urbanist] argumentierte, dass die | |
CM, da sie eine Metaprotestform sei, die auf einem Minimalkonsens beruhe, | |
als politischer Akteur ungeeignet sei. Ihr Potenzial liege, politisch | |
betrachtet, vor allem darin, eine andere Erfahrung von urbaner Bewegung | |
erlebbar zu machen, Gleichgesinnte zu treffen, sich zu vernetzen, | |
alternative Protestformate wie Flashmobs und City-Hacks zu entwickeln und, | |
ganz grundsätzlich, RadfahrerInnen zu ermutigen, ihr im Schwarm gestärktes | |
Selbstbewusstsein in den Alltag mitzunehmen. Die CMs könnten daher als | |
Kommunikationsplattform und Nährboden für weiter reichende | |
verkehrspolitische Ziele und andere Aktionen dienen, diese aber müssten | |
eigene Organisationsstrukturen finden und bilden. | |
Durch die erhöhte Sichtbarkeit des Radverkehrs im öffentlichen Raum und die | |
mediale Verstärkung tragen die CMs dazu bei, Druck auf Parteien, | |
Stadtregierungen und Verwaltungen, und auch auf etablierte Verbände, wie | |
den [14][Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC)], auszuüben. Die | |
kritische Masse, die es braucht, um den Lippenbekenntnissen, | |
Radverkehrsstrategien und Parteiprogrammversprechungen konkrete Maßnahmen | |
folgen zu lassen, ist noch nicht erreicht. | |
Die CMs werden daher so lange politisch und ihr Wachstum Ausdruck des | |
Protests sein, bis das weltweit gemeinsame Motto „We are traffic!“ ohne | |
Ausrufezeichen auskommt und die Teilnehmer der Alltags-CMs, auch Radverkehr | |
genannt, lächelnd sagen können: Wir sind Verkehr. | |
27 Mar 2015 | |
## LINKS | |
[1] /Fahrradbewegung-in-Deutschland/!137343/ | |
[2] http://www.facebook.com/pages/Critical-Mass-Berlin/74806304846 | |
[3] http://criticalmass-kassel.de/ | |
[4] http://criticalmassstuttgart.wordpress.com/ | |
[5] http://criticalmass.hamburg/faq/#24 | |
[6] /Radfahren-aus-Protest/!146852/ | |
[7] http://itstartedwithafight.de/ | |
[8] http://itstartedwithafight.de/critical-mass-deutschland/ | |
[9] http://berlinbicycleweek.com/ | |
[10] http://criticalmass.wikia.com/wiki/Krak%C3%B3w | |
[11] http://www.auto-mat.cz/ | |
[12] http://dejure.org/gesetze/StVO/27.html | |
[13] http://www.urbanist-magazin.de/ | |
[14] http://www.adfc.de | |
## AUTOREN | |
Bettina Hartz | |
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