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# taz.de -- Critical Mass in Oldenburg: Wenn Radler über Rot fahren dürfen
> Eine kollektive Radtour, die keine Demo sein will: Die "Critical Mass"
> zieht in Oldenburg deutschlandweit die meisten Teilnehmer pro Einwohner
> an.
Bild: Macht auf Radfahrer im Verkehr aufmerksam: "Critical Mass"
OLDENBURG taz | Manche sind allein gekommen, andere gleich zu sechst. Die
Radler strömen auf den Platz, immer mehr. Die Masse wächst, schwillt an,
zehn Minuten, 20, eine halbe Stunde, dann ist der Bahnhofsvorplatz in
Oldenburg mit Fahrrädern gefüllt und mit Menschen, 326 sind diesmal da.
Aus verschiedenen Ecken kommt unterschiedliche Musik, ein paar Leute haben
Boxen auf Lastenrädern oder in Anhängern mitgebracht. Irgendwann beginnen
ein paar Radfahrer zu klingeln, immer mehr steigen ein, klingeln auch. Der
Pulk kommt langsam in Fahrt, setzt sich in Richtung Innenstadt in Bewegung.
Zusammen fahren für zwei, drei Stunden
Critical Mass - das ist inzwischen eine globale, urbane Massenbewegung, die
ihre Ursprünge 1992 in San Francisco hat. Damals wie heute soll darauf
aufmerksam gemacht werden, dass auch Radfahrer Verkehrsteilnehmer sind, die
beachtet werden müssen - von den anderen, denen mit Motor, und der
Straßenverkehrsplanung.
Immer am letzten Freitag des Monats treffen sich abends Menschen irgendwo
in den Städten, um zwei, drei Stunden zusammen Rad zu fahren. Schon durch
ihre bloße Zahl, die vielen Menschen und Räder, fallen sie auf, müssen
beachtet werden.
9,1 Teilnehmer pro 10.000 Einwohner: Damit ist das niedersächsische
Oldenburg die aktivste Critical-Mass-Stadt in Deutschland - mit Abstand.
Klar: In Hamburg ist die Bewegung größer, dort treffen sich bis zu 5.000
Radelnde, das ist bundesweit Rekord. Aber pro 10.000 Einwohner sind es eben
nur 3,3 - Platz drei, hierzulande.
Die Gruppe als Fahrzeug
Kaum sind die Letzten auf der Straße, stehen die ersten auch schon vor
einer Ampel. Hinten schützt ein Radfahrer die anderen, indem er sich quer
vor die wartenden Autos stellt - "corken" wird das genannt. Die Ampel
springt auf Grün, der Kordon rollt an, und als die Ampel wieder auf Rot
umschaltet, wird das ignoriert.
Gedeckt von der Straßenverkehrsordnung: "Mehr als 15 Rad Fahrende", heißt
es in Paragraf 27, Absatz 1, Satz 2, "dürfen einen geschlossenen Verband
bilden". Und für solche geschlossenen Verbände, heißt es weiter, "gelten
die für den gesamten Fahrverkehr einheitlich bestehenden Verkehrsregeln und
Anordnungen sinngemäß".
Das bedeutet: Die Gruppe wird wie ein einziges Fahrzeug bewertet. Wenn der
erste Teil des Verbands eine Ampel bei Grün überquert, darf auch der Rest
fahren - und der übrige Verkehr "sie nicht unterbrechen".
Immer wieder mal beschwert sich jemand, da werde ein StVO-Passus doch arg
weit ausgelegt. Immerhin schreibe jener Paragraf 27 auch vor, Verbände
müssten, "wenn ihre Länge dies erfordert, in angemessenen Abständen
Zwischenräume für den übrigen Verkehr frei lassen". Das geschieht bei
Critical Mass nicht.
Kai, schwarzes T-Shirt, rote Sonnenbrille und Lastenrad, ist von Anfang an
in Oldenburg dabei, also seit mehr als zwei Jahren. Er meint, der Paragraf
sei genau für solche Situationen da: als einzige Möglichkeit, mit einer
solch großen Gruppe voranzukommen.
Welchen Weg die Oldenburger Radler diesmal nehmen, weiß noch niemand. Über
die Route entscheiden die, die vorn fahren. Das sollen heute möglichst
Kinder- und Klappradfahrer sein. Eine [1][Critical Mass] hat keinen
offiziellen Organisator. Man trifft sich und macht gemeinsam eine Ausfahrt.
Die Fahrt ist keine Demonstration und wird entsprechend auch nicht
offiziell angemeldet. Die Teilnehmer hätten nur einen gemeinsamen Nenner,
sagt Ben, ebenfalls von Anfang an dabei: das Radfahren. Deswegen sei ein
politischer Konsens darüber hinaus nicht möglich. Aber: "Die Protestform an
sich ist politisch."
Auch dieses Mal machen Menschen aus verschiedenen Bereichen der
Gesellschaft mit: junge Leute auf zusammengeflickten Rostgurken genauso wie
Männer mit schwarzer, sportlicher Kleidung und Fahrradkurier-Tasche,
Menschen mit Helm, Warnweste und Hosenklammern, Liegeradliebhaber oder
Familien mit Kindern, mal auf eigenen Rädern, mal im Anhänger.
"Diese Mischung macht uns weniger angreifbar", sagt Kai, "da man die Gruppe
nicht pauschal kriminalisieren kann." In anderen Städten begleitet die
Polizei die Critical Mass, auch in Hamburg. In Oldenburg hält sie sich raus
- sie kommt nicht mal. Wozu auch? Bislang habe es dafür keine Notwendigkeit
gegeben, sagt Kai. Die Radtouren würden friedlich verlaufen.
Es geht in Richtung Uni, auf einer breiten Straße, die sonst die Autofahrer
verleitet, auch mal schneller zu fahren als erlaubt. Die Menschen sind gut
gelaunt und fahren entspannt. Manche haben ein Bier in der Hand. Die
Teilnehmenden halten sich überwiegend daran, nur eine Fahrspur zu benutzen,
in geordneter Zweierreihe aber fährt kaum jemand.
Ab und zu überholen Radfahrer und benutzen dazu die Fahrspur des
Gegenverkehrs. An einer Ampel wartet ein Vater mit seinen beiden Kindern,
wegen der vielen Teilnehmenden können sie nicht über die Straße.
Schließlich reihen sie sich in den Pulk ein und fahren ein Stück mit.
Etwas weiter, an einer Kreuzung, nutzen vier Frauen mit gelben und blauen
Klapprädern das Corken für eine kurze Raucherpause. Eine Fußgängerin wird
nach eineinhalb Minuten unruhig und setzt den ersten Fuß auf die Straße.
Dieser Vorstoß wird mit vielfachem Klingeln quittiert. Ihre Begleiterin
hält die Frau am Arm fest.
"Wenn ich die Regeln beachte, werde ich fast überfahren"
Anfangs habe es häufiger mal Probleme mit Autofahrern gegeben, erzählt Kai.
Inzwischen wüssten viele, worum es geht, und seien geduldig. Warum
Fußgänger und sogar Radfahrer weniger entgegenkommend sind, weiß er nicht:
"Vielleicht wollen sie nicht so gerne warten, da sie sich im normalen
Verkehr auch oft durchdrängeln können."
Seit zweieinhalb Jahren engagieren sich Studierende, Mitglieder des
Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) und andere Fahrradenthusiasten,
um die Critical Mass bekannter zu machen: Sie drucken Aufkleber, Poster und
Flyer, die sie unter die Leute bringen, und betreiben eine Facebook-Seite,
auf der neben Fotos und Informationen auch Beiträge zu fahrradpolitischen
Themen zu finden sind. Die Bedeutung von Facebook habe aber schon
nachgelassen, erläutert Ben: Inzwischen kämen viele aus Gewohnheit
regelmäßig.
Oldenburg verkauft sich gerne als Fahrradstadt. Dennoch müsse auch hier das
Bewusstsein gestärkt werden, meint Kai: "Wenn ich es morgens eilig habe und
alle Verkehrsregeln beachte, werde ich dennoch zwei Mal fast überfahren."
Auch seien das Wegenetz und überhaupt die Planung teilweise unsinnig.
Vereinzelt Reifenquietschen
Ein wenig später, am Rande der Fußgängerzone, wird ein Radfahrer
ungeduldig. Trotz Corker, der vor ihm steht und versucht, ihn aufzuhalten,
drängelt sich der Mann vorbei und bringt die Menge zum Stoppen.
Die Autofahrer bleiben ruhig, nur einmal versucht ein schwarzer Wagen sich
dazwischenzudrängeln - wird aber sofort von Radfahrern aufgehalten.
Zwischendurch sind quietschende Reifen zu hören und vereinzelt auch Hupen,
insgesamt zeigt man Verständnis. "Sonst rege ich mich schon auf, wenn ich
warten muss", sagt ein Mann, der auf einem Supermarktparkplatz warten muss.
"Aber das hier finde ich gut."
11 May 2015
## LINKS
[1] http://criticalmassoldenburg.blogsport.de/
## AUTOREN
Jördis Früchtenicht
## TAGS
Fahrrad
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