# taz.de -- Flüchtling in der Familie: Zum Freund geworden | |
> Wenig sprach dafür, dass sich die Wege von Adrienne und Moaaz kreuzen. | |
> Heute lebt der junge Syrer bei ihrer Familie in Hamburg-Osdorf. | |
Bild: Vorbereitungen fürs erste gemeinsame Weihnachtsfest: Adrienne, ihr neue … | |
HAMBURG taz | Die Tanne ist opulent geschmückt, eine Krippe steht auf der | |
Fensterbank und im Reihenhaus tummeln sich knapp 20 Menschen. Da sind die | |
deutschen Erwachsenen, Freunde der Gastgeberin Adrienne, die mitgebrachten | |
Kinder, die durch die Räume wuseln, und sieben syrische Männer, die die | |
Sofaecke im Wohnzimmer in Beschlag genommen haben. Einer der Männer hält | |
eine Gitarre auf den Knien, ein Freund der Gastgeberin schnappt sich die | |
zweite Gitarre, die Männer schauen sich an, einer gibt einen Akkord vor, | |
der andere legt nach und die syrische Sofa-Combo stimmt mit ein. Sie singen | |
englische Songs, denn Englisch versteht an diesem Abend fast jeder. Im | |
Hintergrund flackert ein künstliches Kaminfeuer vom Flachbildschirm. „Für | |
einen richtigen Kamin fehlt leider der Schornstein“, sagt Adrienne. Sie | |
teilt in diesem Jahr zum ersten Mal ihr Weihnachten mit Männern aus Syrien. | |
Adrienne lebt in einem 160 Quadratmeter großen Reihenhaus im Hamburger | |
Stadtteil Osdorf. Sie ist Anfang 50, alleinerziehend, freiberufliche | |
Journalistin, hat vier Söhne, einen Hund und eine Katze. Vor etwa sieben | |
Wochen ist der 21-jährige Moaaz bei ihnen eingezogen. Dem kann man so schön | |
Etiketten aufkleben: Moaaz aus Syrien. Moaaz der Flüchtling. Moaaz aus der | |
Hamburger Erstaufnahmeunterkunft in der Schnackenburgallee. | |
Es sprach wenig dafür, dass sich die Wege von Adrienne und Moaaz einmal | |
kreuzen. Sie gehören verschiedenen Generationen an, sprechen nicht dieselbe | |
Sprache, haben nicht dieselbe Religion und verbrachten ihre Leben rund | |
3.000 Kilometer Luftlinie voneinander entfernt. Doch der Krieg in Syrien | |
brachte Moaaz nach Hamburg – und die vielen Flüchtlinge brachten Adrienne | |
zum Nachdenken. „Ich habe mich lange mit der Frage auseinandergesetzt, wie | |
es wäre, einen wildfremden Menschen aufzunehmen“, sagt sie. „Ich wollte | |
diese Skrupel nicht haben, ich mochte diesen Gedanken einfach nicht.“ Sie | |
entschied sich, eine Freundin zu begleiten, die in der | |
Erstaufnahmeunterkunft in der Schnackenburgallee als Kunsttherapeutin | |
arbeitet und kurz zuvor einen syrischen Flüchtling bei sich in der Familie | |
aufgenommen hatte. | |
Schon bevor Adrienne sich zur Unterkunft aufmachte, sprach sie mit ihren | |
Söhnen und am Ende entschieden sie gemeinsam: Wir nehmen einen Flüchtling | |
auf. „Wir haben uns schon mit der Klasse die Schnackenburgallee | |
angeschaut“, sagt der zwölfjährige Juri. „Es ist besser als im Krieg, aber | |
gar nicht schön, da zu leben.“ | |
Ein kurzes Treffen in der Kantine der Unterkunft, dann war alles klar. | |
Adrienne meldete Moaaz offiziell in der Erstaufnahmeeinrichtung ab und nahm | |
ihn mit – ohne große Formalitäten. Geld für die Miete bekommt sie nicht, | |
sie überlässt Moaaz das Zimmer kostenlos. | |
## Fünf Monate auf der Flucht | |
Moaaz ist in Zabadani geboren, einer nordwestlich von Damaskus im Grenzland | |
zum Libanon gelegenen Kleinstadt mit knapp 30.000 Einwohnern. Eine Bombe, | |
die Moaaz und seinen Bruder leicht verletzte, zerstörte 2012 sein | |
Elternhaus. Über Bloudan, wo heute noch seine Mutter und drei seiner | |
Schwestern leben, floh er nach Damaskus und begann, Betriebswirtschaft zu | |
studieren. Als das syrische Militär ihn einziehen wollte, floh er in die | |
Türkei, in einem völlig überladenen Schlauchboot ging es für ihn weiter zur | |
griechischen Insel Farmakonisi. Das Boot kenterte unterwegs, viele | |
Mitinsassen ertranken. Moaaz nicht. | |
Er setzte seinen Weg über Thessaloniki, Belgrad, Budapest, Wien, Salzburg | |
und München fort und seine Flucht endete nach fünf Monaten im August in | |
einem Zehn-Personen-Zelt in der Hamburger Schnackenburgallee, wo er | |
Adrienne traf. | |
Die Geschichte, wie Adrienne ihren neuen Mitbewohner fand, klingt ein wenig | |
nach Tierheimvisite. Hingehen, aussuchen und mitnehmen. Fast könnte man | |
meinen, im wohlhabenderen Teil von Osdorf, der zwischen der | |
Hochhaussiedlung Osdorfer Born und dem reichen Blankenese liegt, gehört es | |
mittlerweile zum guten Ton, sich einen Flüchtling zuzulegen. Gutmenschen | |
mit einem eigenen Syrer im ehemaligen Arbeits- oder Kinderzimmer statt | |
Mercedes in der Garage als Statussymbol. Doch das tut ihnen unrecht. | |
Familien wie die von Adrienne haben Räume freigemacht, die eigentlich | |
gebraucht werden. „Kleine Entbehrungen“, sagt Adrienne. Der achtjährige | |
Johann hat sein Kinderzimmer geräumt. Er findet das schon okay. „Es war | |
schön, ein eigenes Zimmer zu haben, aber mit Moaaz ist es auch sehr schön“. | |
„Es war einer der schönsten Tage in meinem Leben, ich wurde neu geboren“, | |
erinnert sich Moaaz an den Tag, an dem er in Johanns Zimmer einzog. Alles | |
„ist so nett und freundlich – ich würde am liebsten mein ganzes Leben hier | |
verbringen. Adrienne bescheinigt Moaaz einen unglaublich großen Willen, | |
sich zu integrieren. „Unser Zusammenleben ist lustig und funktioniert und | |
ich möchte alle, die etwas Platz haben, ermutigen, einen Flüchtling zu | |
beherbergen“, fügt sie hinzu. Und beantwortet damit die ungestellte Frage, | |
ob sie es je bereut hat, Moaaz bei sich aufzunehmen. | |
Vieles ist für Moaaz hier fremd. Die Jungen und Mädchen etwa, die auf dem | |
Pausenhof der Schule, in der er inzwischen Deutsch lernt, Händchen halten. | |
Das geht in Syrien nicht. Oder das Strafmandat für zu schnelles Fahren, das | |
Adrienne bekam, nach dem sie die Radarfalle tappte. „In Damaskus kann man | |
Unfälle bauen und einen Hunde totfahren, ohne das jemand sich drum | |
kümmert“, erzählt Moaaz. | |
Auch der Hund ist fremd. Hunde hat man auf Farmen, da laufen sie frei | |
herum. Aber einen Hund an der Leine spazieren zu führen? Seltsam. | |
Inzwischen freut sich Moaaz auf die abendlichen Spaziergänge mit dem | |
Familienhund. An das Du hat Moaaz sich noch nicht gewöhnen können, Adrienne | |
einfach mit Vornamen anzusprechen ziemt sich nicht, für ihn den Jüngeren. | |
Adriennes Freundin kann an dem Weihnachtsabend auch solche Geschichten | |
erzählen. Einmal hatte sie ihrem neuen Mitbewohner aus Syrien ein Fahrrad | |
geliehen und ihm erklärt, dass es zwischen Othmarschen und Blankenese einen | |
tollen Fahrradweg gibt. Hussein hat ihn ausprobiert und war begeistert. | |
Drei Tage später fuhren die beiden auf der Autobahn von Othmarschen | |
Richtung Norden. Ihr Mitbewohner wurde ganz aufgeregt, weil er den tollen | |
Radweg wiedererkannte, auf dem er kurz zuvor geradelt war: Er meinte den | |
Standstreifen der Autobahn. | |
„Wir lachen viel über solche Missverständnisse“, erzählt Adrienne, „ab… | |
wir sprechen auch viel über Themen wie Sex vor der Ehe, oder die Rolle der | |
Frau in der Gesellschaft, da prallen Welten aufeinander“. Und manchmal | |
bricht es aus Moaaz heraus. Dann spricht er über das, worüber er eigentlich | |
nicht reden möchte, erzählt von seiner Heimat, von seiner Familie, von | |
Hunger und Tod, von seiner Flucht. Fast alle Geschichten enden tragisch, | |
sind ein in Worte gegossenes Trauma. „Für mich ist es sehr anstrengend, | |
diese traurigen Geschichten zu verarbeiten“, sagt Adrienne. „Was früher so | |
weit weg war, ist jetzt so nahe gekommen“. | |
Bedrückend hat Adrienne Moaazs Asylgespräch empfunden, das er Mitte | |
November absolvieren musste. Sie hat ihn zum Amt begleitet, dolmetschte für | |
ihn und erlebte seine Anspannung hautnah. Die stundenlange Warterei, die | |
Angst, dass was schiefläuft. Am Ende flossen Tränen der Erleichterung. Erst | |
bei Moaaz, der seinen vorläufigen Ausweis in der Hand hielt, dann bei | |
Adrienne. | |
Von dieser Anspannung ist an diesem Weihnachtsabend nichts zu spüren. Die | |
Gitarren sind verklungen, die syrischen Männer bearbeiten ihre Handys. In | |
den Unterkünften, in denen drei der jungen Männer noch leben, gibt es noch | |
immer kein freies WLAN, für teure Prepaid-Karten fehlt ihnen das Geld. Die | |
Smartphones sind für sie aber das einzige Tor zur ihren Familien, die | |
zurückbleiben mussten oder über die halbe Welt verstreut sind. Da gilt es, | |
jede Gelegenheit zu nutzen, den Kontakt zu halten, dem Leben der anderen | |
Familienmitglieder noch irgendwie beizuwohnen. | |
## Vertraut werden ist das Ziel | |
Wie geht es weiter, im kommenden Jahr? Moaaz sagt, er wolle alles über die | |
deutsche Lebensart und Kultur lernen, vertraut mit dem werden, was noch | |
fremd ist. „Weihnachten war auch neu für mich, aber ich liebe das Fest“, | |
fügt er hinzu. Nichts wünscht Moaaz sich sehnlicher, als in Hamburg bleiben | |
zu können und Schauspiel zu studieren. So wie Adriennes ältester Sohn | |
Justus. „Ich liebe das Theater“, sagt er. Syrien ist für ihn Vergangenheit. | |
Auch wenn der Bürgerkrieg irgendwann ein Ende finden sollte, kann er sich | |
nicht vorstellen, zurückzukehren. Dazu sei einfach „zu viel passiert“. | |
„Moaaz soll lange bleiben“, wünscht sich Juri. „Es macht Spaß, ihm Deut… | |
beizubringen und ein wenig Arabisch von ihm zu lernen.“ Am Nachmittag | |
lernen sie oft zusammen. | |
„Wir wollten über den Winter jemanden aufnehmen“, sagt Adrienne. „Nun | |
können wir uns gar nicht mehr vorstellen, dass er nicht mehr bei uns lebt.“ | |
Dann sagt sie: „Aus dem Flüchtling wurde ein Freund“ und erschrickt selbst | |
über ihren eigenen Pathos. | |
Irgendwann wird Johann wieder ein eigenes Zimmer haben wollen. Und | |
irgendwann wird Moaaz gelernt haben, den Alltag in Deutschland | |
selbstständig zu meistern. Dann werden sie wohl wieder getrennte Wege | |
gehen. | |
1 Jan 2016 | |
## AUTOREN | |
Marco Carini | |
## TAGS | |
Familie | |
Flüchtlinge | |
Flüchtlingshilfe | |
Integration | |
Syrische Flüchtlinge | |
Judentum | |
Lampedusa in Hamburg | |
Flüchtlinge | |
Schwerpunkt Rassismus | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Autor über deutsch-jüdisches Verhältnis: „Auf beiden Seiten herrscht Paran… | |
Yascha Mounk ist in Deutschland aufgewachsen und lebt in den USA. Ein | |
Gespräch über Philosemitismus, „Kontextjuden“ und doppelte Freiheit. | |
2016 in Hamburg: Refugee Conference: „Uns wird nichts geschenkt“ | |
Abimbola Odugbesan ist Sprecher der Gruppe Lampedusa in Hamburg. Mit | |
anderen Geflüchteten organisiert er eine Konferenz, die im Februar in | |
Hamburg stattfinden soll. | |
Silvester: „Angst darf nicht belächelt werden“ | |
Psychiater Basel Allozy erklärt, weshalb Feuerwerkskörper für viele | |
Kriegsflüchtlinge eine Belastung darstellen können. | |
Das Jahr der Brandanschläge: Es muss laut werden in Deutschland | |
Mehr als 120 Brandanschläge sind in diesem Jahr auf Flüchtlingsunterkünfte | |
verübt worden. Dagegen braucht es endlich unüberhörbaren Aufstand. |