# taz.de -- Jüdisches Lichterfest Chanukka: Verborgene Geschichte | |
> Chanukka fällt in diesem Jahr auf Weihnachten. Gefeiert wird der Aufstand | |
> der Juden gegen ihre Unterdrücker. Doch der lief anders ab als | |
> überliefert. | |
Bild: Eigentlich geht es bei Chanukka um die Wiedereinweihung des Tempels von J… | |
An Heiligabend werden dieses Jahr auch Juden in der ganzen Welt mit dem | |
Feiern des achttägigen Chanukka-Fests beginnen. Familie und Freunde werden | |
sich vor der Chanukkia, dem achtarmigen Kerzenleuchter, versammeln und nach | |
einem kurzen Gebet die erste Kerze anzünden. An jedem folgenden Tag wird | |
eine weitere Kerze angezündet, bis die Chanukkia am letzten Tag in voller | |
Pracht strahlt. Vor allem die Kinder erfreuen sich in dieser Zeit an | |
kleinen Geldgeschenken und dem Spielen mit dem Dreidel – einem viereckigen | |
Kreisel. | |
Das Fest ist sehr populär, obwohl es, religiös betrachtet, zweitrangig ist | |
und nicht mal einen biblischen Ursprung hat, anders als etwa Jom Kippur und | |
das Pessachfest. Dass Chanukka so hochgeschätzt wird, liegt aber nicht nur | |
an den traditionellen Speisen wie Pfannkuchen oder Kartoffelpuffer, sondern | |
ist kulturell nachvollziehbar: In Europa und den USA ist das Lichterfest | |
heute ein kinderfreundlicher Weihnachtsersatz. In Israel dagegen wird | |
Chanukka eher zionistisch interpretiert. Die meisten Israelis feiern in | |
diesen Tagen die Unabhängigkeit und Rebellion gegen ihre ehemaligen | |
griechischen Besatzer. | |
Trotz der unterschiedlichen Rezeptionen herrschte bis vor Kurzem | |
Übereinstimmung über seine Ursprungsgeschichte. Sie lässt sich wie folgt | |
zusammenfassen: Der böse griechische König Antiochos wollte im zweiten | |
Jahrhunderts v. Chr. die Juden von ihrer Religion abbringen und versuchte, | |
sie mit Gewalt zu gräzisieren, sie also an die hellenistische Kultur zu | |
binden. Er verbot die Beschneidung und den Sabbat und schändete den Tempel. | |
Dabei wurde er von korrumpierten Juden unterstützt, die ihr Volk für ein | |
Gymnasion (eine Sporthalle) und ein Badehaus verrieten. Doch fromme und | |
tapfere Rebellen um Mattatias und seinen Sohn Judas Makkabäus leisteten | |
Widerstand und konnten die Griechen aus dem Land vertreiben und den Tempel | |
erneut weihen („Chanukka“ bedeutet „Weihung“). Die acht Tage des Festes | |
stehen für das göttliche Wunder des geglückten Aufstands. Am Tag der | |
Tempelbefreiung, so erzählt man sich, war in ganz Jerusalem nur ein | |
einziger kleiner Ölkrug zu finden, der das heilige Feuer der Menora nur für | |
einen Tag versorgen konnte. Dass die Flamme aber acht Tage lang brannte, | |
bis wieder Öl geliefert wurde, erklärt die Länge des Festes – und die | |
ölreichen Chanukka-Speisen. | |
## Aufstand gegen Ausbeutung | |
Historisch lässt sich diese Geschichte jedoch nicht halten. Dank neuer | |
archäologischer Forschungen und Textanalysen durch bedeutende | |
Altertumswissenschaftler_innen wie Steven Weitzman und Sylvie Honigman | |
lässt sich heute die Geschichte des Festes anders rekonstruieren: Dem König | |
Antiochos IV., vom Haus der Seleukiden, einem Nachfolger von Alexander dem | |
Großen, ging es – wie allgemein den Herrschern der hellenistischen und | |
polytheistischen Imperien – nicht um religiöse Verfolgungen und | |
Tempelschändungen. | |
Die hellenistischen Kultur und Herrschaftsweise versuchte vielmehr, die | |
lokal verehrten Gottheiten in ihr Glaubenssystem zu integrieren. Darüber | |
hinaus war der Aufstand der Juden keine Reaktion auf den Einmarsch des | |
seleukidischen Militärs nach Judäa, sondern dessen Auslöser. | |
Die Gläubigen rebellierten auch nicht gegen kulturelle Vereinnahmung, | |
sondern gegen eine Steuerreform, mit der das Seleukidenreich seinen | |
Untertanen höhere Abgaben abpressen wollte, um damit den Krieg gegen die | |
Römer zu finanzieren. Um diese Politik zu verwirklichen, setzte der | |
Griechenkönig die Hohepriester in Jerusalem unter Druck. Sie sollten ihm | |
bei der Ausbeutung des Volks helfen. Ihre Zeremonien im Tempel durften sie | |
aber weiter pflegen. | |
Die Historikerin Sylvie Honigman erklärt, wieso dieser Machtkampf um | |
Steuergelder Jahre später durch die Makkabäer-Bücher, die Grundlage der | |
heutigen Chanukka-Geschichte, als Religionskampf dargestellt wurde: Im | |
babylonischen Kulturkreis, zu dem auch Palästina gehörte, wurde jede | |
Machtergreifung im Nachhinein durch die Hofhistoriker als Kampf um die | |
richtige Ausführung religiöser Zeremonien umgedeutet. | |
## Repression war real, wenn auch nicht unbedingt religiös | |
Auch Missverständnisse könnten dazu geführt haben, dass die Geschichte | |
nicht primär als politischer Aufstand, sondern als kultureller Konflikt | |
überliefert wurde. So haben möglicherweise griechische Soldaten in | |
Jerusalem, die ihrem polytheistischen Verständnis folgten und dem lokalen | |
jüdischen Gott huldigen wollten, in der misstrauischen Bevölkerung den | |
Verdacht erregt, sie verletzen die Heiligkeit des Tempels. | |
Auch wenn die Aspekte einer religiösen Unterdrückung eher erfunden sind, | |
war die Repression sehr real und wird der Aufstand zu Recht als | |
erfolgreiche antiimperialistischer Erhebung erinnert. Tatsächlich wurden | |
die Juden nach dem Aufstand politisch unabhängig. | |
Das änderte sich erst mit der römischen Besetzung, mehr als ein Jahrhundert | |
später. Nach der Zerstörung des Tempels durch die Römer im Jahr 70 n. Chr. | |
verlor das Chanukka-Fest allmählich an Bedeutung. Hunderte Jahre danach | |
verschob sich die Bedeutung des Festes von der Erinnerung an einen durch | |
Menschen errungenen militärischen Sieg auf die Feier des göttlichen | |
Ölwunders. Dies passte besser zum Geist des Talmud, dem die Idee einer | |
jüdischen staatlichen Unabhängigkeit fremd war. | |
Es ist eine Ironie, dass ausgerechnet die Rituale jenes Festes, das | |
eigentlich für den Erhalt der jüdischen Religion gegen fremde Einflüsse | |
steht, von heidnischen Traditionen übernommen wurden. Seine Deutung als | |
Lichterfest ist wahrscheinlich eine Anleihe bei dem römischen Winterfest, | |
den Saturnalien. Die Ölwundergeschichte, die erst 400 n. Chr. auftauchte, | |
diente als Erklärung für das heidnisch inspirierte Kerzenanzünden. Auch das | |
Dreidel-Spiel mit einem Kreisel mit den vier Buchstaben N, G, H, Sh, die | |
den Satz „Ein großes Wunder ist dort geschehen“ bilden, entstammt einem | |
mittelalterlichen Glücksspiel. Und das „Chanukka-Geld“, das man sich heute | |
schenkt, ist ein neuerer Brauch, der eingeführt wurde, um mit dem | |
konkurrierenden Weihnachtsfest mit seinen Geschenken mithalten zu können. | |
## Zionismus nutze rebellische Wurzeln des Festes | |
Ein letztes Mal veränderte sich die Rezeption von Chanukka durch den | |
europäischen Zionismus. Dieser nutzte die Geschichte der jüdischen | |
Rebellion für seine Zwecke. So wurden in ganz Europa zu Beginn des 20. | |
Jahrhunderts die Makkabi-Sportvereine gegründet und die jüdischen | |
olympischen Makkabia-Spiele ins Leben gerufen, beide benannt nach dem | |
Rebellenheld Judas Makkabäus. Sie dienten als Symbol des „Muskeljudentums“, | |
das die geschwächten europäischen Juden zu starken Sportlern machen sollte. | |
Dass sich laut dem Buch der Makkabäer die Rebellion ursprünglich gegen eine | |
Sporthalle richtete und dass die zionistische Körperkultur viel eher | |
griechischen als jüdischen Traditionen ähnelt, ist eine weitere Ironie der | |
Geschichte. | |
Die größere Ironie liegt jedoch in der gegenwärtigen politischen Situation. | |
Mit dem Chanukka-Fest erinnern wir uns an die Geschichte eines kleinen, | |
machtlosen Volkes, das mit religiösem Eifer und großer Tapferkeit einen | |
blutigen Guerillakrieg gegen eine militärisch überlegene Besatzungsmacht | |
und eine korrumpierte Elite führte, um die Kontrolle über den Tempelberg zu | |
behalten. | |
An wen uns die Makkabäer heute erinnern, machten schon vor einigen Jahren | |
die Bewohner_inen des palästinensischen Dorfs Bil’in klar, als sie | |
gemeinsam mit israelischen Linksaktivist_innen das Chanukka-Fest öffentlich | |
feierten und damit gegen den Raub ihrer Olivenhaine durch den Mauerbau und | |
die Siedlung Modi’in protestierten – die nach dem Geburtsort der Makkabäer | |
benannt ist. | |
Tatsächlich gibt es viele Ähnlichkeiten zwischen dem damaligen und dem | |
heutigen Aufstand der Palästinenser, der in deutschen Medien als | |
„Messer-Intifada“ bezeichnet wird. Die israelische Leitkultur, die sich als | |
westlich und aufgeklärt begreift, steht in einem vergleichbaren Verhältnis | |
zum muslimisch geprägten palästinensischen Nationalismus wie die damaligen | |
Hellenisten zu den jüdischen Kämpfern. Und das, obwohl die Makkabäer mit | |
ihrem religiösen Eifer, den Zwangsbeschneidungen und Götzenzerstörungen, | |
aus heutiger Perspektive betrachtet, noch fanatischer wirken als die | |
meisten islamistischen Gruppen im Land. Die zentrale Bedeutung, die der | |
Tempelberg in der Chanukka-Geschichte einnimmt, und die Sorge der | |
Palästinenser um die Al-Aksa-Moschee bilden eine weitere wichtige | |
Parallele. | |
## Jede Besatzung bringt irgendwann einen Aufstand hervor | |
Aufschlussreich ist die Tatsache, dass die hellenistische Repression nicht | |
als Angriff gegen die jüdische Religion gemeint war, aber dennoch ein | |
nationaler Mythos wurde. Dass viele Palästinenser den Schutz des | |
Tempelbergs vor einer angeblichen oder tatsächlichen jüdischen Bedrohung | |
zum Hauptmotiv des jetzigen Aufstands erklären und dabei die miserablen | |
Lebensbedingungen unter der militärischen Besetzung nebensächlich | |
erscheinen lassen, ähnelt der Umdeutung eines Aufstands gegen Steuern in | |
einen Religionskrieg. | |
Wenn wir dieses Jahr wieder die Kerzen in unseren Chanukkias anzünden, | |
lasst uns daran erinnern, dass jegliche Besetzung irgendwann einen Aufstand | |
hervorbringt. Welche Geschichte sich die Unterdrückten darüber erzählen | |
werden, bleibt indessen ihnen überlassen. | |
24 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Yossi Bartal | |
## TAGS | |
Judentum | |
Weihnachten | |
Palästinenser | |
zionismus | |
Antisemitismus | |
Feiertage | |
Schwerpunkt taz Leipzig | |
Judentum | |
Judentum | |
Feiertage | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Diskussion um muslimischen Feiertag: Warum nicht Freitag statt Sonntag? | |
Innenminister de Maizière schlägt einen muslimischen Feiertag vor – aber | |
vor allem theoretisch. Dabei gäbe es einen ganz praktischen Vorschlag. | |
Jüdische Gemeinde in Leipzig: Annäherung beim Chanukka | |
Nach dem Krieg lebten noch 24 Jüdinnen und Juden in Leipzig. Heute sind es | |
1.300. Das Interesse an ihren Bräuchen wächst. | |
New Yorker Ausstellung im Braunschweiger Landesmuseum: Das Verschwundene zurüc… | |
Die Sammlung erzählt von der Entstehung judaistischer Wissenschaft und | |
rekonstruiert die 1938 zerstörten Synagogen. | |
Autor über deutsch-jüdisches Verhältnis: „Auf beiden Seiten herrscht Paran… | |
Yascha Mounk ist in Deutschland aufgewachsen und lebt in den USA. Ein | |
Gespräch über Philosemitismus, „Kontextjuden“ und doppelte Freiheit. | |
Chanukka in Berlin: „Wir brauchen eine neue Erinnerungskultur“ | |
Am Dienstag wird am Brandenburger Tor ein Chanukkaleuchter entzündet. | |
Avitall Gerstetter über das jüdische Weihnachten. | |
Die Wahrheit: Der ewige Israeli | |
Haben Sie vom Nahostkonflikt keine Ahnung, aber eine Meinung zu bieten? | |
Wollen Sie als mutig gelten? Zehn Tipps für einen israelkritischen Text. | |
Streitgespräch Iris Hefets und Stephan Kramer: "Wir müssen aus der Opferecke … | |
Kann Israel jüdisch sein und demokratisch zugleich? Wer spricht für die | |
Juden in Deutschland? Wie weit darf Israelkritik gehen? Iris Hefets und | |
Stephan Kramer im Streitgespräch. |