# taz.de -- Jüdische Gemeinde zu Berlin: Krach in der Diaspora | |
> Querelen, Chaos, Handgreiflichkeiten: Das Verhältnis zu Israel und den | |
> Exil-Israelis spaltet Deutschlands größte jüdische Gemeinde. | |
Bild: Selbst der Chanukka-Leuchter kann den Dauerkonflikt nicht überstrahlen. | |
In der Berliner jüdischen Gemeinde ist der Dibbuk los, und Außenstehenden | |
fällt es schwer, die Auswüchse dieser tiefen Krise zu verstehen. Im Januar | |
wurde in einer – vermeintlich– konstituierenden Sitzung des Gemeinderates | |
der Gemeindevorsitzende Gideon Joffe wieder gewählt. Doch die Wahl wie die | |
Sitzung selbst werden vom oppositionellen Wahlbündnis, „Emet” (Wahrheit), | |
geführt von dem Juristen Sergey Lagodinsky, nicht anerkannt. | |
Seit 2012 dauern die Querelen zwischen „Emet“ und dem Joffe-Bündnis „Koa… | |
(Kraft) an. Die Repräsentantenversammlungen versinken in Chaos und | |
Handgreiflichkeiten. Angekündigt werden die seit Jahrzehnten öffentlichen | |
Sitzungen nur noch kurzfristig und intern. Ein Versuch, die Gemeinde dem | |
Blick der Öffentlichkeit zu entziehen. | |
Dabei waren die Versammlungen einmal die wichtigste Außendarstellung der | |
„Jüdischen Gemeinde zu Berlin“ die unter ihrem altehrwürdigen Namen in der | |
Nachkriegszeit neu gegründet wurde; unter Heinz Galinski, dem langjährigen | |
Gemeindevorsitzenden, wurden sie nachgerade preußisch zelebriert. | |
Verschwunden sind auch die stets sehr gut besuchten Jüdischen Kulturtage, | |
stark gefördert vom Berliner Senat, denn sie sollten ja gerade den | |
Multikulturalismus der Hauptstadt und die harmonischen Beziehungen zwischen | |
Deutschen und Juden darstellen. | |
Die Privilegierung der Jüdischen Gemeinde über die Jahrzehnte beruht auf | |
der unausgesprochenen Erwartung, dass die Gemeinde sich öffentlich sichtbar | |
einbringt. Doch als Aushängeschild Berlins ist sie mittlerweile nahezu | |
verschwunden. | |
Wie konnte es dazu kommen? | |
## Radikaler Wandel innerhalb der Gemeinde | |
Ein Faktor ist die Gründung des Jüdischen Museums, das frühere Funktionen | |
der Gemeinde übernommen hat. Auch die aus Amerika kommende höchst aktive | |
ultraorthodoxe Chabad-Bewegung hat der Gemeinde viel Boden entzogen. Dazu | |
kommt eine stärkere Präsenz jüdischer Studien an den Universitäten. Ebenso | |
wichtig ist paradoxerweise der radikale Wandel innerhalb der Gemeinde | |
infolge der massiven Einwanderung von russischsprachigen Juden. | |
Der wesentlichste Wandel jedoch wurde ausgelöst durch die putschartige | |
Übernahme der Macht seitens Gideon Joffes. Durch Tricks hatte er bereits | |
die Gemeindewahlen im Jahre 2012 gewonnen. Joffe besetzte in der Folge alle | |
wichtigen Positionen in der Gemeinde mit seinen Gefolgsleuten. Dieser | |
Putsch hat nicht nur die demokratischen Strukturen der Gemeinde aufgehoben; | |
er hat auch die Gruppierungen der deutsch-jüdischen und | |
osteuropäisch-jüdischen Gründer nach 1945 an den Rand gedrängt. | |
Die Alteingesessenen hatten es freilich nicht verstanden, die | |
russischsprachigen Einwanderer rechtzeitig in den Gemeindeapparat zu | |
integrieren. Kein leichtes Unterfangen angesichts der starken kulturellen | |
Unterschiede. Joffe sieht sich als Vertreter dieser russischsprachigen | |
Mitglieder, denen er zu Recht und Anerkennung gegen die Alteingesessenen | |
verhelfen will. | |
## Rückzug aus dem politischen Terrain | |
Die führende Schicht der Gemeinden vor der Einwanderungswelle erhielt ihre | |
Formierung in der deutschen Nachkriegszeit. Direkt oder indirekt geprägt | |
von der Schoa und von Israel, ihrem „eigentlichen“ Heimatland, das sie | |
wiederum wegen ihres Aufenthalts im Wirtschaftswunderdeutschland verdammte, | |
leisteten diese führenden Gemeindemitglieder ideologische Arbeit für das | |
„demokratische“ Deutschland im Gegensatz zum „kommunistischen“ Deutschl… | |
im Osten. Die jüdische Gemeinschaft, in Berlin und Westdeutschland, war | |
aufgrund ihrer schieren Präsenz wie auch in den Verlautbarungen ihrer | |
Führung ein zentraler Baustein im Gefüge der bundesrepublikanischen | |
Gesellschaft. Ignatz Bubis in Frankfurt, Charlotte Knobloch in München und | |
Heinz Galinski in Berlin waren dabei in jüngerer Zeit die wichtigsten | |
Akteure. | |
Für die neu eingewanderten, russischsprachigen Juden ist diese | |
Vorgeschichte kaum relevant. Die Älteren sind sowjetisch geprägt, leben | |
eher noch in einer russischen Welt. Bei den Jüngeren, zumindest wenn wir | |
uns ihre AutorInnen ansehen, sind private Themen die Regel; man denke an | |
Wladimir Kaminers Russendisko, wo es schon fast egal ist, in welchem Land | |
und mit welchen Leuten man gerade lebt. Unter den Jüngeren ist nur eine | |
kleinere Gruppe politisch und gesellschaftlich engagiert. Dieser Rückzug | |
aus dem politischen und gesellschaftskritischen Terrain charakterisiert | |
auch den russischsprachigen Joffe und seine Gefolgsleute. | |
Das Jüdische Berlin unter seiner Führung gibt hier gute Auskunft. In Joffes | |
Leitartikeln kommt es allenfalls noch zu knappen, routinierten Sentenzen zu | |
Israel, der Schoa und Terroranschlägen. Worte zu gesellschaftlichen Themen | |
wie der Flüchtlingsfrage fehlen – im Gegensatz zu den pointierten | |
Kommentaren des Zentralratsvorsitzenden Josef Schuster zu | |
gesellschaftspolitischen Themen. Debatten, Buchbesprechungen, Leserbriefe | |
sind zusammen mit der Redakteurin aus dem Jüdischen Berlin verschwunden. | |
Stattdessen werden Events wie Schulfeiern und Chanukka-Partys ausführlich | |
und mit großen Fotos dokumentiert. | |
## Verklärtes Israel | |
Neben Spaßkultur geht es bei Joffe auch um Antisemitismus und Israel. Zum | |
Islamismus stützt er sich auf offizielle Verlautbarungen der Regierenden in | |
Israel und umgeht vorsichtig Netanjahus Aufruf an die europäischen Juden | |
nach der Tragödie in Paris, sie sollten Europa verlassen und nach Israel | |
ziehen. Wie mittlerweile fast überall in der Diaspora, so ist auch in der | |
Berliner Gemeinde Israel der wichtigste Fokus für jüdische diasporische | |
Identität geworden. Diese Israelisierung der Diaspora geht freilich kaum | |
ohne ein verklärtes Israel-Bild, das alle Juden in der Diaspora zu | |
potenziellen oder zukünftigen Israelis macht. | |
Als Namenspatron für das jüdische Gymnasium in Berlin wünschte Joffe sich | |
bezeichnenderweise Theodor Herzl als Begründer des Zionismus, während die | |
Mehrzahl der für das Gymnasium Verantwortlichen Moses Mendelssohn als | |
Namensgeber bevorzugte. Israel wird also verklärt, die palästinensischen | |
Messerstecher sind großes Thema, doch Rassismus auf der israelischen Seite, | |
religiöse Intoleranz und die fanatische Siedlerbewegung werden nicht | |
angesprochen. | |
Hier fällt auf, dass die vielen jungen Israelis als unmittelbare Nachbarn | |
für diese Gemeinde nicht existieren. Mittlerweile werden sie in Berlin auf | |
zwischen 15.000 und 30.000 Personen geschätzt. Sie sind also gegenüber den | |
10.000 Gemeindemitgliedern deutlich in der Mehrzahl. Im Jüdischen Berlin | |
wird auf diese Einwanderer nie auch nur hingewiesen. Das Israelische | |
Festival im vergangenen Oktober wird mit keinem Wort erwähnt, und auch eine | |
Anlaufstelle gibt es für die Israelis in dieser Gemeinde nicht. Wenn Israel | |
eine derart zentrale Rolle in der jüdischen diasporischen Identität spielt, | |
sollte man annehmen, dass Israelis auch vor Ort angenommen würden. | |
Tatsächlich jedoch leben Israelis und Juden in getrennten Welten. | |
## Gegenseitige Ignoranz | |
Ein Grund ist, dass die israelischen Neuankömmlinge zum real existierenden | |
Staat Israel anders stehen als das Gros der Berliner Juden – und der Juden | |
in Deutschland insgesamt zum idealisierten Land. In der Jüdischen | |
Allgemeinen Wochenzeitung wird über Israelis in Berlin berichtet und ihr | |
Auszug aus Israel mit wirtschaftlichen Problemen und den hohen | |
Lebenshaltungskosten erklärt. Kein Wort freilich darüber, dass viele | |
Israelis nach Berlin gekommen sind, um der Malaise in Israel, der Politik | |
Netanjahus und der wachsenden Aggressivität zu entgehen – ohne ihre | |
Identität als Israelis in Frage zu stellen. Zur Israel-Zelebrierung in der | |
Gemeinde passt das nicht. Lieber hält man sich an die mutmaßlichen | |
Erwartungen der israelischen Außenpolitik. | |
Die Berliner Israelis vermeiden ihrerseits den Kontakt zur | |
skandalumwitterten Gemeinde. Israelische Lebenserfahrungen, das israelische | |
historische Gedächtnis, verkörpern ein anderes Verständnis von Tradition | |
und Religion. Im vergangenen Oktober haben Berliner Israelis mit ihrem auf | |
Hebräisch erscheinenden Magazin Spitz ihr eigenes Kulturfestival auf die | |
Beine gestellt – zur großen Freude der Politik. Diaspora-Juden als | |
Aushängeschild für Berlin – schön und gut. Aber Israelis, die die | |
Freizügigkeit, Kreativität und das kulturelle Angebot nach Berlin gebracht | |
hat – eine derartige Anerkennung ausgerechnet aus Israel ist für Berlin von | |
weitaus größerem Wert. So ist es nicht verwunderlich, dass | |
Kulturstaatssekretärin Monika Grütters anlässlich des Festivals das | |
„Zusammenleben von Deutschen und Israelis“ in Berlin als Gewinn für | |
Deutschland lobte und dabei die Jüdische Gemeinde mit keinem Wort erwähnte. | |
Verändern wird sich an dieser Situation wahrscheinlich nichts, es sei denn, | |
es käme zu einem Massenaustritt aus der Gemeinde – vor allem seitens der | |
jüngeren und aus dem alteingesessenen Milieu stammenden Mitglieder. Eine | |
Spaltung, von der bereits lange gesprochen wird. | |
8 Feb 2016 | |
## AUTOREN | |
Michal Bodemann | |
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