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# taz.de -- Jüdische Gemeinde zu Berlin: Sowjetische Verhältnisse
> Warum die Jüdische Gemeinde zu Berlin derzeit so nervt – und was dagegen
> zu tun wäre. Ein Essay zur Neuwahl des Gemeindeparlaments am Sonntag.
Bild: Seltenes Bild: Chanukka-Leuchter am Brandenburger Tor.
Seien wir ehrlich: Die Jüdische Gemeinde in Berlin nervt derzeit. Warum?
Da ist zum einen ein Vorsitzender, der in seinen Amtsjahren fast
systematisch eine Stimmung der Angst und Lethargie in seiner Gemeinde
genährt hat. Viele der etwa 10.000 Gemeindemitglieder nehmen Gideon Joffe
mittlerweile hin wie schlechtes Wetter, als ärgerlich zwar, aber nicht zu
ändern.
Der Versuch eines Abwahlverfahrens gegen ihn wurde vor etwa zwei Jahren
ausgehebelt. So wurden Briefe an die Befürworter des Abwahlverfahrens
geschickt, ob sie dies wirklich wollten, aber nur etwa ein Viertel der
Befragten bestätigte dies. Man hat das in der Gemeinde nicht vergessen, war
aber am Ende machtlos gegen das Machtspiel des Vorsitzenden, vielleicht
auch zu müde, um sich ernsthaft zur Wehr zu setzen.
Des Öfteren hatte man im Gespräch mit Gemeindemitgliedern zuletzt den
Eindruck, Joffe werde wohl wiedergewählt, wie man in Russland Wladimir
Putin wählt: nämlich als der Mensch, der eben die Macht hat und mit dem man
sich besser gut stellt, wenn man etwas von der Gemeinde oder dem
Vorsitzenden will. Das hat etwas trist Sowjetisches – was auch nicht so
überraschend ist, denn angesichts der russischen Herkunft, der sowjetischen
Prägung und des hohen Alters vieler Gemeindemitglieder hat dieses Verhalten
eine gewisse Logik.
## Medien auf Abstand halten
Zum Zweiten nervt die Jüdische Gemeinde zu Berlin derzeit, weil in ihr der
erbitterte (und einmal sogar handgreifliche) Streit seit Jahren so
permanent ist, dass es Journalisten zunehmend schwerfällt, überhaupt noch
mit Wohlwollen und ohne Sarkasmus über sie zu berichten. Das gilt umso
mehr, als der Vorsitzende Joffe nicht selten dazu neigt, erst nach
monatelanger Voranfrage, möglichst aber überhaupt nicht mehr mit
(kritischen) Medien zu sprechen. Was ein Problem ist, denn wie soll daraus
irgendwie ein Medienbeitrag entstehen, der alle Seiten hört?
Viele Sitzungen des zerstrittenen Gemeindeparlaments – der
Repräsentantenversammlung – waren in den vergangenen Jahren so unerträglich
langwierig, unproduktiv und chaotisch, dass ganz normale Gemeindemitglieder
in der Regel immer weniger Interesse zeigten, sie überhaupt noch zu
beobachten, so sie denn nicht Freude an zynischer Situationskomik haben.
Viele Mitglieder traten aus der Gemeinde aus – oder gingen lediglich noch
zu den Gottesdiensten. Ansonsten aber wollten sie nichts mehr mit der
Gemeinde zu tun haben. Stattdessen fanden manche ihre spirituelle Heimat
dann bei ziemlich konservativen, strikten Vereinigungen wie etwa Chabad
Lubawitsch.
Die Jüdische Gemeinde zu Berlin nervt zurzeit zum Dritten, weil sie in den
vergangenen Jahren geistig und geistlich zunehmend verarmt ist. Ein
Beispiel: Der charismatische, humorvolle und intelligente Rabbiner Tovia
Ben-Chorin, ein Glücksfall für die Gemeinde, wäre nach dem Auslaufen seines
Vertrags gern noch ein paar Jahre in der Synagoge an der Pestalozzistraße
geblieben – aber sein unabhängiger, liberaler und origineller Geist war dem
Gemeindevorstand ganz offensichtlich nicht fügsam genug. So umgibt sich der
Vorsitzende immer mehr mit pflegeleichten Jasagern und Opportunisten.
Engagierte und kluge Gemeindemitglieder zeigten in den vergangenen Jahren
keinerlei Lust mehr, ihre Zeit im Kleinkrieg mit den verkrusteten
Strukturen oder mit dem Vorsitzenden zu verplempern. Viele Mitglieder haben
sich in irgendeine Nische zurückgezogen, leben ihr jüdisches Leben nur noch
im Privaten und wollen mit der Gemeinde am liebsten gar nichts mehr zu tun
haben.
Das ist verständlich, für die Gemeinde aber ist es schädlich. So findet
eine leise Abstimmung mit den Füßen statt. Man wendet sich von der Gemeinde
und der Gemeindepolitik ermüdet und manchmal auch angeekelt ab. Dass sich
der noch ziemlich junge, smarte und integre Sergey Lagodinsky nach Jahren
immer noch unermüdlich an Joffe abarbeitet und für die Gemeinde abmüht, ist
ein Wunder an sich.
## Fisch stinkt vom Kopf her
Denn das ist, viertens, das eigentlich Ärgerliche an der Jüdischen Gemeinde
zu Berlin, wie wir sie in diesen Tagen erleben: Streit ist normal, den gibt
es in jedem Kaninchenzüchterverein, und natürlich sind auch die Konflikte
etwa innerhalb der Evangelischen Landeskirche oder innerhalb des hiesigen
katholischen Bistums beträchtlich – erinnert sei zum Beispiel an den Streit
über den geplanten Umbau der St.-Hedwigs-Kathedrale oder die
Neustrukturierung der Kirchengemeinden in der Diözese.
In der Jüdischen Gemeinde zu Berlin aber scheint sich der Streit nach
etlichen Jahren mittlerweile so tief gefressen zu haben, dass kaum noch
eine Grundlage für ein entspanntes, solidarisches und freudiges
Gemeindeleben vorhanden ist. Und, das muss man sagen: Der Fisch stinkt auch
hier vom Kopf her.
Die Erinnerung an den Holocaust, die Solidarität mit Israel und der Kampf
gegen einen zunehmenden Antisemitismus wirken oftmals wie die einzigen
gemeinsamen Nenner, auf die man sich innerhalb der Gemeinde noch notdürftig
einigen kann. Das aber ist für die größte jüdische Gemeinde der
Bundesrepublik, die auch aufgrund ihrer großen Tradition ein Leuchtturm des
jüdischen Lebens in Deutschland sein könnte, zu wenig. Dass es anders geht,
zeigen beispielsweise die Jüdischen Gemeinden in Köln und Frankfurt am
Main, die nur ein wenig kleiner sind und trotzdem nicht dauernd
Negativschlagzeilen produzieren, im Gegenteil.
Was aber wäre zu tun, um aus der Misere wieder herauszukommen? Es gibt
keine einfache Lösung, denn manche Probleme sind über Jahre gewachsen.
Eines aber wäre unbedingt nötig: ein Personalwechsel an der Spitze.
Mit dem erfahrenen und politisch versierten Juristen Lagodinsky stünde eine
Person bereit, der man die Gemeindeleitung bedenkenlos zutrauen würde. Auch
die ineffiziente und mit Joffes Leuten durchsetzte Gemeindeverwaltung
müsste personell und strukturell umgebaut werden – wahrscheinlich würden
dann auch einige Versorgungsposten eingespart. Vor allem aber müsste der
oder die neue Vorsitzende einen Kurs der Versöhnung, der Öffnung und der
Transparenz einläuten, nicht zuletzt, um so vielleicht ein paar Hundert der
über 25.000 meist jungen jüdischen Israelis in Berlin für ein Engagement in
der Gemeinde zu gewinnen. Mit ihrem selbstverständlichen, selbstbewussten
und ziemlich entspannten Judentum wäre ein Aufbruch zumindest vorstellbar.
19 Dec 2015
## AUTOREN
Philipp Gessler
## TAGS
Jüdische Gemeinde
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