| # taz.de -- Trauerfeier in Öjendorf: Ein Leben für die Linke | |
| > Am Donnerstag wurde die Frau mit Hut und Zigarre beerdigt, die bei jeder | |
| > Politveranstaltung war. Viele kannten sie, doch mit ihr befreundet war | |
| > niemand | |
| Bild: Abschied von der Genossin: 50 Menschen kamen zur Beerdigung auf dem Öjen… | |
| Jetzt kann sie sich nicht mehr wehren, so viel ist sicher. Zu Uta Seglers | |
| Lebzeiten wäre es vielleicht schwierig geworden, ihr üppige Sträuße aus | |
| rosa, lila und weißen Blumen zu schenken. Wahrscheinlich hätte sie die Nase | |
| gerümpft und gesagt „Naja, ist ja ganz nett.“ Jetzt liegt sie zu Asche | |
| verbrannt in einer schlichten schwarzen Urne auf dem Öjendorfer Friedhof. | |
| 50 Leute sind gekommen, um Abschied zu nehmen. | |
| Segler ist bereits seit zwei Monaten tot, gestorben an Herzversagen im | |
| Alter von 79 Jahren. Viele kannten die Frau mit Hut und Zigarre, die bei | |
| jeder Demo mitlief, bei Politveranstaltungen in der ersten Reihe saß. Trotz | |
| der zierlichen Figur war ihre Erscheinung auffällig, mit den weiß-grauen | |
| Locken unter dem Hut, mit kräftigen Augenbrauen, Zigarre und Damenbart, und | |
| einem klunkerigen Ring an jedem Finger. | |
| Ein Copy-Shop im Schanzenviertel widmete ihr nach ihrem Tod ein halbes | |
| Schaufenster, das noch immer mit Fotos und Erinnerungen dekoriert ist. Das | |
| linksradikale Internetportal Indymedia veröffentlichte einen kleinen | |
| Nachruf auf die „Antifaschistin und Internationalistin“. Zu einem spontanen | |
| Treffen, um ihre Trauerfeier zu organisieren, kamen 25 Leute. | |
| Das ist die eine Seite. Die andere ist, dass ihre Leiche zwei Wochen lang | |
| in ihrer Wohnung lag, ohne dass jemand etwas bemerkte. Wie geht das | |
| zusammen? | |
| „Ich kannte sie seit über 30 Jahren“, sagt Erika Kaptein. Eine weiße | |
| Friedenstaube ist an ihre Jacke gepinnt, an ihrer Südwester-Mütze heften | |
| drei weitere Buttons. Die 75-Jährige im weißen Wollpullover erinnert sich | |
| noch gut. Bei der Frauenwoche, irgendwann Mitte der Achtziger, hatte sie | |
| einen Stand gegen Krieg und Militarismus an der Hamburger Uni – da | |
| schwirrte auch Uta herum. Sie lernten sich kennen und gingen zusammen auf | |
| Demos. „Anschließend zogen wir noch durch die Gemeinden“, erzählt Kaptein. | |
| Einen trinken, bedeutet das. „Uta konnte gut was vertragen!“, sagt sie. | |
| Aber befreundet seien sie eigentlich nicht gewesen … eher gut bekannt, so | |
| würde sie es ausdrücken. „Mit ihrer schroffen Art hat Uta auch viele | |
| verprellt.“ | |
| Dass Segler häufig anstrengend war, wird schnell klar, wenn man sich mit | |
| Leuten unterhält, die sie kannten. Im Kino neben ihr zu sitzen war nervig, | |
| weil sie alles kommentierte, sagen Genossinnen. „Scheiß Faschisten!“, habe | |
| sie gegrummelt, und noch anderes. Sie kam zu jedem Befreiungsfest, zu jeder | |
| Mahnwache, zum Tag der Frauen, zur monatlichen Filmvorführung der | |
| Vereinigung von Verfolgten des Naziregimes, wo sie Mitglied war. Außerdem | |
| war sie noch im Auschwitz-Komitee, bei Kinder vom Bullenhuser Damm e.V., | |
| engagierte sich bei der Vernetzung von Gewerkschaften, war Feministin, | |
| PKK-Anhängerin. | |
| ## Immer eine Klobürste dabei | |
| „Was ihr wichtig war, zog sie durch“, sagt eine Weggefährtin. Nach den | |
| VVN-Filmabenden seien sie oft noch ein Eis essen gegangen, Segler hatte | |
| immer ihre Klobürste in ihrem Jute-Beutel dabei, „weil später war ja noch | |
| Demo wegen der Gefahrengebiete.“ „Kommst du mit?“, habe sie dann gefragt. | |
| Für eine Kurden-Demo fuhr sie kürzlich nach Paris, was anderen viel zu weit | |
| gewesen wäre – zwölf Stunden hin, sieben Stunden Demo, zwölf Stunden | |
| zurück. Mit anderen fuhr sie zur Solidaritätsreise nach Mexiko, zum | |
| Frauenforum in Venezuela, nahm Teil am Friedensmarsch nach Moskau. | |
| Als die Dame mit der Zigarre und dem Hut im August nicht beim VVN-Filmabend | |
| war, und dann auch nicht zum Friedensfest auf dem Ohlsdorfer Friedhof kam, | |
| fragten sich ihre MitstreiterInnen zum ersten Mal: „Wo ist Uta?“ Auch die | |
| Musikerin Meike Henkensmeier vermisste sie – aber eher im Nachtleben. Dass | |
| Segler für ihr Leben gern tanzte, ist die andere Sache, die schnell klar | |
| wird, wenn man sich mit ihren Bekannten unterhält. | |
| Henkensmeier sah Segler oft auf Jam Sessions im Souledge an der | |
| Sternbrücke, im Brückenstern schräg gegenüber, im Zwick oder der Newessbar | |
| in Altona. Segler mochte Jazz, Funk, Soul. Und sie tanzte. „Für uns | |
| Musikerinnen galt: Wenn Uta tanzt, ist die Musik besonders gut“, sagt die | |
| Sängerin. Eigentlich tanzte Uta immer. Erika Kaptein erklärt das so: Utas | |
| Mutter sei oft mit ihr tanzen gegangen. Der Vater war nicht da – es war ja | |
| Krieg, es gab keine Männer. | |
| ## Liebe zur Musik | |
| Seglers Vater hatte sich zur SA gemeldet und starb vor Leningrad. So zog | |
| die Mutter, die trotzdem tanzen wollte, Uta ein Kleid an und schleppte sie | |
| mit zum Jungfernstieg. Daher die Liebe zur Musik. | |
| Henkensmeier war es, die Segler im Juli in ihrer Wohnung fand. Wenige | |
| Wochen zuvor hatten sie noch gemeinsam Seglers 79. Geburtstag im | |
| Wohlerspark gefeiert. Da hatte Segler die Musikerin, die auch | |
| Krankenschwester ist, zur Seite genommen, um mit ihr darüber zu reden, dass | |
| sie ihre Tabletten nicht nehme. Seit Anfang Juni hatte Segler einen | |
| Herzschrittmacher. Außerdem war sie Asthmatikerin und Kettenraucherin. | |
| Henkensmeier wollte nicht über das Thema reden, sie wollte sich an Utas | |
| Geburtstag nicht streiten. | |
| Als niemand die Tür öffnete, rief Henkensmeier die Polizei, die sie | |
| aufbrach. Niemand hatte einen Schlüssel zu Seglers Wohnung. Die Frau, die | |
| überall war, aber nie in Begleitung kam, lebte allein. An ihrem Grab auf | |
| dem Öjendorfer Friedhof legen 50 Leute, die sie mehr oder weniger gut | |
| kannten, schweigend Blumen nieder. Eine Frau legt behutsam eine selbst | |
| gedrehte Zigarette auf den Strauß. Eine andere hält die ganze Zeremonie | |
| über eine Schleife hoch, „Der Kampf geht weiter“, steht darauf. | |
| Dann singen alle gemeinsam „Bella Ciao“: „Wenn ich sterbe, ihr Genossen, | |
| bringt mich zu der letzten Ruh.“ | |
| 23 Sep 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Katharina Schipkowski | |
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