# taz.de -- 25 Jahre Ende der Sowjetunion: Das ewige Opfer | |
> Putin nennt das Ende der Sowjetunion die „größte geopolitische | |
> Katastrophe des 20. Jahrhunderts“: Am Niedergang sei der Westen schuld. | |
Bild: In Moskau jubelten viele, als am 21. August 1991 bekannt wurde, dass der … | |
BERLIN taz | Der Westen war beunruhigt. Er fürchtete Chaos, sollte das | |
sowjetische Riesenreich auseinanderbrechen. Deshalb reiste der damalige | |
US-Präsident George H. W. Bush Anfang August 1991 in die ukrainische | |
Sowjetrepublik, um die Abgeordneten des dortigen Parlaments zu überreden, | |
für den neuen Unionsvertrag zu stimmen. Noch im August wollte die | |
sowjetische Führung in Moskau ein Abkommen vorlegen, das den Teilrepubliken | |
größere Selbstständigkeit einräumen sollte. | |
Bushs Worte klangen wie eine Beschwörung. Doch schon zwei Wochen später | |
putschen Hardliner der Kommunistischen Partei (KPdSU) gegen den | |
sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow. Der wollte mit dem neuen | |
Vertrag die „Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken“ (UdSSR) retten. | |
Der Coup schlug fehl – aber der Versuch, den Staat zu bewahren, auch. Zudem | |
besiegelten die Putschisten auch das Schicksal der Staatspartei. Damit | |
gehörte die UdSSR faktisch der Vergangenheit an. | |
Eine Republik nach der anderen erklärte sich für unabhängig. Irritierend | |
gleichwohl: Nicht nur lag die eben noch stolze Supermacht am Boden; auch | |
sah sich niemand aus Staat oder Partei noch in der Pflicht, das alte System | |
zu verteidigen. | |
Die Parade der Unabhängigkeitserklärungen machte eins deutlich: Keine | |
Sowjetrepublik wollte die Chance verpassen, sich von der russischen | |
Bevormundung loszusagen. Dabei hatte die KPdSU die Nationalitätenfrage als | |
längst gelöst abgehakt. Offiziell gab es nur noch Sowjetbürger. Die | |
Staatspartei war Opfer der eigenen Ideologie geworden. | |
## Scheiden tat nicht weh | |
Als am 25. Dezember das rote Banner über dem Kreml eingeholt wurde und | |
Gorbatschow den Amtssitz verließ, war er längst ein Herrscher ohne Land. | |
Schon Anfang Dezember hatten die slawischen Republiken Weißrussland, | |
Ukraine und Russland den Vertrag zur Auflösung der Union vereinbart. Am 31. | |
Dezember hörte die Sowjetunion auch als Subjekt des Völkerrechts auf zu | |
existieren. Das russische Parlament stimmte dem mit großer Mehrheit zu – | |
auch jene kommunistischen Abgeordneten, die den früheren Reformkräften | |
heute Verrat vorwerfen. | |
Die russische Teilrepublik war früh auf Distanz zur Union gegangen. Ihre | |
Bürger machten sich aufgrund der grassierenden Wirtschaftskrise vor allem | |
Gedanken darüber, wie sie sich mit dem Notwendigsten versorgen konnten. | |
Jede Republik galt als Kostgänger. Das Motto in jenen Tagen lautete, ein | |
Esser weniger am Tisch. Scheiden tat nicht weh. Als Gorbatschow als | |
sowjetischer Präsident zurücktrat, demonstrierte niemand mehr in Moskau. | |
Das kommunistische System war längst zusammengebrochen. | |
Seine Existenzberechtigung hatte der Sowjetkommunismus eingebüßt, weil er | |
die Bevölkerung nicht mehr versorgen konnte. Im Kaufhaus GUM am Roten Platz | |
suchte Ende 1991 jeder für Neujahr, den wichtigsten Feiertag, nach etwas | |
Verwertbarem – egal, ob er es gebrauchen konnte oder nicht, Alles war | |
Tauschmasse. Das war das Grundgefühl – der Phantomschmerz über das | |
verlorene Imperium setzte erst später ein. | |
Boris Jelzin, damals Präsident der russischen Teilrepublik, hatte noch | |
versucht, die Dominanz Russlands in einem slawischen Teilbündnis | |
fortzuschreiben. Er scheiterte an der strikten Ablehnung der Ukraine. Doch | |
Fakten wie diese gehen in der heutigen Nostalgie für alles Sowjetische | |
unter. Wenn Russlands derzeitiger Präsident Wladimir Putin vom Ende der | |
Sowjetunion als der „größten geopolitischen Katastrophe des 20. | |
Jahrhunderts“ spricht, macht er den Westen für den Niedergang der UdSSR | |
verantwortlich. Noch immer fehlt die Bereitschaft, für eigenes Handeln | |
einzustehen. | |
Diese Haltung ist sowjetisch – ihre Ursprünge aber reichen weiter zurück. | |
Sie liegt in der – auch religiös konnotierten – Opferrolle begründet, die | |
Russland sich schon seit der Zarenzeit zuschreibt. Wer Opfer ist, kann | |
nicht schuldig sein. Ein Opfer hat überdies das Recht, sich aus seiner Lage | |
zu befreien. Was es bei diesem Versuch anrichtet, entzieht sich moralischer | |
Bewertung. | |
Mit dieser Opferrolle begründet Moskau heute seine militärischen Abenteuer. | |
Ob im Krieg gegen Georgien, bei der Annexion der Krim, im Donbass oder in | |
Syrien: Die Wahrheit wird missachtet oder geleugnet. Dahinter steckt die | |
sowjetische Annahme, dass Fakten immer nur verdeckten Zielen dienten. Eine | |
neurotische Weltsicht, die von Unsicherheit und Angst vor Bedrohung geprägt | |
ist. | |
Das Gefühl der Unsicherheit werde als Rechtfertigung genutzt, um | |
militärische und polizeiliche Macht auszubauen, urteilte der US-Diplomat | |
und Russlandkenner George Kennan 1946. Nicht zuletzt ist dies das Vehikel, | |
mit dem der russische Nationalismus seit Jahrhunderten operiert und dabei | |
das Verständnis von Angriff und Verteidigung verwischt. Auch dem begegnen | |
wir heute wieder. | |
Eine Wiedererrichtung der UdSSR als geopolitische Einheit droht zwar nicht. | |
Finanzielle und militärische Mittel fehlen, um das alte Reich wieder an die | |
Kandare zu nehmen. Der Einsatz des altersschwachen Flugzeugträgers „Admiral | |
Kusnezow“ gab eine Kostprobe. Mit „Smoke on the water“ unterhielt er auf | |
dem Weg nach Syrien spöttelnde Kommentatoren. Auch das Projekt der | |
Eurasischen Union – als neoimperiale Neuauflage russischen Reichsstrebens – | |
kommt nicht wirklich voran. | |
Ist Wladimir Putins Alleinherrschaft auch ein Stück sowjetisches Erbe? | |
Russland wird seit je autokratisch regiert. Nach Monarchie und der Diktatur | |
Stalins übernahm ein Generalsekretär die Parteiführung, das Politbüro als | |
kollektive Leitung gewann wieder an Bedeutung. | |
Putin ist unterdessen völlig ungebunden. Der gelernte KGB-Spion und | |
russische Exgeheimdienstchef wird von niemandem kontrolliert und muss auf | |
niemanden hören. Auch ideologisch hat er freie Hand: Er nimmt, was sich ihm | |
bietet, und entpuppt sich als postmoderner Herrscher. Was glänzt und hilft, | |
ist auch willkommen: Sei es sowjetischer Supermachtstatus und Sieg im | |
Zweiten Weltkrieg oder Zarenpracht und Orthodoxie – alles passt unter | |
Putins Hut. | |
Nichtzusammenpassendes miteinander zu verknüpfen hat in Russland eine lange | |
Tradition. Die Sowjetunion setzte dieses Erbe nur fort. Gestern noch | |
schwang sich der kommunistische Staat dazu auf, dem Proletariat weltweit | |
das atheistische Paradies zu verheißen und feierte sich als Speerspitze des | |
universalen Fortschritts. Damals verfolgte Wladimir Putin in Leningrad | |
Dissidenten | |
Heute heißt Leningrad St. Petersburg – und in Moskau fordert das | |
Sowjetgeschöpf Wladimir Putin mit der gleichen Inbrunst, als Hüter des | |
Traditionalismus und der konservativen Werte anerkannt zu werden, die er im | |
Sowjetstaat mit Stumpf und Stiel ausgerottet und verfolgt hatte. Nicht die | |
Botschaft ist ewig, sondern der messianische Anspruch, hinter dem sich aus | |
russischer Sicht qua natura eine Führungsrolle versteckt. | |
Messianismus kann in vielen Gewändern überleben. So zieht Moskau aus dem | |
Selbstentwurf, eine zivilisatorische Vorhut zu stellen, auch den Glauben, | |
immer im Recht zu sein, nicht fehlen zu können. Das war die Verheißung des | |
russischen Kommunismus, der Inhalt der strahlenden Gesichter junger | |
Komsomolzen. Dieses Unfehlbarkeitsdogma will Russland heute zurückerobern | |
Die UdSSR brach nicht zuletzt zusammen, weil sie sich rüstungstechnisch | |
übernommen hatte. Als Mitte der 1980er Jahre der Ölpreis sank, ließ sich | |
die Krise nicht mehr aufhalten. Hauptgrund für den Kollaps war die | |
Abhängigkeit vom Devisenbringer Öl. Auch das leugnet Russland hartnäckig. | |
Ernste Debatten über die anhaltende Rohstoffabhängigkeit des Landes finden | |
weiterhin nicht statt – obwohl Russland heute vor dem gleichen Problem | |
steht wie damals die Sowjetunion. | |
Auch wissenschaftliche Expertise wird nicht herangezogen. Wäre Moskau | |
lernbereit, würde es sich von alten Gepflogenheiten trennen: keine Fakten | |
mehr zu leugnen und auch die Suche nach äußeren Feinden einzustellen. | |
Stattdessen aber hüllt Russland die Welt weiter in Mythen und übertüncht | |
die dramatische Historie von Blut und Brüchen mit erfundenen | |
Erfolgsgeschichten. | |
Dazu gehört auch die Nostalgie für die Sowjetunion, die das Land erfasst | |
hat. 56 Prozent bedauern in einer Umfrage des unabhängigen Lewada-Instituts | |
heute das Ende der UdSSR. Bevor Wladimir Putin 2012 erneut ins Amt kam, war | |
der Wert schon mal unter 50 Prozent gefallen. | |
Russland wehrt sich gegen Einsichten. Das macht das Land zu einem | |
schwierigen und in der Tat unverstandenen Gesprächspartner. Die Aufklärung | |
über Russland muss daher in unseren Gesellschaften beginnen. | |
28 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Klaus-Helge Donath | |
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