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# taz.de -- Sprachenstreit in der Ukraine: Bretter, die Heimat bedeuten
> In der Stadt Chmelnyzkyj gibt es zwei Theatermacher. Der eine spielt auf
> Ukrainisch, der andere auf Russisch. Das ist derzeit hochpolitisch.
Bild: Graffiti in Kiew
Chmelnyzkyj taz | Zugfahrt Dnipro – Chmelnyzkyj. Der Schaffner verteilt
Tee. Anstatt der klimpernden Löffel gibt es in ukrainischen Zügen
neuerdings Teestäbchen aus Pappe. Teebeutel und Rührlöffel in einem. Die
Fahrgäste unterhalten sich leise. Ein 14-jähriger Junge sitzt am Fenster
und holt einen Schatz nach dem anderen aus seinem Rucksack. Eine Packung
Militär-Fertigessen, Hülsen und zersplitterte Munitionsreste. Maxym
erzählt, dass er die Ferien bei seinem Vater an der Front im Donbass
verbracht habe. Er durfte sogar auf dem Übungsplatz aus einer Kalaschnikow
schießen und sei mit dem Vater im Panzerwagen mitgefahren.
Manchmal stockt er. Maxym will nach der Schule auf eine Militär-Akademie
gehen, um so, wie sein Vater, die Ukraine zu verteidigen. Die Mitreisenden
hören aufmerksam zu, wollen wissen, wie es den Soldaten an der Front geht.
Mühelos wechselt Maxym aus dem Ukrainischen ins Russische und umgekehrt, je
nachdem, wie er angesprochen wird. Chmelnyzkyj, Endstation.
800 Kilometer sind es von hier bis zur Frontlinie. Sehr weit weg. Hier
merkt man vom Krieg im Osten so gut wie nichts. Der Namensgeber der Stadt,
der Kosakenanführer Bohdan Chmelnyzkyj, thront in Siegerpose auf einem
überdimensionalen Pferd direkt am Zentralplatz und ist doch durch
Baumkronen verdeckt.
Als ob sich die Städter nicht sicher wären, ob sie ihn als Gründer des
ersten ukrainischen Kosakenstaates vor 300 Jahren rühmen oder wegen des
späteren Anschlusses an das Zarenreich Russland verdammen sollten. 1954
erhielt die Stadt seinen Namen, aus dem Anlass des 300. Jubiläums des
Vertrages von Perejaslaw, eines Treueeides, den die Saporoger Kosaken auf
den russischen Zaren Alexej I. ablegten.
## Verbot des Ukrainischen
1876 wurde Ukrainisch von der zaristischen Zensurbehörde aus Angst vor
Separatismus verboten, bis 1906 durfte es öffentlich weder gesprochen noch
geschrieben werden. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde Taras Schewtschenko,
der bedeutendste ukrainische Dichter, für seine Texte verbannt. 1985 – also
bereits unter Gorbatschow – starb ein anderer Dichter – Wassyl Stus – nach
23 Jahren Haft in einem Straflager. Sein Vergehen war – sich für Ukrainisch
und eine unabhängige Ukraine einzusetzen.
Zu Sowjetzeiten war Russisch als Staats-, Prestige- und transnationale
Sprache in der Ukraine allgegenwärtig. In der Sowjetukraine, wie auch im
benachbarten Weißrussland, wo die Landessprachen dem Russischen ähnlich
sind, hatte das – zumindest in den Städten – eine nahezu totale
Russifizierung der Bevölkerung zur Folge. Vor der ukrainischen
Unabhängigkeitserklärung, also vor 25 Jahren, waren nur drei von dreißig
Chmelnyzkyer Schulen ukrainisch-, der Rest war russischsprachig. Heute ist
es genau umgekehrt. Was – und vor allem in welcher Sprache – sagen die
Bewohner zu dieser Wende?
Saisoneröffnung im ukrainischsprachigen Monotheater „Kut“ (zu Deutsch: das
Eck) mitten in der City. Es ist das einzige stationäre Monotheater in der
Ukraine. Das heißt: ein Ein-Mann-Theaterbetrieb mit eigenem Gebäude dazu.
Davon gibt es nur fünf oder sechs in ganz Europa. Sagt zumindest sein
Erfinder, Direktor und Darsteller in einer Person Volodymyr Smotritel.
Dreizehn Stücke hätte der 60-Jährige in petto, mehr als jedes andere
Monotheater der Welt. Zu seinem internationalen Monotheaterfestival reisen
Performer aus der ganzen Welt an.
„Gedichte sind für Ehefrauen bestimmt, Lieder aber sind für alle da!“, sa…
Smotritel und stimmt auf der Gitarre eine selbst vertonte Ballade an. Er
sitzt auf der hell beleuchteten Bühne im überfüllten Saal. Sein
zehnjähriger Sohn, der gerade zum Auftakt das Theaterglöckchen geschwenkt
hat, trägt eine Wyschywanka, ein traditionell besticktes Hemd.
## Sponsor gesucht
Die Gedichte stammen aus der Feder Pawlo Hirnyks, eines bekannten Dichters.
Präsentiert wird eine CD, die es vielleicht gar nicht geben wird, es sei
denn es fände sich ein Sponsor im Saal, sagt Smotritel und lächelt das
Publikum an. Der Verfasser der Verse nimmt das als Einladung auf. Er erhebt
sich von seinem Stuhl in der ersten Reihe und lässt sich von eifrigen
Helfern auf die Bühne hieven.
“Ein Labsal ist dieses Theater hier, ein Ort, wo man gemeinsam schweigen
kann, denn Quaselstrippen gibt es bei uns noch und nöcher“. Gekicher im
Saal. Im Übrigen entschuldige er sich, weil er nicht ganz nüchtern sei. Er
käme gerade von einer Beerdigung zurück. Das Publikum singt mit, lacht,
applaudiert. Es gibt viele Blumen zum Schluss. Der größte Strauß besteht
aus in den Nationalfarben gehaltenen gelben und blauen Chrysanthemen.
Die Zuschauer verlassen das Theater in Grüppchen und gesellen sich zu den
festlich gekleideten Menschen, die durch die Fußgängerzone flanieren. Es
ist ein lauer Abend. “Diese „Ecke“, dieses Theater hier, ist das geistige
Zentrum für uns“, sagt Maria, eine Endfünfzigerin und die Vorsitzende des
regionalen ukrainischen Schriftstellerverbandes.
Maria, sagt sie, verfasse ihre Gedichte auf Russisch und Ukrainisch.
Neulich habe sie sogar einen Lyrik-Preis aus Russland bekommen. Sie könne
nicht erklären, wann ihr und warum nach der einen oder anderen Sprache
zumute sei. Sie habe, wie viele andere in der Stadt, eine russische Schule
absolviert und ausschließlich Russisch gesprochen.
## Aus dem Inneren
Bis 2004 die Orange Revolution ausbrach. Da strömte es aus ihr hervor, das
Ukrainische. Irgendwo tief im Inneren hätten sich die Wörter und Sätze von
allein geformt. Woher genau sie gekommen seien? Vielleicht vom
Ukrainisch-Unterricht in der Schule oder vom legendären „Did (Opa) Panas“
aus der ukrainischen Sandmännchen-Sendung oder aber von den regelmäßigen
Dorfbesuchen bei der Oma. Jedenfalls entdeckte sie die Schönheit der
ukrainischen Sprache und eigene Wurzeln.
Jetzt wolle sie eines ihrer Gedichte vortragen, sagt Maria und legt auf der
Stelle los: “Der prächtige Boulevard hier ist ein Ballsaal, wo die
Kastanienbäume Walzer tanzen…“ Ein paar Passanten bleiben neben ihr stehen
und hören zu.
Ein junger Mann hält einen Zettel und ein Handy in der Hand. Er bittet eine
Frau, ihm eine Nummer einzutippen. Diese versteht nicht gleich, was er
meint. Dann zeigt ihr der Mann seine Hände mit gekrümmten Fingern. Sie
sehen wie Krallen aus. “Verzeih, Schwester! Ich komme von der Scheiß-Front.
Und die Finger machen nicht mehr mit“. Die Hand der Frau zittert, als sie
die Nummer eintippt.
Der Kiosk um die Ecke bietet Dutzende Publikation für jeden Geschmack und
jedes Alter. Die Frage, was die Leute mehr lesen würden, Russisch oder
Ukrainisch, macht die Verkäuferin stutzig. Mit jeder weiteren verkauften
Zeitung wird sie gesprächiger. Fifty-fifty, schätze sie. Wobei es bei den
Abos anders aussehe. Da würden die meisten regionale ukrainische Zeitungen
beziehen. Das wisse sie von einer befreundeten Postangestellten.
## Hebräisch zu neuem Leben erweckt
„Meine andere Freundin lebt in Israel“, erzählt sie. „Das muss man sich …
vorstellen. Innerhalb kürzester Zeit haben die Israelis ihre praktisch tote
Sprache – Hebräisch – zum Leben erweckt.“ Dort würden angeblich auch vi…
ihre Freundin übrigens inbegriffen, wollen, dass Russisch zur Staatssprache
erklärt werde. Das Beispiel zeige, dass man eine fast verdrängte Sprache
wiederbeleben kann.
Sie selbst sei gegen Russisch als zweite Staatssprache. Sonst könne sie
ihre ukrainischen Zeitungen bald abbestellen. Die Verkäuferin bringt es
fertig innerhalb eines Satzes zweimal die Sprache zu wechseln – aus dem
Ukrainischen ins Russische und wieder zurück. Ob sie Dzerkalo tyshdnja, den
ukrainischen Spiegel habe? Nein, so etwas führe sie hier nicht, weder auf
Russisch noch auf Ukrainisch, zu intellektuell. Aber eine Straße weiter sei
die Jugendbibliothek, dort würde man vielleicht fündig werden.
Die 40-jährige Bibliothekarin Tetyana Bojko sitzt am Einlass. Über ihrem
Kopf hängt an der Wand eine gelb-blaue Armee-Fahne mit vielen
Unterschriften darauf. „Ein Dankeschön von den Jungs von der Front für
unsere Spenden“, sagt sie. Ukrainisch sei zwar ihre Muttersprache, nach
eigenem Empfinden beherrsche sie es aber nicht perfekt, manchmal ertappe
sie sich dabei, aus dem Russischen zu übersetzen.
Sie sei traurig, wenn sie auf der Straße Surschyk, eine Mischform aus
Russisch und Ukrainisch, höre. Das würden vor allem die älteren und wenig
gebildeten Menschen sprechen. Bei ihren Kindern sei das nicht mehr der
Fall. Sie sprächen ein schönes sauberes Ukrainisch.
## Puschkin auf Ukrainisch
Ob es in der Bibliothek Alexander Puschkin auf Ukrainisch im Angebot gäbe?
Klar, aber „Puschkin auf Ukrainisch, das muss nicht sein!“ sagt sie.
Puschkin solle man im Lehrplan auf Russisch belassen, das würde doch in der
Ukraine jedermann verstehen. Die heutigen Schüler dürfen sich selber
aussuchen, ob sie Puschkin im Original oder in der ukrainischen Übersetzung
im Unterricht lesen.
Die allerwenigsten würden sich für Russisch entscheiden, die Sprache sei
den meisten nicht mehr geläufig. Schade, denn im Original sei es immer
schöner. „Eigentlich sollten auch die Russen unseren Nationaldichter Taras
Schewtschenko auf Ukrainisch lesen. Wenn wir Russisch verstehen, dann
müsste es doch auch umgekehrt möglich sein!“
Tetyana zeigt einen riesigen Saal mit Parkett und Flügel. Hier fänden die
besten Literaturabende von Chmelnyzkyj statt. „Rufen Sie doch Sergej
Nikolajewitsch Trojanowskij an. Wenn Sie sich für Puschkin interessieren,
ist er Ihr Mann!“
Sergej Nikolajewitsch hat sein eigenes – russischsprachiges – Monotheater.
Auf dem Stadtplan sucht man nach seiner „Stimme“, so heißt das Theater,
jedoch vergeblich. Wo fühlen Sie sich zu Hause, Sergej Nikolajewitsch?
## In Beelitz geboren
„Na in Deutschland, wo denn sonst?“ Sergej Nikolajewitsch sitzt in der neu
eröffneten Filiale der Nobelkette “Lemberger Schokoladenwerkstatt“ und
lacht. „Im Ernst, ich bin in Beelitz bei Cottbus zur Welt gekommen, mein
Vater war in Deutschland beim Militär“. Er zeigt ein vergilbtes Foto, 1954,
sein Vater hält ihn auf dem Arm, im Hintergrund der kaputte Reichstag. Der
Vater stammte aus der Ukraine, die Mutter war eine Russin aus Litauen.
Nach Chmelnyzkyj hat es ihn als Jugendlichen verschlagen. Sein Monotheater
ist die russische “Stimme“ der ukrainischen Stadt Chmelnyzkyj. Vor zehn
Jahren hat Sergej Nikolajewitsch für den lokalen TV-Sender einen Film mit
dem Titel „Das russische Proskurow“ – so hieß die Stadt bis 1954 –
produziert. Der Film hat ihm viel Lob, aber auch schiefe Blicke
eingebracht. Aber er könne doch nichts dafür, dass das Russische die Stadt
genauso geprägt habe, wie das Polnische oder das Jüdische. Heute sei
Russisch zum Politikum verkommen. Leider!
„Früher glühte mein Telefon. Jede Schule wollte mich zu jeder Feier holen.
Es war überwältigend, den Kindern wahre Poesie vorzutragen!“ Das letzte Mal
habe man ihn 2014 eingeladen. Dann kam der Krieg und sein Telefon
verstummte.
Nach der Unabhängigkeitserklärung 1991 hätte es eine kurze Zeit der
Euphorie gegeben, als viele Russischsprachige in der Ukraine bereit waren,
Ukrainisch zu lernen. „Die Machhthabenden haben alles versaut. Sie wollten
alles und sofort. Wenn du auf der Stelle nicht Ukrainisch sprichst, bist du
ein Schweinehund!“
## Offizielle Staatspolitik
Aus Protest hätten die Menschen dann Russisch gesprochen. Nach der Orange
Revolution hätte die Ablehnung alles Russischen an Schärfe zugenommen. Er
fühle sich in diesem Land als ein potenzieller Feind, nur weil er Träger
der russischen Kultur sei. Offen würde das zwar niemand sagen. Das sei aber
die offizielle Staatspolitik.
„Als ich anfing, Ukrainisch zu lernen, begann mein Kiefer zu schmerzen. Die
Zungenstellung ist ganz anders. Du musst ständig die Härte und die
Weichheit der Konsonanten kontrollieren“. PAL-JA-NY-TSJA – Sergej
Nikolajewitsch demonstriert das Gesagte an der „unaussprechlichen
ukrainischen Vokabel“ für Brot, auf Russich HLEB. „Heute kann ich es
richtig, zu meiner Studienzeit haben sich die Kommilitonen über meine
Aussprache tot gelacht“. Er lächelt.
Und plötzlich fängt er an, Ukrainisch zu sprechen. Gehobenes, literarisches
Ukrainisch. 1999 – das wisse er noch ganz genau – habe man ihn gebeten, die
Gedichte eines lokalen Dichters, der gerade mit 48 Jahren verstorben sei,
bei einem Literaturabend zu lesen.
„Unter „lokalem Dichter“ vermutete ich Mittelmaß. Ich las und traute mei…
Augen nicht. Seine Poesie hat mich ins Mark getroffen. Ich sagte mir, jetzt
wirst du überall hin fahren und diese Gedichte vortragen. Auf Ukrainisch.
So fing es an. Im westlichen Kolomyja, dem Geburtsort des Dichters las ich.
Ich wurde als Vorsitzender der russischen Bewegung vorgestellt. Etwas
Finsteres blitzte in den Augen der Zuhörer auf. Da erhob sich einer – ich
dachte schon, meine letzte Stunde habe geschlagen – und sagte mit bewegter
Stimme: Unser tiefer Dank gilt diesem Russen, der uns unseren Dichter
zurückgebracht hat! Seitdem spreche ich Ukrainisch“.
## Andere Autoren entdeckt
Ein junger Mann begrüßt Sergej Nikolajewitsch und nimmt am Tisch neben ihm
Platz. Pawel ist ein Ex-Schüler. Er will ihn später zu einer Vernissage
abholen. Sergej Nikolajewitsch soll dort eine Laudatio halten. “Nach und
nach habe ich auch andere ukrainische Autoren für mich entdeckt“.
Ukrainisch sei ein Universum, wie Russisch auch. Aber eigentlich spiele es
keine Rolle, welche Sprache man spreche. Man müsse sie nur perfekt
beherrschen. „Wenn ich aber diesen fürchterlichen Surschyk auf der Straße
höre, wird es mir übel…“
„Lassen Sie Sergej Nikolajewitsch bloß nicht über Surschhyk reden, sonst
sitzen wir hier auch morgen noch“, wirft Pawel ein. Dazu falle ihm übrigens
ein schöner Witz ein. Wer ist jemand, der nur eine Sprache spricht? Ein
Moskauer. Und wer drei Sprachen spricht? Richtig, ein Ukrainer! Und zwar,
Ukrainisch, Russisch und Surschyk“.
Beide brechen in Gelächter aus. „Und wenn Sie meine Meinung hören wollen“,
setzt Pawel fort. Seine Muttersprache sei Russisch. Früher habe er wie
Sergej Nikolajewitsch, für Russisch als zweite Staatssprache eine Lanze
gebrochen.
## Sprache des Feindes
„Jetzt ist aber Krieg. Russisch ist zur Sprache des Feindes geworden, wie
schlimm das auch klingen mag“. Das sei die Realität. „Ich spreche jetzt
bewusst Ukrainisch, um Flagge zu zeigen“. Vor dem Krieg hätte sich Pawel
darüber keine Gedanken gemacht. Jetzt nähme er Ukrainisch als Symbol der
Ukraine wahr, wie die ukrainische Fahne oder die Hymne. „Und wenn du die
Ukraine unterstützt, dann unterstützt du alles, was sie symbolisiert“.
Tatsache sei, dass Russisch in der Ukraine seinen dominierenden Status, den
es zu Sowjetzeiten innehatte, verloren habe. Jetzt sei die russische
Sprache hierzulande eine Fremdsprache, so wie auch Englisch oder Deutsch.
Aber keiner hindere einen daran, diese Sprachen perfekt zu beherrschen.
Man solle sich übrigens an Georgien ein Beispiel nehmen. Nach der
russischen Invasion 2008 habe man dort Russisch aus der Schule entfernt und
durch Englisch ersetzt. Jetzt würden die Jugendlichen perfekt Englisch
können und seien für russische Propaganda nicht mehr anfällig.
Zugegeben, es komme manchmal zu Exzessen, zu einer totalen Ablehnung alles
Russischen, seien es Filme oder Waren „made in Russia“. Russland verkörpere
die Idee eines Imperiums, die Idee der Sowjetunion. Genau das sei es, wovon
man sich in der Ukraine abgrenzen wolle.
## Keine Wunder
Wenn der Krieg zu Ende sei, werde sich alles wieder einpegeln. In Pawels
Familie werde auch heute noch Russisch gesprochen. „Wir lesen den Kindern
nach wie vor Puschkins Märchen vor. So wie wir ukrainische Märchen auf
Ukrainisch lesen. Oder englische auf Englisch.“
Sergej Nikolajewitsch steht auf. „Wunder gibt es nicht, am allerwenigsten,
wenn es um Spracherwerb geht. Es ist ein langer und schmerzhafter Prozess“.
Es ist nicht ganz klar, wem er diese Worte mit auf den Weg geben will.
Volodymyr Smotritel sitzt in seinem winzigen Theaterbüro. Er sieht
geschafft, aber glücklich aus. Das Telefon klingelt, es schauen Leute
herein. Smotritel ist ein gefragter Mann. Sein Theater bedeute für ihn vor
allem Sprache. Sein Werkzeug. „Ich bin nicht gegen Russisch. Jede Sprache
ist eine Bereicherung“.
Bei ihm würden gelegentlich auch russischsprachige Autoren auftreten. Aber
Ukrainisch sei nun einmal die Muttersprache der Ukrainer, sie sei ihnen von
Natur gegeben. Russisch als zweite Staatssprache in der Ukraine zu
etablieren, was sich manch einer wünschen würde, wäre seiner Meinung nach
fatal. Das würde instrumentalisiert werden und Konflikte schaffen.
## Auf der Bühne tabu
Eines der prägendsten Erlebnisse sei für Smotritel ein Auftritt bei einem
Theaterfestival im russischen Perm 1989 gewesen. „Ich hörte, wie ein echter
Russe Jesenin vortrug. Damals schwor ich mir, dass für mich Russisch auf
der Bühne tabu bleibt, denn niemals würde ich es schaffen, so auf Russisch
zu lesen! Da würde die Seele singen. Niemals werde ich ein Russe sein!“
Volodymyr will noch schnell von seiner Schwester erzählen, die nach dem
Hochschulabschluss 1985 eine Stelle in Riga zugewiesen bekam. Die Schwester
habe sich fürchterlich aufgeregt, dass man sie in Lettland gezwungen hätte,
Lettisch zu lernen.
„Ich sagte ihr, richtig so, die lettische Nation steht am Abgrund! Du bist
ein Nationalist, schrie sie mich an. Fünf Jahre lang haben wir kein Wort
miteinander geredet. Dann kam sie und bat um Entschuldigung. Wie richtig
ich doch damals gelegen habe. Jetzt spricht sie Lettisch, hat Karriere
gemacht und Freunde gefunden“.
Dann entschuldigt sich Smotritel. Er müsse nach Hause, er sei heute gar
nicht richtig zum Essen gekommen.
An der Bus-Haltestelle steht eine alte gepflegte Frau mit einem weißen
Kopftuch. Sie zeigt eine Wickelpuppe im Trachtenhemd, die sie für ihre
Enkelin gekauft hat. Ihre Augen strahlen. „Ich habe lange mit mir gerungen,
bevor ich heute aus meinem Dorf herkam“, sagt sie. Ihr Ukrainisch klingt
wie ein Klagelied. Wie könne man nur so ausgelassen sein, wenn die
ukrainischen Söhne im Osten stürben? „Aber ich bin dennoch glücklich, dass
ich hergekommen bin. Das Leben geht weiter“.
29 Dec 2016
## AUTOREN
Irina Serdyuk
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