# taz.de -- Sprachenstreit in der Ukraine: Bretter, die Heimat bedeuten | |
> In der Stadt Chmelnyzkyj gibt es zwei Theatermacher. Der eine spielt auf | |
> Ukrainisch, der andere auf Russisch. Das ist derzeit hochpolitisch. | |
Bild: Graffiti in Kiew | |
CHMELNYZKYJ taz | Zugfahrt Dnipro – Chmelnyzkyj. Der Schaffner verteilt | |
Tee. Anstatt der klimpernden Löffel gibt es in ukrainischen Zügen | |
neuerdings Teestäbchen aus Pappe. Teebeutel und Rührlöffel in einem. Die | |
Fahrgäste unterhalten sich leise. Ein 14-jähriger Junge sitzt am Fenster | |
und holt einen Schatz nach dem anderen aus seinem Rucksack. Eine Packung | |
Militär-Fertigessen, Hülsen und zersplitterte Munitionsreste. Maxym | |
erzählt, dass er die Ferien bei seinem Vater an der Front im Donbass | |
verbracht habe. Er durfte sogar auf dem Übungsplatz aus einer Kalaschnikow | |
schießen und sei mit dem Vater im Panzerwagen mitgefahren. | |
Manchmal stockt er. Maxym will nach der Schule auf eine Militär-Akademie | |
gehen, um so, wie sein Vater, die Ukraine zu verteidigen. Die Mitreisenden | |
hören aufmerksam zu, wollen wissen, wie es den Soldaten an der Front geht. | |
Mühelos wechselt Maxym aus dem Ukrainischen ins Russische und umgekehrt, je | |
nachdem, wie er angesprochen wird. Chmelnyzkyj, Endstation. | |
800 Kilometer sind es von hier bis zur Frontlinie. Sehr weit weg. Hier | |
merkt man vom Krieg im Osten so gut wie nichts. Der Namensgeber der Stadt, | |
der Kosakenanführer Bohdan Chmelnyzkyj, thront in Siegerpose auf einem | |
überdimensionalen Pferd direkt am Zentralplatz und ist doch durch | |
Baumkronen verdeckt. | |
Als ob sich die Städter nicht sicher wären, ob sie ihn als Gründer des | |
ersten ukrainischen Kosakenstaates vor 300 Jahren rühmen oder wegen des | |
späteren Anschlusses an das Zarenreich Russland verdammen sollten. 1954 | |
erhielt die Stadt seinen Namen, aus dem Anlass des 300. Jubiläums des | |
Vertrages von Perejaslaw, eines Treueeides, den die Saporoger Kosaken auf | |
den russischen Zaren Alexej I. ablegten. | |
## Verbot des Ukrainischen | |
1876 wurde Ukrainisch von der zaristischen Zensurbehörde aus Angst vor | |
Separatismus verboten, bis 1906 durfte es öffentlich weder gesprochen noch | |
geschrieben werden. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde Taras Schewtschenko, | |
der bedeutendste ukrainische Dichter, für seine Texte verbannt. 1985 – also | |
bereits unter Gorbatschow – starb ein anderer Dichter – Wassyl Stus – nach | |
23 Jahren Haft in einem Straflager. Sein Vergehen war – sich für Ukrainisch | |
und eine unabhängige Ukraine einzusetzen. | |
Zu Sowjetzeiten war Russisch als Staats-, Prestige- und transnationale | |
Sprache in der Ukraine allgegenwärtig. In der Sowjetukraine, wie auch im | |
benachbarten Weißrussland, wo die Landessprachen dem Russischen ähnlich | |
sind, hatte das – zumindest in den Städten – eine nahezu totale | |
Russifizierung der Bevölkerung zur Folge. Vor der ukrainischen | |
Unabhängigkeitserklärung, also vor 25 Jahren, waren nur drei von dreißig | |
Chmelnyzkyer Schulen ukrainisch-, der Rest war russischsprachig. Heute ist | |
es genau umgekehrt. Was – und vor allem in welcher Sprache – sagen die | |
Bewohner zu dieser Wende? | |
Saisoneröffnung im ukrainischsprachigen Monotheater „Kut“ (zu Deutsch: das | |
Eck) mitten in der City. Es ist das einzige stationäre Monotheater in der | |
Ukraine. Das heißt: ein Ein-Mann-Theaterbetrieb mit eigenem Gebäude dazu. | |
Davon gibt es nur fünf oder sechs in ganz Europa. Sagt zumindest sein | |
Erfinder, Direktor und Darsteller in einer Person Volodymyr Smotritel. | |
Dreizehn Stücke hätte der 60-Jährige in petto, mehr als jedes andere | |
Monotheater der Welt. Zu seinem internationalen Monotheaterfestival reisen | |
Performer aus der ganzen Welt an. | |
„Gedichte sind für Ehefrauen bestimmt, Lieder aber sind für alle da!“, sa… | |
Smotritel und stimmt auf der Gitarre eine selbst vertonte Ballade an. Er | |
sitzt auf der hell beleuchteten Bühne im überfüllten Saal. Sein | |
zehnjähriger Sohn, der gerade zum Auftakt das Theaterglöckchen geschwenkt | |
hat, trägt eine Wyschywanka, ein traditionell besticktes Hemd. | |
## Sponsor gesucht | |
Die Gedichte stammen aus der Feder Pawlo Hirnyks, eines bekannten Dichters. | |
Präsentiert wird eine CD, die es vielleicht gar nicht geben wird, es sei | |
denn es fände sich ein Sponsor im Saal, sagt Smotritel und lächelt das | |
Publikum an. Der Verfasser der Verse nimmt das als Einladung auf. Er erhebt | |
sich von seinem Stuhl in der ersten Reihe und lässt sich von eifrigen | |
Helfern auf die Bühne hieven. | |
“Ein Labsal ist dieses Theater hier, ein Ort, wo man gemeinsam schweigen | |
kann, denn Quaselstrippen gibt es bei uns noch und nöcher“. Gekicher im | |
Saal. Im Übrigen entschuldige er sich, weil er nicht ganz nüchtern sei. Er | |
käme gerade von einer Beerdigung zurück. Das Publikum singt mit, lacht, | |
applaudiert. Es gibt viele Blumen zum Schluss. Der größte Strauß besteht | |
aus in den Nationalfarben gehaltenen gelben und blauen Chrysanthemen. | |
Die Zuschauer verlassen das Theater in Grüppchen und gesellen sich zu den | |
festlich gekleideten Menschen, die durch die Fußgängerzone flanieren. Es | |
ist ein lauer Abend. “Diese „Ecke“, dieses Theater hier, ist das geistige | |
Zentrum für uns“, sagt Maria, eine Endfünfzigerin und die Vorsitzende des | |
regionalen ukrainischen Schriftstellerverbandes. | |
Maria, sagt sie, verfasse ihre Gedichte auf Russisch und Ukrainisch. | |
Neulich habe sie sogar einen Lyrik-Preis aus Russland bekommen. Sie könne | |
nicht erklären, wann ihr und warum nach der einen oder anderen Sprache | |
zumute sei. Sie habe, wie viele andere in der Stadt, eine russische Schule | |
absolviert und ausschließlich Russisch gesprochen. | |
## Aus dem Inneren | |
Bis 2004 die Orange Revolution ausbrach. Da strömte es aus ihr hervor, das | |
Ukrainische. Irgendwo tief im Inneren hätten sich die Wörter und Sätze von | |
allein geformt. Woher genau sie gekommen seien? Vielleicht vom | |
Ukrainisch-Unterricht in der Schule oder vom legendären „Did (Opa) Panas“ | |
aus der ukrainischen Sandmännchen-Sendung oder aber von den regelmäßigen | |
Dorfbesuchen bei der Oma. Jedenfalls entdeckte sie die Schönheit der | |
ukrainischen Sprache und eigene Wurzeln. | |
Jetzt wolle sie eines ihrer Gedichte vortragen, sagt Maria und legt auf der | |
Stelle los: “Der prächtige Boulevard hier ist ein Ballsaal, wo die | |
Kastanienbäume Walzer tanzen…“ Ein paar Passanten bleiben neben ihr stehen | |
und hören zu. | |
Ein junger Mann hält einen Zettel und ein Handy in der Hand. Er bittet eine | |
Frau, ihm eine Nummer einzutippen. Diese versteht nicht gleich, was er | |
meint. Dann zeigt ihr der Mann seine Hände mit gekrümmten Fingern. Sie | |
sehen wie Krallen aus. “Verzeih, Schwester! Ich komme von der Scheiß-Front. | |
Und die Finger machen nicht mehr mit“. Die Hand der Frau zittert, als sie | |
die Nummer eintippt. | |
Der Kiosk um die Ecke bietet Dutzende Publikation für jeden Geschmack und | |
jedes Alter. Die Frage, was die Leute mehr lesen würden, Russisch oder | |
Ukrainisch, macht die Verkäuferin stutzig. Mit jeder weiteren verkauften | |
Zeitung wird sie gesprächiger. Fifty-fifty, schätze sie. Wobei es bei den | |
Abos anders aussehe. Da würden die meisten regionale ukrainische Zeitungen | |
beziehen. Das wisse sie von einer befreundeten Postangestellten. | |
## Hebräisch zu neuem Leben erweckt | |
„Meine andere Freundin lebt in Israel“, erzählt sie. „Das muss man sich … | |
vorstellen. Innerhalb kürzester Zeit haben die Israelis ihre praktisch tote | |
Sprache – Hebräisch – zum Leben erweckt.“ Dort würden angeblich auch vi… | |
ihre Freundin übrigens inbegriffen, wollen, dass Russisch zur Staatssprache | |
erklärt werde. Das Beispiel zeige, dass man eine fast verdrängte Sprache | |
wiederbeleben kann. | |
Sie selbst sei gegen Russisch als zweite Staatssprache. Sonst könne sie | |
ihre ukrainischen Zeitungen bald abbestellen. Die Verkäuferin bringt es | |
fertig innerhalb eines Satzes zweimal die Sprache zu wechseln – aus dem | |
Ukrainischen ins Russische und wieder zurück. Ob sie Dzerkalo tyshdnja, den | |
ukrainischen Spiegel habe? Nein, so etwas führe sie hier nicht, weder auf | |
Russisch noch auf Ukrainisch, zu intellektuell. Aber eine Straße weiter sei | |
die Jugendbibliothek, dort würde man vielleicht fündig werden. | |
Die 40-jährige Bibliothekarin Tetyana Bojko sitzt am Einlass. Über ihrem | |
Kopf hängt an der Wand eine gelb-blaue Armee-Fahne mit vielen | |
Unterschriften darauf. „Ein Dankeschön von den Jungs von der Front für | |
unsere Spenden“, sagt sie. Ukrainisch sei zwar ihre Muttersprache, nach | |
eigenem Empfinden beherrsche sie es aber nicht perfekt, manchmal ertappe | |
sie sich dabei, aus dem Russischen zu übersetzen. | |
Sie sei traurig, wenn sie auf der Straße Surschyk, eine Mischform aus | |
Russisch und Ukrainisch, höre. Das würden vor allem die älteren und wenig | |
gebildeten Menschen sprechen. Bei ihren Kindern sei das nicht mehr der | |
Fall. Sie sprächen ein schönes sauberes Ukrainisch. | |
## Puschkin auf Ukrainisch | |
Ob es in der Bibliothek Alexander Puschkin auf Ukrainisch im Angebot gäbe? | |
Klar, aber „Puschkin auf Ukrainisch, das muss nicht sein!“ sagt sie. | |
Puschkin solle man im Lehrplan auf Russisch belassen, das würde doch in der | |
Ukraine jedermann verstehen. Die heutigen Schüler dürfen sich selber | |
aussuchen, ob sie Puschkin im Original oder in der ukrainischen Übersetzung | |
im Unterricht lesen. | |
Die allerwenigsten würden sich für Russisch entscheiden, die Sprache sei | |
den meisten nicht mehr geläufig. Schade, denn im Original sei es immer | |
schöner. „Eigentlich sollten auch die Russen unseren Nationaldichter Taras | |
Schewtschenko auf Ukrainisch lesen. Wenn wir Russisch verstehen, dann | |
müsste es doch auch umgekehrt möglich sein!“ | |
Tetyana zeigt einen riesigen Saal mit Parkett und Flügel. Hier fänden die | |
besten Literaturabende von Chmelnyzkyj statt. „Rufen Sie doch Sergej | |
Nikolajewitsch Trojanowskij an. Wenn Sie sich für Puschkin interessieren, | |
ist er Ihr Mann!“ | |
Sergej Nikolajewitsch hat sein eigenes – russischsprachiges – Monotheater. | |
Auf dem Stadtplan sucht man nach seiner „Stimme“, so heißt das Theater, | |
jedoch vergeblich. Wo fühlen Sie sich zu Hause, Sergej Nikolajewitsch? | |
## In Beelitz geboren | |
„Na in Deutschland, wo denn sonst?“ Sergej Nikolajewitsch sitzt in der neu | |
eröffneten Filiale der Nobelkette “Lemberger Schokoladenwerkstatt“ und | |
lacht. „Im Ernst, ich bin in Beelitz bei Cottbus zur Welt gekommen, mein | |
Vater war in Deutschland beim Militär“. Er zeigt ein vergilbtes Foto, 1954, | |
sein Vater hält ihn auf dem Arm, im Hintergrund der kaputte Reichstag. Der | |
Vater stammte aus der Ukraine, die Mutter war eine Russin aus Litauen. | |
Nach Chmelnyzkyj hat es ihn als Jugendlichen verschlagen. Sein Monotheater | |
ist die russische “Stimme“ der ukrainischen Stadt Chmelnyzkyj. Vor zehn | |
Jahren hat Sergej Nikolajewitsch für den lokalen TV-Sender einen Film mit | |
dem Titel „Das russische Proskurow“ – so hieß die Stadt bis 1954 – | |
produziert. Der Film hat ihm viel Lob, aber auch schiefe Blicke | |
eingebracht. Aber er könne doch nichts dafür, dass das Russische die Stadt | |
genauso geprägt habe, wie das Polnische oder das Jüdische. Heute sei | |
Russisch zum Politikum verkommen. Leider! | |
„Früher glühte mein Telefon. Jede Schule wollte mich zu jeder Feier holen. | |
Es war überwältigend, den Kindern wahre Poesie vorzutragen!“ Das letzte Mal | |
habe man ihn 2014 eingeladen. Dann kam der Krieg und sein Telefon | |
verstummte. | |
Nach der Unabhängigkeitserklärung 1991 hätte es eine kurze Zeit der | |
Euphorie gegeben, als viele Russischsprachige in der Ukraine bereit waren, | |
Ukrainisch zu lernen. „Die Machhthabenden haben alles versaut. Sie wollten | |
alles und sofort. Wenn du auf der Stelle nicht Ukrainisch sprichst, bist du | |
ein Schweinehund!“ | |
## Offizielle Staatspolitik | |
Aus Protest hätten die Menschen dann Russisch gesprochen. Nach der Orange | |
Revolution hätte die Ablehnung alles Russischen an Schärfe zugenommen. Er | |
fühle sich in diesem Land als ein potenzieller Feind, nur weil er Träger | |
der russischen Kultur sei. Offen würde das zwar niemand sagen. Das sei aber | |
die offizielle Staatspolitik. | |
„Als ich anfing, Ukrainisch zu lernen, begann mein Kiefer zu schmerzen. Die | |
Zungenstellung ist ganz anders. Du musst ständig die Härte und die | |
Weichheit der Konsonanten kontrollieren“. PAL-JA-NY-TSJA – Sergej | |
Nikolajewitsch demonstriert das Gesagte an der „unaussprechlichen | |
ukrainischen Vokabel“ für Brot, auf Russich HLEB. „Heute kann ich es | |
richtig, zu meiner Studienzeit haben sich die Kommilitonen über meine | |
Aussprache tot gelacht“. Er lächelt. | |
Und plötzlich fängt er an, Ukrainisch zu sprechen. Gehobenes, literarisches | |
Ukrainisch. 1999 – das wisse er noch ganz genau – habe man ihn gebeten, die | |
Gedichte eines lokalen Dichters, der gerade mit 48 Jahren verstorben sei, | |
bei einem Literaturabend zu lesen. | |
„Unter „lokalem Dichter“ vermutete ich Mittelmaß. Ich las und traute mei… | |
Augen nicht. Seine Poesie hat mich ins Mark getroffen. Ich sagte mir, jetzt | |
wirst du überall hin fahren und diese Gedichte vortragen. Auf Ukrainisch. | |
So fing es an. Im westlichen Kolomyja, dem Geburtsort des Dichters las ich. | |
Ich wurde als Vorsitzender der russischen Bewegung vorgestellt. Etwas | |
Finsteres blitzte in den Augen der Zuhörer auf. Da erhob sich einer – ich | |
dachte schon, meine letzte Stunde habe geschlagen – und sagte mit bewegter | |
Stimme: Unser tiefer Dank gilt diesem Russen, der uns unseren Dichter | |
zurückgebracht hat! Seitdem spreche ich Ukrainisch“. | |
## Andere Autoren entdeckt | |
Ein junger Mann begrüßt Sergej Nikolajewitsch und nimmt am Tisch neben ihm | |
Platz. Pawel ist ein Ex-Schüler. Er will ihn später zu einer Vernissage | |
abholen. Sergej Nikolajewitsch soll dort eine Laudatio halten. “Nach und | |
nach habe ich auch andere ukrainische Autoren für mich entdeckt“. | |
Ukrainisch sei ein Universum, wie Russisch auch. Aber eigentlich spiele es | |
keine Rolle, welche Sprache man spreche. Man müsse sie nur perfekt | |
beherrschen. „Wenn ich aber diesen fürchterlichen Surschyk auf der Straße | |
höre, wird es mir übel…“ | |
„Lassen Sie Sergej Nikolajewitsch bloß nicht über Surschhyk reden, sonst | |
sitzen wir hier auch morgen noch“, wirft Pawel ein. Dazu falle ihm übrigens | |
ein schöner Witz ein. Wer ist jemand, der nur eine Sprache spricht? Ein | |
Moskauer. Und wer drei Sprachen spricht? Richtig, ein Ukrainer! Und zwar, | |
Ukrainisch, Russisch und Surschyk“. | |
Beide brechen in Gelächter aus. „Und wenn Sie meine Meinung hören wollen“, | |
setzt Pawel fort. Seine Muttersprache sei Russisch. Früher habe er wie | |
Sergej Nikolajewitsch, für Russisch als zweite Staatssprache eine Lanze | |
gebrochen. | |
## Sprache des Feindes | |
„Jetzt ist aber Krieg. Russisch ist zur Sprache des Feindes geworden, wie | |
schlimm das auch klingen mag“. Das sei die Realität. „Ich spreche jetzt | |
bewusst Ukrainisch, um Flagge zu zeigen“. Vor dem Krieg hätte sich Pawel | |
darüber keine Gedanken gemacht. Jetzt nähme er Ukrainisch als Symbol der | |
Ukraine wahr, wie die ukrainische Fahne oder die Hymne. „Und wenn du die | |
Ukraine unterstützt, dann unterstützt du alles, was sie symbolisiert“. | |
Tatsache sei, dass Russisch in der Ukraine seinen dominierenden Status, den | |
es zu Sowjetzeiten innehatte, verloren habe. Jetzt sei die russische | |
Sprache hierzulande eine Fremdsprache, so wie auch Englisch oder Deutsch. | |
Aber keiner hindere einen daran, diese Sprachen perfekt zu beherrschen. | |
Man solle sich übrigens an Georgien ein Beispiel nehmen. Nach der | |
russischen Invasion 2008 habe man dort Russisch aus der Schule entfernt und | |
durch Englisch ersetzt. Jetzt würden die Jugendlichen perfekt Englisch | |
können und seien für russische Propaganda nicht mehr anfällig. | |
Zugegeben, es komme manchmal zu Exzessen, zu einer totalen Ablehnung alles | |
Russischen, seien es Filme oder Waren „made in Russia“. Russland verkörpere | |
die Idee eines Imperiums, die Idee der Sowjetunion. Genau das sei es, wovon | |
man sich in der Ukraine abgrenzen wolle. | |
## Keine Wunder | |
Wenn der Krieg zu Ende sei, werde sich alles wieder einpegeln. In Pawels | |
Familie werde auch heute noch Russisch gesprochen. „Wir lesen den Kindern | |
nach wie vor Puschkins Märchen vor. So wie wir ukrainische Märchen auf | |
Ukrainisch lesen. Oder englische auf Englisch.“ | |
Sergej Nikolajewitsch steht auf. „Wunder gibt es nicht, am allerwenigsten, | |
wenn es um Spracherwerb geht. Es ist ein langer und schmerzhafter Prozess“. | |
Es ist nicht ganz klar, wem er diese Worte mit auf den Weg geben will. | |
Volodymyr Smotritel sitzt in seinem winzigen Theaterbüro. Er sieht | |
geschafft, aber glücklich aus. Das Telefon klingelt, es schauen Leute | |
herein. Smotritel ist ein gefragter Mann. Sein Theater bedeute für ihn vor | |
allem Sprache. Sein Werkzeug. „Ich bin nicht gegen Russisch. Jede Sprache | |
ist eine Bereicherung“. | |
Bei ihm würden gelegentlich auch russischsprachige Autoren auftreten. Aber | |
Ukrainisch sei nun einmal die Muttersprache der Ukrainer, sie sei ihnen von | |
Natur gegeben. Russisch als zweite Staatssprache in der Ukraine zu | |
etablieren, was sich manch einer wünschen würde, wäre seiner Meinung nach | |
fatal. Das würde instrumentalisiert werden und Konflikte schaffen. | |
## Auf der Bühne tabu | |
Eines der prägendsten Erlebnisse sei für Smotritel ein Auftritt bei einem | |
Theaterfestival im russischen Perm 1989 gewesen. „Ich hörte, wie ein echter | |
Russe Jesenin vortrug. Damals schwor ich mir, dass für mich Russisch auf | |
der Bühne tabu bleibt, denn niemals würde ich es schaffen, so auf Russisch | |
zu lesen! Da würde die Seele singen. Niemals werde ich ein Russe sein!“ | |
Volodymyr will noch schnell von seiner Schwester erzählen, die nach dem | |
Hochschulabschluss 1985 eine Stelle in Riga zugewiesen bekam. Die Schwester | |
habe sich fürchterlich aufgeregt, dass man sie in Lettland gezwungen hätte, | |
Lettisch zu lernen. | |
„Ich sagte ihr, richtig so, die lettische Nation steht am Abgrund! Du bist | |
ein Nationalist, schrie sie mich an. Fünf Jahre lang haben wir kein Wort | |
miteinander geredet. Dann kam sie und bat um Entschuldigung. Wie richtig | |
ich doch damals gelegen habe. Jetzt spricht sie Lettisch, hat Karriere | |
gemacht und Freunde gefunden“. | |
Dann entschuldigt sich Smotritel. Er müsse nach Hause, er sei heute gar | |
nicht richtig zum Essen gekommen. | |
An der Bus-Haltestelle steht eine alte gepflegte Frau mit einem weißen | |
Kopftuch. Sie zeigt eine Wickelpuppe im Trachtenhemd, die sie für ihre | |
Enkelin gekauft hat. Ihre Augen strahlen. „Ich habe lange mit mir gerungen, | |
bevor ich heute aus meinem Dorf herkam“, sagt sie. Ihr Ukrainisch klingt | |
wie ein Klagelied. Wie könne man nur so ausgelassen sein, wenn die | |
ukrainischen Söhne im Osten stürben? „Aber ich bin dennoch glücklich, dass | |
ich hergekommen bin. Das Leben geht weiter“. | |
29 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Irina Serdyuk | |
## TAGS | |
Ukraine-Krise | |
Russland | |
Donbass | |
Ukraine | |
Ukraine | |
Ukraine | |
Russland | |
taz на русском языке | |
Schwerpunkt Eurovision Song Contest | |
Proteste in der Ukraine | |
Ukraine | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Ukraine schottet sich von Russland ab: Kontakt auf Minimum beschränken | |
Laut Berichten will die Ukraine den Zugverkehr nach Russland kappen. | |
Dementis sind halbherzig. Direktflüge gibt es schon seit 2015 nicht mehr. | |
Kämpfe in der Ost-Ukraine: Gewalt trotz Waffenruhe | |
Drei ukrainische Soldaten und ein prorussischer Rebellenkämpfer wurden in | |
Awdiiwka getötet. Das Gefecht war eines der tödlichsten seit Wochen. | |
Orthodoxes Weihnachten in Deutschland: Wohlgefühl, Lust und ewiges Leben | |
Am 6. Januar kommt das Christkind. Die orthodoxen Christen feiern | |
Weihnachten bis tief in den Januar hinein. Unsere Autorin ist mittendrin. | |
25 Jahre Ende der Sowjetunion: Das ewige Opfer | |
Putin nennt das Ende der Sowjetunion die „größte geopolitische Katastrophe | |
des 20. Jahrhunderts“: Am Niedergang sei der Westen schuld. | |
Frontberichterstattung in der Ukraine: Ich bin eine Landesverräterin | |
Ukrainische Journalisten stecken in der Klemme. Wie berichten Medienmacher | |
von einer Front, die das eigene Land entzweit? | |
Streit um den Eurovision Song Contest: Schillernde Befindlichkeiten | |
Russland und die Ukraine streiten, ob der Wettbewerb in Kiew stattfinden | |
kann. Die Ukraine könnte russischen Teilnehmern die Einreise verweigern. | |
Maidan-Jahrestag in der Ukraine: Gedenken schlägt in Gewalt um | |
Weniger Menschen als erwartet kommen, um den dritten Jahrestag der Revolte | |
zu feiern – und sind enttäuscht. Rechtsradikale dominieren das Bild. | |
Proteste in der Ukraine: Die Wut der geprellten Sparer | |
Tausende Rentner demonstrieren am Dienstag im Zentrum von Kiew gegen | |
Korruption. Viele werden für ihren Einsatz bezahlt. |