| # taz.de -- Orthodoxes Weihnachten in Deutschland: Wohlgefühl, Lust und ewiges… | |
| > Am 6. Januar kommt das Christkind. Die orthodoxen Christen feiern | |
| > Weihnachten bis tief in den Januar hinein. Unsere Autorin ist mittendrin. | |
| Bild: Ein Selfie im vorweihnachtlichen Stadtzentrum von Kiew: das orthodoxe Chr… | |
| Eines Tages wird der russische Feldmarschall Suworow an den Hof von | |
| Katharina der Großen zum Essen eingeladen. Als diese merkt, dass er keine | |
| der Speisen anfasst, will sie den Grund wissen. Suworow schweigt. „Er ist | |
| ja unser großer Fastenprediger“, antwortet da Fürst Potjomkin. „Heute ist | |
| Heiligabend, vor dem ersten Stern wird er nichts zu sich nehmen.“ Darauf | |
| flüstert die Monarchin einem Diener etwas ins Ohr. Eine Minute später | |
| bringt dieser ein Etui herein. Katharina nimmt den Sankt-Andreas-Stern mit | |
| Brillanten heraus und überreicht ihn Suworow mit folgenden Worten: „Jetzt | |
| werden Sie aber die Tafel mit uns teilen können!“ | |
| Wie die Audienz ausklang, ist nicht überliefert. Eines steht aber fest. Das | |
| muss sich um den 6. Januar zugetragen haben, den Tag, an welchem die | |
| Orthodoxen nach julianischem Kalender den Heiligabend begehen. Auch hier in | |
| Deutschland. Vor allem in Berlin! | |
| Weihnachten ist eine der wenigen Begebenheiten, wo der | |
| Migrationshintergrund in Deutschland von klarem Vorteil ist. Ich weiß | |
| nicht, wie es andere orthodoxe Ukrainer, Armenier, Russen, Serben oder | |
| Georgier handhaben, ich persönlich stürme ab dem 27. Dezember die | |
| Restpostenregale der teuersten Läden der Stadt auf der Suche nach erlesenen | |
| Weihnachtspralinés und Baumkugeln zum halben Preis. Wenn ihr | |
| Mehrheits-Christen hier schon ganz durch seid mit dem Feiern, fangen wir | |
| Orthodoxe erst an. Meist sogar mit weißem Segen von oben. Alles passt. | |
| Und nichts wird ausgelassen. Selbst die hiesigen Adventskalender lassen | |
| sich mit etwas Geschick verorthodoxen. Soll heißen: Wenn meine Kinder am | |
| 24. Dezember die letzten Türchen der handelsüblichen Adventskalender | |
| aufreißen, fallen sie nicht ins schwarze Loch. Ab morgen wartet ein neuer, | |
| von Mama liebevoll umgeschriebener, Kalender auf sie, diesmal mit dem | |
| ultimativen Das-Christkind-kommt-Höhepunkt am 6. Januar. Selbst die | |
| Berliner Stadtreinigung hat sich längst auf das orthodoxe Weihnachten | |
| eingestellt. Der letzte Abholtermin für verbrauchte Tannen fällt in die | |
| zweite Januarhälfte, denn die Nacht auf den 14. Januar ist für viele | |
| Orthodoxen ein weiterer Anlass, auf das „Alte Neue Jahr“ anzustoßen. Noch | |
| mal Silvester. Mit allem Drum und Dran, versteht sich. | |
| ## Erfolg und Unsterblichkeit | |
| Keiner feiert so gern und ausgiebig wie wir Ukrainer. Das ukrainische Wort | |
| für „Fest“ heißt „swjato“ und bedeutet „heilig“. Ist es uns auch.… | |
| orientierte Jugendliche, katholische Gläubige sowieso, fangen in der | |
| Ukraine schon am 25. Dezember zu feiern an. Um den Jahreswechsel herum wird | |
| das Feiern bereits zum harten Job. In diesem speziellen Fall decken sich | |
| ausnahmsweise die Interessen der jeweiligen ukrainischen Regierung und der | |
| hart feiernden Bevölkerung, so dass ab dem 1. Januar einfach eine Woche | |
| totaler Neujahrs- und Weihnachtsurlaub angehängt wird. Wenn die Ukrainer | |
| schon etwas tun, dann mit Verve. Mittelmaß ist nichts für uns. | |
| Das gilt auch fürs Fasten: Wenn schon, dann richtig. Vor Weihnachten sechs | |
| Wochen lang. Also seit Ende November. Streng genommen ist es ein Verzicht | |
| auf sämtliche tierische Erzeugnisse, wie Fleisch, Butter und Eier. | |
| Fastenprediger wie einst Suworow gibt es zwar nicht mehr viele. Aber nicht | |
| wenige versuchen zumindest auf Fleisch zu verzichten. Silvester allerdings | |
| wird eine Auszeit genommen. Das konnte ich nie kapieren. Fastenzeit und | |
| dann an Silvester Sekt in Strömen, Fleischverzicht und dann | |
| Kochschinkensalat. | |
| „Die Nacht vor Weihnachten“ heißt die wohl berühmteste Erzählung von | |
| Nikolaj Gogol. Darin lässt er seine legendären, fetttriefenden, frei | |
| schwebenden Maultaschen erst in den sündigen Schmand plumpsen und dann | |
| direkt ins Maul des Teufels in menschlicher Gestalt. So kurz vor | |
| Weihnachten Fett zu verzehren konnte nichts anderes heißen, als „den | |
| Menschen beigebrachten Kniffen des Bösen“ zu verfallen. Gogol ist mir | |
| unendlich nah. Auch er war Ukrainer, schrieb auf Russisch und hatte ein | |
| Faible für menschliche Versuchungen jeglicher Art. Böse Zungen behaupten, | |
| er sei an den Folgen des Fastens gestorben. Quatsch, ein gesunder Geist ist | |
| gegen so etwas immun. Jedenfalls konnte Gogol wie kein anderer ermessen, | |
| was es für einen Ukrainer bedeutete, ein paar Wochen auf das Allerheiligste | |
| zu verzichten, seinen Salo, den Speck. | |
| Die Liebe der Ukrainer zum Speck ist sagenhaft. Daran hat sich bis jetzt | |
| nichts geändert. Wie übrigens auch nicht an der Tatsache, dass Fleisch- und | |
| Wurstgerichte den Eckpfeiler der ukrainischen Küche bilden. Wurst ist | |
| Inbegriff des Wohlstands schlechthin. „Der beste Fisch heißt Wurst“, weiß | |
| der ukrainische Volksmund. Sprache kann so viel verraten. Das Pflanzenöl | |
| heißt im Ukrainischen verächtlich „pistne maslo“, also „Fastenöl“, d… | |
| mit ihm zu Fastenzeiten statt der Butter vorliebnahm. | |
| Die ukrainische Weihnachtstafel besteht aus zwölf obligatorischen | |
| Fastengerichten. Den zwölf Aposteln zu Ehren? Oder wegen der zwölf Monate? | |
| Egal, an so einem Abend, einem heiligen, ist alles bedeutungsvoll, | |
| zuallererst die Kutja, eine Süßspeise, mit der man das Mahl unbedingt | |
| anfängt. Die Zutaten – Weizen, Mohn, Honig, Nüsse und Rosinen – stehen f�… | |
| Hoffnung auf Unsterblichkeit, Erfolg, Gesundheit und Glück. Alles eben. Und | |
| die elf Gerichte, die danach kommen, steigern Wohlgefühl und Lust und | |
| ewiges Leben ins Unermessliche – von marinierten Pfifferlingen über | |
| gefüllte Piroggen bis zur Hechtsülze. Rote Beete, Kartoffeln, Möhren – was | |
| sonst für gähnende Langeweile sorgt, ist plötzlich kulinarische Raffinesse, | |
| mit Pfiff, wie verzaubert. Und was auf keinen Fall fehlen darf: Knoblauch. | |
| Gut gegen Erkältungen und böse Geister – die vielen Zehen der Knolle | |
| symbolisieren den zwischenmenschlichen Zusammenhalt. | |
| An der festlichen Tafel nehmen übrigens in der Regel nicht nur Verwandte | |
| aus mehreren Generationen teil, sondern auch oft die Verstorbenen, denen | |
| man ebenso ein Glas hinstellt. | |
| Der erste Stern wird langsam alt. Die Fastengerichte machen Hunger auf | |
| mehr. Die Standhaftesten ziehen in die Kirche. Für sie ist die nächtliche | |
| orthodoxe Weihnachtsliturgie, die bis zu den frühen Morgenstunden dauert, | |
| der absolute Höhepunkt. Für meine Mama zum Beispiel. Mein Höhepunkt folgt | |
| erst auf ihren. Wenn sie klapprig, aber beseelt – früh um sechs – nach | |
| Hause zurückkehrt, tische ich ihr die traditionelle Hühnersuppe auf, auf | |
| die sie seit Wochen verzichtet hat. Wenn ich ihr dann in die Augen schaue, | |
| habe ich das Gefühl, der wahrhaftigen Geburt Jesu beizuwohnen. | |
| ## Gesundheit und Glück | |
| Ab jetzt freuen sich alle nur noch. Die Zeit der Swjatki, der „heiligen | |
| Zeit“, der Weihnachtsfeiertage also, der echten, nicht der, wo man fasten | |
| muss, beginnt. Traditionell wird sie für Wahrsagungen, für Prophezeiungen | |
| und gegenseitige Besuche genutzt. Junge und kräftige Männer gelten als | |
| Glücksbringer und sind als erste Gäste im Neuen Jahr besonders gefragt. Die | |
| Kinder ereifern sich im Singen von Koljadki und Schtschedryki. Das sind | |
| Weihnachtslieder, mit denen man von Haus zu Haus zieht und den Bewohnern | |
| Glück, Gesundheit und Wohlstand wünscht. Kein noch so kleiner Gast geht | |
| dabei leer aus. Man hält speziell für diese Besuche schüsselweise Pralinen, | |
| Kekse, Schokolade und Kleingeld parat. | |
| Überhaupt: ukrainische Weihnachtslieder! Unverwechselbar schön, | |
| majestätisch und herzergreifend zugleich ertönen sie an diesen Tagen unter | |
| allen Kuppeln zwischen Kiew und Moskau. Und zwischen New York und Toronto. | |
| Jawohl. | |
| Eine der berühmtesten Weihnachtsmelodien weltweit, das amerikanische „Carol | |
| of the Bells“, geht auf eine Bearbeitung des alten ukrainischen | |
| Schtschedryk-Liedes von Mykola Leontowytsch zurück, uraufgeführt 1916 in | |
| Kiew. Ukraine ist überall. | |
| So, jetzt muss ich Schluss machen. Da wär noch einiges zu tun. | |
| 6 Jan 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Irina Serdyuk | |
| ## TAGS | |
| Ukraine | |
| orthodox | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| Genuss | |
| Schwerpunkt Krieg in der Ukraine | |
| Ukraine-Krise | |
| Ukraine | |
| taz на русском языке | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Lettische Piroggen: In einem Nest aus Mehl | |
| Die Großmutter hatte das Rezept einst auf der Flucht mitgebracht. Mit 28 | |
| lernt unser Autor nun von seiner Mutter, wie man sie backt – mit Liebe. | |
| Stadtleben an der ukrainischen Frontlinie: Donezk – so nah und doch so fern | |
| Awdijiwka liegt an der Front zum Gebiet der Separatisten. Donezk ist fünf | |
| Kilometer entfernt, doch dorthin braucht man jetzt 24 Stunden. | |
| Sprachenstreit in der Ukraine: Bretter, die Heimat bedeuten | |
| In der Stadt Chmelnyzkyj gibt es zwei Theatermacher. Der eine spielt auf | |
| Ukrainisch, der andere auf Russisch. Das ist derzeit hochpolitisch. | |
| Lage in der Ukraine: Kriegsmüdigkeit auf beiden Seiten | |
| Im Donbass wird noch gekämpft. Aber selbst die radikale Politikerin | |
| Sawtschenko spricht jetzt mit den „Volksrepubliken“. | |
| Frontberichterstattung in der Ukraine: Ich bin eine Landesverräterin | |
| Ukrainische Journalisten stecken in der Klemme. Wie berichten Medienmacher | |
| von einer Front, die das eigene Land entzweit? |