# taz.de -- Frontberichterstattung in der Ukraine: Ich bin eine Landesverräter… | |
> Ukrainische Journalisten stecken in der Klemme. Wie berichten | |
> Medienmacher von einer Front, die das eigene Land entzweit? | |
Bild: 1,7 Millionen Binnenflüchtlinge gibt es in der Ukraine. Über sie soll l… | |
In meinem Land ist Krieg. Darf ich trotzdem die Regierung kritisieren? In | |
meinem Land ist Krieg, aber ich weiß, dass ukrainische Sicherheitsdienste | |
Gefangene foltern. Ist es angebracht, darüber zu berichten? In meinem Land | |
ist Krieg, die korrupte Elite hört aber nicht auf, sich schamlos aus dem | |
Budget zu bedienen. Kann ich jetzt darüber schreiben? | |
Diese Fragen stellen sich mir und vielen anderen ukrainischen Journalisten. | |
Die russische Aggression gegen die Ukraine hat das Bewusstsein von vielen | |
verändert, Journalisten sind da keine Ausnahme. | |
Die Krim-Annexion und der Krieg im Donbass haben eine hitzige Debatte über | |
die Rolle und die Aufgaben von Journalisten ausgelöst. Es gibt keinen | |
Konsens darüber, was eigentlich passiert. Geht es um einen territorialen | |
Konflikt, um eine ukrainisch-russische militärische Auseinandersetzung, | |
oder ist die Ukraine nur ein Schlachtfeld im Krieg zwischen Russland und | |
dem Westen? Es gibt keine Einigkeit darüber, wie die Menschen bezeichnet | |
werden sollen, die der ukrainischen Armee gegenüberstehen. Sind das | |
russische Soldaten, lokale Separatisten, Terroristen oder Söldner? Die eine | |
Antwort existiert nicht. | |
Worüber man sich jedoch einig zu sein scheint, ist die Tatsache, dass die | |
Ukraine ausschließlich patriotische Journalisten braucht. Keine Profis, die | |
objektiv schreiben, sondern Sprachrohre der Heroisierung von allem, was | |
ukrainisch ist und den Feind dämonisiert. „Man darf doch jetzt nicht die | |
Armee und die Gesellschaft entmutigen!“ – diese Reaktion bekomme ich oft, | |
wenn ich mich als Journalistin kritisch äußere. | |
## Die Gesellschaft erwartet Heldengeschichten | |
Die Machthabenden geben den Ton an, und die Gesellschaft erwartet lauter | |
Heldengeschichten. Sicherlich gibt es diese Helden. Aber das ist nur eine | |
Seite der Medaille. Die andere will keiner sehen, die Probleme werden | |
schlicht verschwiegen. | |
Plünderungen, Raubüberfälle, eindeutige Gesetzesverstöße: so etwas gibt es | |
auch auf der ukrainischen Seite. Meistens werden diese Verbrechen | |
vertuscht. Die vom Krieg ermüdete Gesellschaft sucht nach einer | |
Rechtfertigung, indem sie den Gegner verteufelt. Die Berichterstattung der | |
ukrainischen Medien über die annektierte Krim und den Donbass besteht im | |
Wesentlichen aus mehr oder weniger subjektiven Publikationen, die die | |
Menschen in den okkupierten Gebieten dämonisieren. Die Gründe dafür liegen | |
auf der Hand. Der wichtigste ist, dass ukrainische Journalisten keinen | |
Zugang zu diesen Territorien haben. Außerdem ist der Status dieser Menschen | |
nicht geklärt. Sind das ukrainische Bürger oder Feinde und Kollaborateure? | |
Das wird so lange offenbleiben, bis wirklich Waffenruhe herrscht und der | |
Status der besetzten Gebiete geklärt ist. | |
Der jüngste Skandal um die Website „Friedensstifter“ liefert einen guten | |
Beleg für die Polarisierung innerhalb der ukrainischen Gesellschaft. Nach | |
offizieller Lesart haben ukrainische Computerfreaks ein Portal der | |
prorussischen Separatisten gehackt und sich Zugang zu Informationen über | |
Journalisten verschafft, die für die okkupierten Territorien akkreditiert | |
waren. Öffentlich geworden sind Namen, Passkopien und private Angaben von | |
über 4.000 Journalisten – auch von mir. Größtenteils handelt es sich um | |
ausländische Journalisten und einige wenige ukrainische, die in den | |
okkupierten Gebieten undercover gearbeitet haben. | |
## Druck und Hindernisse | |
Die Reaktion darauf in der Öffentlichkeit und in Kreisen angepasster | |
Journalisten war eindeutig. Die Aufgelisteten wurden als Verräter und | |
Kollaborateure abgestempelt, die Akkreditierung prangerte man als Beleg für | |
eine Zusammenarbeit mit den Separatisten an. Die ukrainische Leserschaft | |
hat sehr schnell vergessen, dass sie unter einer totalen | |
Informationsblockade gerade diesen Journalisten den Zugang zu einigermaßen | |
objektiven oder zumindest alternativen Informationen über die okkupierten | |
Territorien zu verdanken hat. | |
Außerdem gibt es neuerdings auch reale Hindernisse für die Berichterstatter | |
in der Kampfzone – für Kriegskorrespondenten obligate Trainings, die das | |
ukrainische Verteidigungsministerium durchführt. Ohne die Teilnahme daran | |
bekommen Journalisten, die an die Front wollen, ab 2017 dafür keine | |
Genehmigung mehr. Bei den Trainings geht es um Sicherheitsmaßnahmen und um | |
„richtigen Journalismus“, so wie ihn der ukrainische Staat versteht. Was | |
sagt uns das? Der Krieg wird noch lange dauern. Und der Journalismus soll | |
endgültig ein Instrument der Gegenpropaganda werden. | |
Inwieweit ist es überhaupt noch möglich, professionelle Berichterstattung | |
in der Ukraine zu gewährleisten? Besonders wenn der Leser an objektiven | |
Informationen kein Interesse hat. Mit diesem Dilemma gehen ukrainische | |
Journalisten unterschiedlich um. Ein Teil gibt offen zu, nationale | |
Interessen und patriotische Gefühle über Professionalität zu stellen. | |
Andere quittieren ihren Job und schließen sich freiwilligen Verbänden an, | |
die in den Konfliktzonen konkrete Hilfe leisten. | |
Es gibt aber auch eine dritte Gruppe, und zu dieser zähle ich mich: | |
Journalisten, die es darauf ankommen lassen, über die Ereignisse im Lande | |
professionell und objektiv zu berichten. Sie nehmen dabei in Kauf, dafür | |
scharfe Kritik einstecken zu müssen. Diese dritte Gruppe ist die kleinste | |
und die unbeliebteste in der Ukraine. | |
Ein Beispiel: Zu den Opfern des bewaffneten Konflikts im Osten der Ukraine | |
gehören auch rund 1,7 Millionen Binnenflüchtlinge aus dem Donbass. Diese | |
Menschen sind enormen Strapazen ausgesetzt und bekommen so gut wie keine | |
Unterstützung vom Staat. Ist es angebracht, die Entbehrungen und die | |
Hoffnungslosigkeit dieser Menschen in einem Bericht zu thematisieren? Denn | |
ein solcher Artikel würde unweigerlich dem Image der Ukraine schaden und | |
neue Ängste bei den Menschen schüren, die womöglich vorhaben, die | |
okkupierten Territorien jetzt noch zu verlassen. Meine Antwort: Ja! Denn | |
das wäre zwar unangenehm, aber dennoch die Wahrheit. | |
Viele ukrainischen Redaktionen lehnen jedoch solche Themen ab. Gibt es in | |
dieser Situation eine Lösung? Ich denke, ja. Wenn ein Journalist nicht | |
imstande ist, seinen persönlichen Interessenkonflikt zwischen „Bürger“ und | |
„Profi“ zu lösen, soll er den Beruf wechseln. Eine bittere Wahrheit, aber | |
sie ist immer noch besser als eine süße Lüge. | |
Aus dem Russischen von Irina Serdyuk | |
16 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Anastasia Magasowa | |
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