| # taz.de -- Krieg in der Ostukraine: Der Tod kommt in der Nacht | |
| > Die Stadt Awdiiwka liegt in der Nähe des von prorussischen Kämpfern | |
| > kontrollierten Donezk. Sie erlebt die schwersten Kämpfe seit 2014. | |
| Bild: Zwei Bewohner in Awdiiwka in den Trümmern ihres Hauses | |
| Awdiiwka taz | „Papa, warum kämpfen Armeen in Städten? Wäre es nicht | |
| besser, sie würden sich einfach draußen vor der Stadt aufstellen und dann | |
| aufeinander schießen, so wie bei einem Duell?“, will der 11-jährige Danilo | |
| wissen. Der Vater sagt nichts, er kann seinem Sohn auch nicht erklären, | |
| warum gekämpft wird. Danilos Familie lebt in Awdiiwka. Mittlerweile ist der | |
| Name der ostukrainischen Stadt allen Medien der Welt geläufig. | |
| Seit einer Woche wird in und um Awdiiwka wieder heftig gekämpft. Dutzende | |
| wurden dabei getötet oder verletzt. Die Einwohner von Awdiiwka stehen vor | |
| einer humanitären Katastrophe. Fünf Kilometer sind es von Awdiiwka, das von | |
| der Regierung in Kiew kontrolliert wird, bis in das besetzte Donezk. | |
| 35.000 Menschen wohnten vor dem Krieg in der Stadt. Heute dürften es nicht | |
| mehr als 22.000 sein. Bei den Kämpfen 2014 und 2015 waren viele Häuser | |
| zerstört worden. Viele lebten damals in den Kellern, andere verließen die | |
| Stadt. | |
| Bis vor dem kürzlichen Wiederaufflammen der Kämpfe war nur am Stadtrand | |
| geschossen worden. Das Leben war langsam wieder zurückgekehrt nach | |
| Awdiiwka. An den Schulen wurde wieder unterrichtet, viele kehrten in ihre | |
| Häuser zurück. | |
| ## Kaum noch Strom | |
| Nun ist die dunkle Vergangenheit wieder da. Es gibt kaum noch Strom, die | |
| Leitungen sind weitgehend zerstört. Solange geschossen wird, kann man sie | |
| nicht reparieren. Und es ist schweres Artilleriefeuer, das unentwegt auf | |
| die Stadt niedergeht. | |
| Awdiiwka hängt an einer einzigen Fabrik, der Koksfabrik, die sich direkt in | |
| der Stadt befindet. Diese Fabrik versorgt die Bevölkerung der Stadt mit | |
| Wärme. An ihr hängt die gesamte Metallurgieindustrie des Landes. Doch die | |
| jüngsten Kämpfe haben das Leistungssystem um die Fabrik weitgehend | |
| lahmgelegt, sodass die Produktion auf ein Minimum heruntergefahren werden | |
| musste. Ein völliger Stillstand des Werks wäre auch eine Umweltkatastrophe | |
| und würde auch die Bewohner von der Wärme- und Wasserversorgung | |
| abschneiden. | |
| Bereits in der vergangenen Woche waren Strom, Wasser und Heizung an | |
| mehreren Tagen ausgefallen, bei minus 25 Grad. Die Stadt in nächtlicher | |
| Dunkelheit mit ihren eiskalten Wohnungen ohne fließendes Wasser erinnert an | |
| die Städte während der Blockade zur Zeit der Weltkriege. | |
| Immer wieder fallen auch die Mobilfunknetze aus. Die Bevölkerung ist von | |
| der Außenwelt abgeschnitten. Das einzige Geräusch sind die unaufhörlichen | |
| Einschläge, die Tod und Vernichtung bringen. „Wir erleben dieser Tage die | |
| schrecklichsten Kämpfe seit 2014–2015“, berichtet Swetlana, eine Mutter von | |
| zwei Kindern. | |
| ## Eiskalte Keller | |
| In Swetlanas Stadtteil sind die meisten Einschläge zu verzeichnen. Vor | |
| wenigen Tagen wurde eine Autohandlung in Swetlanas Nachbarschaft durch eine | |
| Mine zerstört. „Ich hatte in dieser Nacht mit den Kindern auf dem Fußboden | |
| im Gang geschlafen. Diese Explosion hat auch mein Haus erzittern lassen, | |
| Türen und Fenster vibrierten. Wir hätten auch in den Keller gehen können. | |
| Aber bei diesen Temperaturen kann man sich dort nur 15 Minuten aufhalten“, | |
| erzählt Swetlana in ihrer Küche, die nur von einer Kerze erhellt wird. In | |
| der nächsten Nacht wurde ein anderes Anwesen in der Nachbarschaft | |
| getroffen. Ein weiteres Geschoss steckte die Garage in Brand. | |
| Sofort nach dem Aufflammen der Kämpfe haben Zivilgesellschaft und Regierung | |
| zum ersten Mal seit Beginn des Krieges effektiv Hand in Hand gearbeitet. | |
| Sofort waren in der Stadt Zelte aufgebaut, in denen man sich aufwärmen und | |
| die Mobiltelefone aufladen konnte. | |
| Internationale Stiftungen und Freiwilligenorganisationen brachten | |
| Lebensmittel und warme Kleidung in die Stadt. Viele Menschen, vor allem | |
| Ältere, hatten sich an diesen Zelten eingefunden. Doch schon eine Nacht | |
| später wurde ein Zelt durch einen Angriff vernichtet. | |
| An einer anderen Stelle waren in derselben Nacht mehrere Bewohner und | |
| freiwillige Helfer getötet worden. Dieses Mal setzten beide | |
| Konfliktparteien „Grad“-Raketenwerfer ein. Diese Mehrfachraketensysteme | |
| hätten laut der Waffenstillstandsvereinbarung von Minsk von der line of | |
| contact zurückgezogen werden müssen. | |
| ## Schulen sind geöffnet | |
| Trotz des intensiven Beschusses von Wohnhäusern und obwohl der Staat | |
| Evakuierungsmöglichkeiten anbietet, haben es die Bewohner von Awdiiwka | |
| nicht eilig, die Stadt zu verlassen. Nur einige Hundert Bewohner, in der | |
| Mehrzahl Kinder, wurden evakuiert und leben inzwischen in Sanatorien in | |
| umliegenden sicheren Städten. Manche haben auch auf eigene Faust die Stadt | |
| verlassen und sind zu Verwandten oder Freunden gezogen. | |
| „Wir sind schon oft geflohen. Doch dieses Mal wollen wir noch abwarten. Wir | |
| sind kriegsmüde. Aber wir haben uns an diesen Krieg irgendwie gewöhnt. Zu | |
| viele Menschen haben wir in den vergangenen drei Jahren um uns herum | |
| sterben sehen“, berichtet Tamara mit Tränen in den Augen. Sie bleibt in der | |
| Stadt und geht jeden Tag in die Koksfabrik zur Arbeit. | |
| Auch Kindergärten und Schulen bleiben geöffnet. Aus der Musikschule tönen | |
| Geigenklänge. Auch jetzt, während des Raketenbeschusses, gibt die Lehrerin | |
| Oxana weiter Unterricht. „Ich kann doch die Kinder nicht einfach ihrem | |
| Schicksal überlassen“, sagt sie. Die Eltern bringen ihre Kinder weiter zum | |
| Musikunterricht. In der Schule hört man Gitarren-, Geigen und Klaviertöne, | |
| draußen vor den Fenstern hallen Explosionen. | |
| Nur selten sieht man abends nach Einbruch der Dunkelheit eine Kerze in | |
| einem Fenster. Auf den Straßen wird es leer. „Ich kann nicht einschlafen, | |
| bete die ganze Nacht, dass es endlich Morgen wird. Der Tod kommt in der | |
| Nacht“. sagt Tatjana, eine Bewohnerin von Awdiiwka. | |
| Aus dem Russischen von Bernhard Clasen | |
| 5 Feb 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Anastasia Magasowa | |
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