| # taz.de -- Buch über globale Geschichte: Immerwährender Zankapfel | |
| > Vergessen, liebes „Abendland“? Peter Frankopan erzählt die Geschichte vom | |
| > Aufstieg, Niedergang und Wiederaufstieg Eurasiens. | |
| Bild: What if I told you … der Mittelpunkt ist nicht Europa? | |
| Der europäische Rechtspopulismus hat seine eigenen Theoretiker, die | |
| „Identitären“. Sie wiederum stützen sich nicht selten auf einen ehemaligen | |
| Berater Putins, Alexander Dugin, der für eine Abkehr vom Westen und für | |
| eine Wiederentdeckung sogenannter „eurasischer“ Denker plädiert. Dem | |
| entspricht ein tiefgreifender Pessimismus aufseiten all jener, die für | |
| „Deutschlands Weg nach Westen“ (Heinrich August Winkler) eintraten. Erst | |
| vor Kurzem unkte düster ein ehemaliger deutscher Außenminister: „Und so | |
| wird die westliche Welt, wie wir sie kannten“, prophezeite Joschka Fischer | |
| am 12. 12. in der SZ, „vor unseren Augen versinken.“ | |
| Die Ursprünge des Westens, also das angebliche Entstehen der | |
| abendländischen Kultur im Mittelmeerraum sowie der Jahrhunderte währende | |
| Aufstieg jener auf den Atlantik bezogenen Zivilisation ist auch Thema einer | |
| großflächigen Geschichtserzählung, die der britische, in Oxford lehrende | |
| Byzantinist Peter Frankopan soeben vorgelegt hat. Kann es sein, dass die | |
| Befürworter des Westens etwas vergessen haben – nämlich, dass Europa | |
| keineswegs nur eine atlantische Zivilisation ist? | |
| Freilich täuscht der deutsche Titel von Frankopans vielfältig in sich | |
| verwobenen Erzählteppichs. Während die englische Ausgabe den Titel „The | |
| Silk Roads“ – der Plural ist zu beachten – trägt, hat der deutsche Verlag | |
| daraus „Licht aus dem Osten. Eine neue Geschichte der Welt“ gemacht. Dieser | |
| Titel verfälscht die Themen des mehr als neunhundert Seiten starken, | |
| unbedingt lesenswerten Buches; geht es doch nicht, wie man erwarten könnte, | |
| um die Übernahme muslimischer Philosophie oder der arabischen Algebra durch | |
| das christliche Europa, sondern um den Nachweis, dass die wesentlichen | |
| Impulse für Wirtschaft, Religion, Wissenschaft und auch Politik des | |
| späteren „Abendlands“ seit dem römischen Imperium aus einem geografischen | |
| Raum kamen, dessen westlichste Grenze die östliche Mittelmeerküste war und | |
| der im Osten an das chinesische Meer grenzte. Damit geht es um jene | |
| Landmasse, die die derzeit von den Identitären angeeigneten eurasischen | |
| Denker als politisch neu zu gestaltendes Machtzentrum der globalisierten | |
| Weltordnung reklamieren. | |
| Der Niedergang dieses einstmals so bedeutenden Raumes und der Aufstieg des | |
| Westens begann im 15. Jahrhundert mit der Suche westeuropäischer, | |
| italienischer Städte nach einem neuen Seeweg nach Indien, da See- und | |
| Landwege nach Osten durch das Osmanische Reich und Russland behindert | |
| waren. Der Genueser Cristóbal Colón, uns als Christophorus Columbus | |
| bekannt, war ein gläubiger messianischer Christ, von dem Gedanken | |
| durchdrungen, dass sich die Wiederkunft Christi in den nächsten | |
| einhundertundfünfzig Jahren ereignen werde. Colón, der Pläne für die | |
| christliche Wiedereroberung des inzwischen osmanischen Jerusalems | |
| schmiedete, vertraute auf die Gedanken eines italienischen Astrologen, | |
| Paolo Toscanelli, der fest davon überzeugt war, dass, da ja die Erde als | |
| Kugel erkannt war, ein westlicher Seeweg nach Indien existieren müsse. | |
| Der Rest dieser Geschichte ist bekannt: Die Entdeckung der Amerikas, die | |
| Ausrottung seiner indianischen Völker sowie der millionenfache Import von | |
| Sklaven aus Westafrika ermöglichte nicht nur den wirtschaftlichen Aufstieg | |
| Spaniens und Englands, sondern – mit einer gewissen Verzögerung – auch die | |
| spätere US-amerikanische Revolution. Die Einsicht in den gewaltsamen | |
| Charakter dieser Prozesse ist keineswegs erst eine Frucht postkolonialen | |
| Nachdenkens: Bereits in den achtziger Jahren des 16. Jahrhunderts erschien | |
| in England die Schrift des Dominikanermönchs Bartolomé de las Casas unter | |
| dem Titel „A Short Account of the Destruction of the Indies“. | |
| Es war mithin eine nordatlantische Insel, Großbritannien, die neben den | |
| ebenfalls nordeuropäischen Niederlanden den Aufstieg des Westens | |
| beförderten. In England aber war schon im 16. Jahrhundert die soziale und | |
| wirtschaftliche Ungleichheit geringer als in anderen europäischen Regionen, | |
| die Ernährung auch der ärmeren Bevölkerung besser und kalorienhaltiger, | |
| dort nahmen schon im 16. Jahrhundert – wie Wirtschaftshistoriker | |
| nachgewiesen haben – Arbeitseffizienz und Arbeitstempo rasant zu. | |
| ## Religiöse Toleranz im neupersichen Reich | |
| Was aber war – und das ist Frankopans Leitfrage – vor dem Aufstieg des | |
| Westens? Naturgemäß fällt der Blick des Byzantinisten auf den in der | |
| konventionellen, „westlichen“ Geschichtsbetrachtung vernachlässigten Osten | |
| des Römischen Reichs, auf jene Regionen und Gebiete, die heute als | |
| Russland, als die Türkei, als das in Tod und Chaos versinkende Syrien oder | |
| als Islamische Republik Iran gelten. | |
| Diese geografischen Räume waren vor anderthalbtausend Jahren, in der späten | |
| Antike, ein immerwährender Zankapfel zwischen dem im frühen 3. Jahrhundert | |
| christlich gewordenen Römischen Reich sowie einer staatlich verfassten | |
| Kultur, die – nicht zuletzt aufgrund spärlicher Quellen – in ihrer | |
| Bedeutung bis heute sträflich unterschätzt wird: des neupersischen Reichs | |
| der Sassaniden, das im frühen 3. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung | |
| gegründet wurde und bis zur Eroberung durch die muslimischen Araber im 7. | |
| Jahrhundert währte. Es waren Ardaschir I. und seine Nachfolger, die – so | |
| Frankopan – dieser Region „eine durchgehende Identität“ zuschrieben, ein… | |
| Schlussstrich unter die jüngste Geschichte zogen „und die Verbindungen zum | |
| großen Persischen Reich des Altertums“ betonten. | |
| Wen erinnerte dies nicht an die Bemühungen von Schah Reza Pahlevi II., der | |
| vor seinem Sturz, den Frankopan in seinem Erzählteppich würdigt, ebenfalls | |
| Anschluss an das antike Persien suchte? In jenem neupersischen Staat | |
| herrschte zunächst mehr oder minder große Toleranz gegenüber Christen und | |
| Juden, dort wurde nach der Lehre des Zarathustra ein guter Gott als Gegner | |
| des Bösen verehrt. Später allerdings wurden Christen, Juden, Buddhisten und | |
| Manichäer auch gnadenlos verfolgt. Gleichwohl – und diese Episode erzählt | |
| Frankopan nicht – suchten die letzten aufgeklärten heidnischen Philosophen, | |
| Mitglieder der Akademie zu Athen, im Reich der Sassaniden Schutz, als der | |
| christliche, oströmische Kaiser Justinian die Akademie in den Jahren 531/32 | |
| schließen ließ – um nach einiger Zeit desillusioniert ins christliche | |
| Ostrom zurückzukehren. | |
| Eine Folge des christlichen Ostrom waren die russische Zivilisation, Kultur | |
| und Staatlichkeit, die als Folge der Bekehrung der slawischen Rus durch | |
| oströmische Missionare entstanden und über Jahrhunderte in Kampf und | |
| Konflikt mit dem Großreich der Mongolen und deren Nachfolgern stand. | |
| ## Die geschichtlichen Bahnen laufen weiter | |
| Tatsächlich ist die wechselhafte und dramatische Geschichte der eurasischen | |
| Landmasse durch den starren Blick auf die atlantische Welt weitgehend in | |
| Vergessenheit geraten, ein Umstand, der sich heute dadurch rächt, dass der | |
| wirtschaftliche und politische Aufstieg dieser Region, zumal nach dem | |
| Untergang der Sowjetunion, immer stärker als wirtschaftlicher und | |
| politischer Störfaktor ins Auge fällt. Es war kein Geringerer als der | |
| russische Autor Dostojewski, der im späten 19. Jahrhundert in einem „Was | |
| ist Asien für uns“ betitelten Aufsatz behauptete: „In Europa waren wir aus | |
| Gnade und Barmherzigkeit aufgenommen, waren wir Sklaven; nach Asien kommen | |
| wir als Herren.“ | |
| Wer also die Tiefenströmungen russischer Politik – von Lenin bis Putin, | |
| jenseits aller politischen Ideologie – verstehen will, wird sich dieser | |
| Geschichte Eurasiens zuwenden müssen. Die Beunruhigung europäischer | |
| Politiker – siehe Joschka Fischer – rührt nicht zuletzt daraus, dass | |
| Russland mit allen Mitteln eine neue Großmachtstellung anstrebt und die USA | |
| dies seit der Wahl Trumps wohlgefällig zu begleiten scheinen. | |
| Im Rückblick ist nur zu verständlich, dass all dies seit dem Ende des | |
| Kalten Kriegs in Vergessenheit geriet und so eine übersichtliche Weltkarte | |
| und Weltgeschichte entstand: westliche Zivilisation gegen Totalitarismus, | |
| ein Ende der Weltgeschichte in einer kapitalistischen und | |
| parlamentarisch-demokratisch verfassten Weltordnung, indes: Die Geschichte | |
| geht weiter und das in Bahnen, die wir nicht zur Kenntnis nehmen woll(t)en, | |
| es nun aber müssen. Peter Frankopans Erzählteppich kann darüber aufklären, | |
| wo diese Bahnen ihren Ursprung hatten und wohin sie führen könnten. | |
| 1 Jan 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Micha Brumlik | |
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