# taz.de -- Buch über Europäische Krise: Denker des alten Westens | |
> Historiker Heinrich August Winkler schlägt in seinem neuen Buch den Bogen | |
> von den Revolutionen des 18. Jahrhunderts bis ins Heute. | |
Bild: Der Blick geht nach oben: Heinrich August Winkler. | |
Wenn es einen Historiker gibt, der Leben und politisches Werk des ersten | |
Kanzlers der Bundesrepublik Deutschland, Konrad Adenauers, auf den | |
politischen Begriff gebracht hat, dann ist es Heinrich August Winkler. | |
Aus seiner Feder stammt nicht nur ein zweibändiges Werk über „Deutschlands | |
langen Weg nach Westen“, sondern vor allem eine monumentale, vierbändige, | |
etwa 4.700 Seiten zählende „Geschichte des Westens“, die mit der Erfindung | |
der Demokratie im alten Athen und dem jüdischen Monotheismus beginnt und – | |
im letzten Band – mit dem Krisenjahr 2014 endet. | |
In diesem Sommer nun erscheint ein etwa dreißig kürzere Beiträge | |
umfassendes Bändchen, dem der Autor den Titel „Zerreissproben. Deutschland, | |
Europa und der Westen. Interventionen 1990 bis 2015“ gegeben hat. Die | |
kleinformatigen Arbeiten stellen die Probe aufs Exempel dar, ob sich die | |
Lehren aus dem gewaltigen Geschichtsnarrativ sinnvoll auf das Klein-Klein | |
je aktueller Tagespolitik beziehen lässt. | |
Der älteste der Texte, „Der unverhoffte Nationalstaat. Deutsche Einheit: | |
Die Vorzeichen sind günstiger als 1871“, stammt aus dem Jahr 1990, der | |
jüngste aus dem Mai 2015: Winklers Ansprache vor dem Deutschen Bundestag | |
zum 70. Jahrestag der deutschen Kapitulation, die den Zweiten Weltkrieg | |
jedenfalls in Europa beendet hat. | |
## Dialektik lebt | |
Der Beitrag von 1990 beginnt mit dem komisch anmutenden Satz: „Marx mag tot | |
sein, aber die Dialektik lebt“, womit Winkler auf die Sprunghaftigkeit | |
eines jeden historischen Verlaufs hinweisen wollte. Andere trauten der | |
Dialektik nicht: Der 1933 von nationalsozialistischen Attentätern im | |
tschechischen Marienbad ermordete Philosoph Theodor Lessing schrieb zu | |
dieser Sprunghaftigkeit des geschichtlichen Verlaufs 1919 ein Buch unter | |
dem Titel „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“. Gewiss nicht Winklers | |
Perspektive: vielmehr wandelt er auf den Spuren Hegels, der darauf setzte, | |
dass der Gang der Vernunft in der Weltgeschichte erkannt werden könne. | |
So auch Winkler: Gut hegelsch bis in die Wortwahl behauptet er 1990: „Der | |
deutsche Nationalstaat hebt sich infolgedessen, indem er entsteht, | |
teilweise auch schon wieder auf. Und das ist gut so. | |
Denn erstens liegt es im wohlverstandenen Interesse der Deutschen selbst, | |
dass aus der Wirtschaftskraft des bevölkerungsreichsten Landes westlich des | |
Bug keine deutsche Vorherrschaft über Europa erwächst. Und zweitens kann | |
nur ein bewusst europäisches Deutschland dazu beitragen, dass die Teilung | |
des Kontinents überwunden wird und ein Rückfall in nationalstaatliche | |
Politik nicht stattfindet.“ | |
Tatsächlich? Im Jahr 1990 war der damals 48 Jahre alte Wolfgang Schäuble | |
Bundesinnenminister unter Helmut Kohl und verhandelte mit seinem | |
DDR-Pendant Günther Krause den deutschen Einigungsvertrag. Wie kein anderer | |
steht derselbe Schäuble heute angesichts der „Grexitdebatte“ für eine neue | |
Spaltung Europas – diesmal in Nord und Süd – und für eine neue deutsche | |
Hegemonie in Europa. | |
Schäuble scheut sich nicht, für sein Mantra des Bailout-Verbots und der | |
einzuhaltenden Verträge nicht nur in Griechenland Hass und Wut auf sich zu | |
laden. Das geht bis zum wohl geschmacklosesten Titelbild der vergangenen | |
Jahrzehnte: So zeigt das Augusttitelbild des Satiremagazins Titanic einen | |
im Rollstuhl sitzenden grinsenden Adolf Hitler – mit der Unterzeile: „Also | |
bitte, Herr Hitler … Schluß mit den Schäublewitzen!“ | |
## Winkler vs. Walser | |
Hitler beschäftigte Winkler immer wieder, etwa in seiner Reaktion auf | |
Martin Walser und dessen Paulskirchenrede vom Mai 2002, nach der sich ein | |
schwer getroffener Ignatz Bubis mit ganz wenigen anderen nicht zu Standing | |
Ovations für den neuen Nationalisten Walser erhob. | |
Ihm hielt Winkler damals zu Recht nationale Apologetik vor. Als Weltkind in | |
der Mitte äußerte er sich aber zugleich gegen eine „linke | |
Instrumentalisierung von Auschwitz“ – etwa bei der Frage deutscher | |
Militäreinsätze. Zu Joschka Fischers Plädoyer für den Krieg gegen Serbien | |
von 1999 unter Berufung auf Auschwitz aber hat sich Winkler – wenn ich | |
recht sehe – nie geäußert. | |
Winkler, der sich stets als mehr oder minder treuer Gefolgsmann einer | |
mittigen Sozialdemokratie erweist und damit sogar meistens – keineswegs | |
immer – recht behält, hat die Summe seiner Einsichten zum „normativen | |
Projekt des Westens“ und zur deutschen Geschichte in seiner großen, am Ende | |
des Bändchens abgedruckten Rede vor dem deutschen Bundestag gezogen. | |
In ihr gab er unumwunden – und auch dies mag als späte Reaktion auf Walsers | |
Paulskirchenrede gelesen werden – zu Protokoll, dass sich vor allem Dank | |
der Forschung jüdischer Gelehrter „die Einsicht durchsetzte, dass der | |
Holocaust die Zentraltatsache der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts | |
ist“. Die Erklärung für dieses Menschheitsverbrechen findet er in einem | |
Versagen maßgeblicher deutscher Eliten; dem Umstand zum Trotz, dass | |
„Deutschland kulturell immer ein Land des alten Okzidents, des lateinischen | |
oder westkirchlichen Europa“ gewesen sei. | |
Seiner Geschichte des Westens ist zu entnehmen, dass damit vor allem die | |
Ausdifferenzierung weltlichen und kirchlichen Rechts sowie der moralische | |
Universalismus von Judentum und Christentum gemeint sind. Da nun das | |
östliche Christentum keineswegs minder universalistisch war als das | |
westliche, geht es gleichwohl vor allem um Ausbildung der getrennten | |
Sphären von Kirche und Staat. | |
Die darauf folgenden Schritte freilich, so meint Winkler zeigen zu können, | |
seien die Deutschen im 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der amerikanischen | |
und französischen Revolution, nicht mitgegangen: hatten sich doch | |
maßgebliche deutsche Eliten „den Ideen der unveräußerlichen Menschenrechte, | |
der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie“ bis weit ins 20. | |
Jahrhundert hinein verweigert. | |
## Deutscher Sonderweg? | |
Indes: Eine vergleichende Geschichte der westlichen Demokratien, der USA, | |
Großbritanniens, nicht zuletzt Frankreichs, aber auch so „okzidentaler“ | |
Staaten wie Spanien und Portugal hätte zu überprüfen, ob und inwieweit hier | |
wirklich ein deutscher Sonderweg vorlag: eine postkolonial inspirierte | |
Perspektive auf die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts jedenfalls | |
dürfte zu anderen Schlüssen kommen. | |
Sowohl das gegenwärtige als auch das Frankreich der 1930er Jahre beweisen, | |
dass auch die dortigen Eliten keineswegs vorbehaltlose Universalisten waren | |
und sind, Ähnliches gilt für die USA: Immerhin wurde die Flagge der | |
rassistischen, der 1865 von Lincoln besiegten konföderierten Südstaaten | |
erst vor einigen Wochen endgültig vom Capitol der Hauptstadt South | |
Carolinas eingeholt. | |
Das alles ist Winkler bekannt, gleichwohl hält er, wenn auch stets | |
differenziert, an der von vielen Historikern inzwischen abgelehnten These | |
vom deutschen Sonderweg fest. Auf jeden Fall ist er von den Verheerungen, | |
die der Westen seit dem 15. Jahrhundert im Zuge seiner weltweiten Expansion | |
in den Ländern des Südens zu verantworten hat, irritiert. | |
Gewiss: gegen Ende seines Hauptwerks weist er auf die Inkonsequenz der | |
amerikanischen Gründungsväter hin, die mit der Befürwortung der Sklaverei | |
den eigenen Prinzipien hohnsprachen; eine systematische Auseinandersetzung | |
mit der Geschichte des Kolonialismus unterbleibt aber. Das hat seine | |
eigene, innere Logik: Diese Geschichte mit ihren Millionen von Opfern zu | |
erzählen, hätte das normative Projekt des Westens als das dastehen lassen, | |
was es ist: als eine Idee, deren Durchsetzung weder notwendig noch gar | |
konsequent war und ist. | |
So bleibt Winkler, zumal in Zeiten der Globalisierung, in seinem eigenen | |
Deutungsschema des Ost-West Gegensatzes befangen und erweist sich als | |
Denker des „alten Westens“. So geht es ihm etwa heute, angesichts des | |
Ukrainekonflikts, nicht etwa um den Gegensatz von Kommunismus und liberaler | |
Demokratie, sondern noch immer um den Gegensatz von „westlichem“ | |
Katholizismus und „östlicher“ Orthodoxie, wenn man so will von Rom und | |
Byzanz. | |
## Winkler und Thomas Mann | |
Anders wäre kaum erklärbar, warum er in einigen Texten die Annexion der | |
Krim, die inzwischen in Vergessenheit gerät und den westlichen | |
Staatsmenschen offenbar zum Halse raushängt, geschichtsphilosophisch mit | |
Francis Fukuyama zur „historischen Zäsur“ erklärt. Ob sie das wirklich ist | |
oder gewesen sein wird, wird erst die Historiografie mit einigem Abstand | |
zeigen. Zweifel sind zulässig. | |
Heinrich August Winkler, das wird an seiner Rede im Deutschen Bundestag | |
deutlich, will den Romancier Thomas Mann beerben, der im US-amerikanischen | |
Exil ebenso selbstbewusst sagte: „Where I am, there is Germany.“ Womöglich | |
aber ist in Winklers Bundestagsrede auch zwischen den Zeilen zu lesen, | |
gerade so wie es der von Winkler zu Unrecht für einen Neokonservativen | |
erklärte jüdische Philosoph Leo Strauss empfohlen hat. Ich jedenfalls lese | |
die von Winkler vor dem Bundestag zitierten Worte Thomas Manns als einen | |
Wink mit dem Zaunpfahl an Schäuble und seine Gefolgsleute in der | |
Grexitdebatte. | |
„Die Deutschen“ – so Thomas Mann Ende 1945 über „Deutschland und die | |
Deutschen“ – „ließen sich verführen, auf ihren eingeborenen Kosmopoliti… | |
den Anspruch auf europäische Hegemonie, ja auf Weltherrschaft zu gründen, | |
wodurch er zu einem strikten Gegenteil, zum anmaßlichsten und | |
bedrohlichsten Nationalismus und Imperialismus wurde.“ | |
An die Stelle des Kosmopolitismus ist heute der nur scheinbar postnationale | |
Europäismus der zwei Geschwindigkeiten getreten. | |
14 Sep 2015 | |
## AUTOREN | |
Micha Brumlik | |
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